Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXII

Dascha trat ins Eßzimmer und blieb vor dem Tische stehen. Nikolai Iwanowitsch und Dmitrij Stepanowitsch, der vorgestern, durch ein dringendes Telegramm berufen, aus Ssamara angekommen war, verstummten. Dascha hielt ihren weißen Schal am Kinne fest, blickte auf ihren Vater, der mit rotem Gesicht und zerzaustem Haar und untergeschlagenem Bein dasaß, und auf Nikolai Iwanowitsch, dessen Augenlider entzündet waren, ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah durch die Tränen, die ihre Augen füllten, aufs Fenster, wo in der bläulichen Dämmerung die klare und schmale Mondsichel hing.

Dmitrij Stepanowitsch rauchte und die Asche fiel ihm auf seine dicke graue Weste. Nikolai Iwanowitsch kehrte sorgfältig mit einem Finger die Krümel auf dem Tischtuch zu einem Häufchen zusammen. So saßen sie lange und schwiegen. Endlich sagte Nikolai Iwanowitsch mit gepreßter Stimme: »Warum hat man sie ganz allein gelassen? Das geht doch nicht!«

»Bleib nur sitzen, ich sehe gleich nach!« antwortete Dascha, sich erhebend. Sie fühlte nun weder den Schmerz in ihrem ganzen Körper, noch die Müdigkeit. »Papa, geh doch und mach ihr noch eine Einspritzung,« sagte sie und zog den Schal über den Mund. Dmitrij Stepanowitsch schnaubte laut mit der Nase und warf den Stummel seiner Zigarette über die Schulter auf den Boden. Der ganze Fußboden um ihn herum war mit Zigarettenstummeln übersät.

»Papa, mach ihr noch eine Einspritzung, ich bitte dich darum!« Nikolai Iwanowitsch rief mit gereizter, theatralisch unnatürlicher Stimme: »Sie kann doch nicht von Kampfer allein leben. Sie stirbt, Dascha.«

Dascha wandte sich schnell zu ihm um, und ihre Tränen waren auf einmal vertrocknet. »Du darfst nicht so sprechen!« rief sie. »Du darfst es nicht! Sie wird nicht sterben.«

Das gelbe Gesicht Nikolai Iwanowitschs zuckte. Er wandte sich zum Fenster und sah auf die grelle, feine Mondsichel in der bläulichen Leere. »Entsetzlich,« sagte er, »wenn sie nicht mehr ist, kann ich nicht ...«

Dascha ging auf den Fußspitzen durch den Salon, blickte noch einmal auf die bläulichen Fenster – hinter ihnen war eine ewige, eisige Kälte – und glitt durch die Tür in Katjas Schlafzimmer, das von einem Nachtlichte spärlich erhellt war.

In der Tiefe des Zimmers lag auf dem gelben Holzbette in den Kissen noch immer gleich unbeweglich das kleine Gesicht mit den hinaufgekämmten trockenen und dunkler gewordenen Haaren und etwas weiter unten – eine schmale Hand. Dascha kniete vor dem Bette nieder. Katja atmete kaum hörbar. Nach einer längeren Weile fragte sie leise, klagend: »Wie spät?«

»Acht, Katjuscha.«

Katja machte einige Atemzüge und fragte dann noch einmal im gleichen klagenden Ton: »Wie spät?«

Das hatte sie den ganzen Tag wiederholt. Ihr halbdurchsichtiges Gesicht war ruhig, die Augen waren geschlossen ... Sie geht ja schon seit langer, langer Zeit über einen weichen Teppich durch einen langen, niederen Korridor. Die Wände und die Decke sind gelb. Hoch von rechts fällt aus den staubigen Fenstern ein hartes, quälendes Licht ein. Links ist eine Menge flacher Türen. Hinter ihnen, wenn man sie öffnet, ist der Rand der Erde, der Abgrund. Dort hängt tief unten, in der Finsternis, die rötliche Mondsichel. Katja geht langsam, so langsam wie im Traume an diesen Türen und staubigen Fenstern vorbei. Vor ihr ist der lange, flache Korridor, ganz vom gelblichen Lichte erfüllt. Es ist schwül, und von jeder Türe weht es sie an wie Todesangst. Gott, wann ist denn das Ende? Dort, am Ende, sie weiß es, ist eine grüne, feuchte Wiese mit bis zur Erde herabhängenden nassen Zweigen. Sie glaubt sogar einen Vogel singen zu hören ... Wenn sie doch stehen bleiben und lauschen könnte ... Nein, es ist nichts zu hören ... Aber hinter den Türen, in der Finsternis fängt es an zu klingen, es ist wie der Glockenschlag einer Wanduhr, ein gedehnter, tiefer Ton ... Gott, so schwer! ... Könnte sie doch erwachen ... Etwas Einfaches, Menschliches sagen ... Und wieder fragt sie gequält: »Wie spät?« »Katjuscha, wonach fragst du immer?« Es ist gut. Dascha ist da. ... Und wieder lag unter ihren Füßen weich und widerlich der Korridorteppich, wieder strömte das harte, schwüle Licht aus den verstaubten Fenstern, und in der Ferne klang die Uhrglocke ...

Nichts hören ... Nichts sehen, nichts fühlen ... Liegen, das Gesicht in das Kissen gedrückt ... Wenn doch einmal das Ende käme ... Aber Dascha stört mich, sie läßt mich nicht Vergessen finden. ... Sie hält mich an der Hand fest, sie küßt mich, sie murmelt, murmelt. ... Und aus ihr fließt in diesen leeren, leichten Körper etwas Lebendiges. ... So unangenehm ... Wie soll ich ihr erklären, daß das Sterben leicht ist, viel leichter, als dieses Lebendige in sich fühlen ... Wenn sie mich doch losließe ... –

»Katjuscha, ich liebe dich, ich liebe dich, hörst du es?...« – Sie läßt mich nicht los, sie hat Mitleid mit mir. ... Also darf ich nicht. ... Das Kind bleibt allein, verwaist. ... –

»Dascha!«

»Was, was?«

»Ich werde genesen, ich werde nicht sterben.«

Da tritt wohl der Vater ans Bett, er riecht nach Tabak. Er beugt sich über sie und schlägt die Decke zurück, und in ihre Brust dringt mit scharfem, süßem Schmerz die Nadel. Das beseligende Naß der Beruhigung fließt durch ihr Blut. Die Wände des gelben Korridors schwanken und gehen auseinander, es kommt ein kühler Hauch. Dascha streichelt ihr die Hand, die auf der Bettdecke liegt, drückt ihre Lippen an sie und haucht sie warm an. Noch eine Minute, und ihr Körper wird sich im süßen Dunkel des Schlafes auflösen. Aber von rechts tauchen in ihrem Gesichtskreise wieder die harten, gelben Punkte auf, sie regen sich selbstzufrieden, als existierten sie für sich selbst, sie vermehren sich und bauen den verdammten, schwülen Korridor ... »Dascha, Dascha, ich will nicht hin.« Dascha umschlingt ihren Kopf mit den Händen, legt sich neben sie aufs Kissen, schmiegt sich, lebendig und stark, an sie, und ihr entströmt die rohe, heiße Kraft des Lebens: du sollst leben! Der Korridor dehnt sich aber schon wieder vor ihr, sie muß aufstehen und mit einer Hundertzentnerlast an jedem Fuße weiterwandern. Sie darf sich nicht hinlegen. Dascha wird sie umarmen, aufheben, ihr sagen: geh!

So kämpft Katja drei Tage und drei Nächte mit dem Tode. Unaufhörlich fühlt sie in sich Daschas leidenschaftlichen Willen, und wenn Dascha nicht wäre, – wäre sie schon längst ermattet und beruhigt.

* * *

Den ganzen dritten Abend und die ganze dritte Nacht wich Dascha nicht von ihrem Bette. Die beiden Schwestern waren gleichsam zu einem Wesen mit einem Schmerz und einem Willen geworden. Gegen Morgen fing Katja zu schwitzen an und legte sich auf die Seite. Der Atem war fast nicht mehr zu hören. Dascha wurde besorgt und rief den Vater. Sie beschlossen noch zu warten. Gegen sieben Uhr früh holte Katja Atem und wandte sich auf die andere Seite. Die Krise war vorüber, nun begann die Rückkehr zum Leben.

Dascha schlief im großen Sessel neben dem Bett, zum erstenmal in diesen Tagen. Als Nikolai Iwanowitsch erfuhr, daß Katja gerettet war, umarmte er die dicke Weste Dmitrij Stepanowitschs und fing an zu schluchzen.

Der neue Tag begann voller Freuden, – es war warm und sonnig, alle kamen einander so gut vor. Aus dem Blumengeschäft kam ein Topf mit blühendem weißen Flieder, man stellte ihn in den Salon. Dascha fühlte, daß sie Katja mit eigenen Händen dem Tode entrissen hatte und auch selbst jenem stechend gelben Gang in die Finsternis so nahe war, daß sie zu hören glaubte, wie am Ende dieses Ganges, im schwarzen Abgrunde der eisige, ewige Glockenton dröhnte. Auf Erden gibt es nichts Kostbareres als das Leben, das wußte sie jetzt ganz bestimmt.

* * *

Nikolai Iwanowitsch brachte Jekaterina Dmitrijewna Ende Mai in eine Sommerfrische bei Moskau. Das aus runden Balken gezimmerte Häuschen hatte zwei Veranden: die eine ging nach dem weißen Birkenwald, die andere nach dem gegen Westen abfallenden, welligen Felde.

Dascha und Nikolai Iwanowitsch verließen jeden Abend an der Bedarfshaltestelle den Vorortszug und gingen über eine sumpfige Wiese. Über ihren Köpfen schwebten als zwei Wölkchen lebendigen Staubes die Mücken. Dann mußten sie eine Strecke bergauf gehen. Nikolai Iwanowitsch blieb hier gewöhnlich, unter dem Vorwande das Abendrot zu betrachten, stehen, holte Atem und sagte: »Ach wie schön, hol's der Teufel!«

Über der dunkel gewordenen, welligen Ebene, mit den hie und da verstreuten Felderstreifen und Haselnuß- und Birkenwäldchen hingen unbewegliche und unfruchtbare lilafarbene Wolken, wie sie zum Sonnenuntergang gehören. Zwischen ihnen verglomm mit trübem Scheine das Abendrot, und unten im Bache spiegelte sich ein orangegelber Streifen. Die Frösche stöhnten und seufzten. Vom flachen Felde hoben sich die dunkeln Getreideschober und Dächer des Dorfes ab. Am Ufer eines Weihers brannte ein gelbes Holzfeuer. Hier hatte einst, hinter einem Erdwall und einem hohen Palisadenzaun verschanzt, der falsche Demetrius von Tuschino gesessen. Mit gedehntem Pfeifen kam hinter dem Walde ein Eisenbahnzug hervorgekrochen, der neue Soldaten nach dem Westen, in das trübe Abendrot entführte.

Dascha und Nikolai Iwanowitsch näherten sich längs des Waldsaumes dem Landhause und sahen durch die Scheiben der Veranda einen gedeckten Tisch, eine Lampe mit matter runder Glocke und den Schatten eines Menschen. Ihnen entgegen lief mit höflichem Bellen der kleine zum Landhause gehörende Hund Scharik; als er sie, mit dem Schweife wedelnd, erreichte, trat er für alle Fälle in die Wermutstauden und bellte von der Seite.

Jekaterina Dmitrijewna trommelte mit den Fingern auf die Scheiben der Veranda, – nach Sonnenuntergang durfte sie nicht mehr ausgehen. Nikolai Iwanowitsch schloß hinter sich die Gartenpforte mit der stereotypen Bemerkung: »Eine entzückende Sommerwohnung, das muß ich schon sagen.« Man setzte sich zum Abendessen.

Dascha aß schweigend, der Tag in der Stadt hatte sie sehr ermüdet. Nikolai Iwanowitsch entnahm seiner Aktentasche einen Pack Zeitungen und vertiefte sich, mit einem Zahnstocher im Munde stochernd, in die Lektüre; wenn er bei den unangenehmen Nachrichten anlangte, schnalzte er so lange mit der Zunge, bis Katja ihm sagte: »Nikolai, schnalz bitte nicht.« Dascha setzte sich draußen auf die Verandastufen, stützte das Kinn in die Hände und blickte hinaus auf die dunkle Ebene, auf der hier und dort ein Feuer brannte, und auf die mattleuchtenden Sommersterne. Aus dem Gärtchen roch es nach den frisch begossenen Beeten.

Nikolai Iwanowitsch raschelte auf der Veranda mit den Zeitungen und sagte: »Der Krieg kann schon aus dem Grunde nicht mehr lange dauern, weil sonst die Entente und Rußland damit sich ruiniert.«

»Willst du Sauermilch?« fragte Katja.

»Nur wenn sie kalt ist. Schrecklich, Schrecklich! Nun haben wir Lemberg und Lublin verloren. Teufel! Wie kann man Krieg führen, wenn die Verräter einen im Rücken mit dem Dolche überfallen. Unglaublich!«

»Nikolai, schnalz bitte nicht mit der Zunge.«

»Laß mich in Ruhe! Wenn wir Warschau verlieren, so wird es eine Schande sein, die man nicht überleben kann. Manchmal kommt einem wahrhaftig der Gedanke, ob es nicht besser wäre, irgendeinen Waffenstillstand zu schließen und die Bajonette gegen Petersburg zu richten.«

In der Ferne pfiff ein Zug, man hörte, wie er auf der Brücke über den Bach ratterte, – er brachte wahrscheinlich Verwundete nach Moskau. Nikolai Iwanowitsch raschelte wieder mit der Zeitung. »Man schickt die Truppen ganz ohne Gewehre an die Front. Mit Stöcken sitzen sie in den Schützengräben. Ein Gewehr kommt nur auf jeden fünften Mann ...« Er hielt inne und holte Atem. »Sie gehen auch in den Kampf mit den Stöcken und rechnen darauf, daß wenn der Nebenmann fällt, ein Gewehr frei wird. Ach Gott!...«

Dascha stand auf und lehnte sich an die Gartenpforte. Das Licht von der Veranda fiel auf die zerfetzten Pestwurzstauden am Zaune und auf den mit dürrem Gras bewachsenen Weg.

Dascha trat aus der Gartenpforte und ging langsam das Flüßchen Chimka entlang. Sie blieb in der Dunkelheit am Abhang stehen und lauschte dem Rieseln einer Quelle, die nur des Nachts zu hören war; eine Erdscholle rollte unter ihren Füßen den Abhang hinunter und fiel klatschend ins Wasser. Unbeweglich ragten die schwarzen Silhouetten der Bäume, ab und zu fing das Laub ganz plötzlich zu rascheln an, und dann wurde alles wieder still. Dascha preßte die Lippen zusammen und ging zurück. Zu ihren Füßen duftete bitter wie unerfüllbares Glück und trockene Erde der Wermut.

* * *

An einem der ersten Junitage, einem Feiertag, stand Dascha früh auf und ging, um Katja nicht zu wecken, zum Waschen in die Küche. Auf dem Küchentische lag ein Haufen Karotten, Tomaten und Blumenkohl und zu oberst eine grüne Postkarte, die wohl der Gemüsehändler mit den Zeitungen von der Post abgeholt hatte.

Dascha füllte die irdene Schüssel mit Wasser, das nach dem Flusse roch, ließ ihr Hemd von den Schultern gleiten und sah wieder hin: was war das für eine merkwürdige Postkarte? Sie nahm sie mit den nassen Fingern und las: »Liebe Dascha, es macht mir Sorge, daß ich auf keinen meiner Briefe eine Antwort erhielt; sind sie denn verloren gegangen ...« Dascha ließ sich schnell auf einen Stuhl sinken, es war ihr auf einmal so finster vor den Augen, und die Beine knickten vor Schwäche ein. »Meine Wunde ist gänzlich verheilt. Ich treibe jeden Tag Gymnastik und lasse mich überhaupt nicht gehen. Außerdem lerne ich Englisch und Französisch. Neulich brachte man zu uns einen neuen Schub Gefangener, und denk dir nur, wen ich unter ihnen traf: Akundin; er ist Fähnrich, ist in Gefangenschaft geraten und sehr zufrieden. Er blieb in unserm Lager eine Woche, dann kam er von hier weg. Sehr sonderbar. Ich umarme dich, Dascha, wenn du dich meiner noch erinnerst. J. Teljegin.«

Dascha zog das Hemd über die Schultern, beugte sich tief und las die Karte zum zweitenmal: »Wenn du dich meiner noch erinnerst! ...« Sie sprang auf, lief zu Katja ins Schlafzimmer und zog den Kattunvorhang am Fenster zurück.

»Katja, lies es laut!«

Sie setzte sich zu der erschrockenen Katja aufs Bett, las die Karte selbst vor, drückte das Gesicht an die Knie und fing zu weinen an; dann stand sie plötzlich auf und schlug die Hände zusammen: »Katja, Katja, es ist ja schrecklich! ...«

»Aber er ist doch, Gott sei Dank, am Leben, Dascha. ...«

»Ich liebe ihn! ... Mein Gott, was soll ich machen? ... Ich frage dich: wann wird dieser Krieg zu Ende sein?«

Dascha lief mit der Karte zu Nikolai Iwanowitsch. Sie las sie ihm zuerst vor und verlangte dann von ihm in ihrer Verzweiflung genaueste Antwort: wann wird dieser Krieg einmal zu Ende sein?

»Meine Liebe, das weiß jetzt kein Mensch.«

»Was treibst du dann in deinem blöden Städteverband? Ihr schwatzt wohl Unsinn von früh bis spät. Ich fahre augenblicklich nach Moskau zum Generalkommandierenden. ... Ich werde von ihm verlangen. ...«

»Was wirst du von ihm verlangen? ... Ach, Dascha, Dascha, man muß eben warten ...«

* * *

Dascha war die nächsten Tage wie rasend; dann wurde sie plötzlich still und wie erloschen; abends zog sie sich immer früh auf ihr Zimmer zurück, schrieb Briefe an Iwan Iljitsch und nähte Pakete in Leinen ein. Wenn Jekaterina Dmitrijewna die Rede auf Teljegin brachte, pflegte Dascha zu schweigen; sie gab ihre abendlichen Spaziergänge auf, blieb öfter bei ihrer Schwester, nähte, las und schien bestrebt, alle Gefühle möglichst tief in sich zu vergraben und mit einer unverletzbaren Alltagshaut bewachsen zu lassen.

Jekaterina Dmitrijewna hatte sich zwar während des Sommers vollkommen erholt, schien aber wie Dascha gleichsam erloschen. Die Schwestern sprachen oft davon, daß auf ihnen, wie auf allen andern Menschen in dieser Zeit eine schwere Last liege. Es sei schwer, des Morgens aufzuwachen, schwer herumzugehen, schwer zu denken und Menschen zu begegnen; man könne kaum die Zeit erwarten, wo man zu Bett gehen dürfe; man lege sich zerquält hin und sehne sich nach der einzigen Freude: einzuschlafen, Vergessen zu finden. Die Schilkins hätten gestern Gäste gehabt, um sie mit dem frisch eingekochten Beerenobst zu traktieren, beim Tee sei aber die Zeitung gekommen, und in der Verlustliste habe man den Namen von Schilkins Bruder gefunden: auf dem Felde der Ehre gefallen. Die Schilkins seien ins Haus gegangen, die Gäste aber noch eine Weile im Dunkeln auf der Veranda sitzen geblieben und dann stumm, wie nach einer Beerdigung auseinandergegangen. Und so sei es überall. – Das Leben war teuer geworden, die Zukunft unklar und traurig. Die russischen Armeen aber zogen sich immer weiter zurück und schmolzen wie Wachs. Warschau war gefallen. Brest-Litowsk war in die Luft gesprengt und aufgegeben worden. Überall wurden Spione entdeckt. Im Hohlweg an der Chimka tauchten Räuber auf. Eine ganze Woche lang traute sich niemand in den Wald; die Landpolizei fing zwei von der Bande ein, ein dritter entkam; er soll dann in dem Swenigoroder Landkreis die Herrengüter unsicher gemacht haben.

* * *

Eines Morgens hielt vor dem Landhause der Smokownikows eine Droschke, und man sah, wie von allen Seiten die Köchinnen, Bauernweiber und Kinder zusammenliefen. Es war etwas passiert. Auch einige Sommerfrischler traten vor die Türen. Matrjona lief, sich die Hände abwischend, durch den Garten. Der Kutscher stand rot, erhitzt, mit struppigem Bärtchen in seiner Droschke und erzählte: »... Man schleppte ihn aus dem Kontor, schmiß ihn erst auf das Pflaster und dann in die Moskwa. In der Fabrik hielten sich aber noch fünf Deutsche versteckt ... Dreie hat man gefunden, die Polizei nahm sie aber den Leuten ab, sonst hätte man auch sie ersäuft ... Auf dem Lubjanka-Platz liegen ganze Stücke Seide und Samt herum. In der ganzen Stadt wird geplündert ... Eine Unmenge von Leuten ist auf der Straße ...«

Er schlug seinem Rappen, der sich zwischen den Deichselstangen hingehockt hatte, aus aller Kraft mit den Zügeln auf die Flanken, und der schaumbedeckte Hengst raste mit der Droschke weiter und bog zu der Schenke ein.

Jekaterina Dmitrijewna geriet in Unruhe: Dascha und Nikolai Iwanowitsch waren in Moskau. Über der Stadt stieg in den hellgrauen, glühenden Himmel eine Rauchsäule. Vom Dorfplatze aus, wo sich die Leute drängten, war die Feuersbrunst deutlich zu sehen. Wenn die Sommerfrischler auf die Bauern zugingen, verstummten die Gespräche, – man sah die Herrschaften halb spöttisch, halb erwartungsvoll an. Es war schwül wie vor einem Gewitter. Ein dicker Bauer ohne Mütze, in zerrissenem, rosafarbenen Hemd trat vor die kleine Kapelle und schrie: »In Moskau schlagen sie alle Deutschen tot!«

Kaum hatte er es verkündet, als ein Bauernweib – eine Schwangere, wie es hieß, – entsetzlich aufschrie. Die Leute drängten sich vor der Kapelle, auch Jekaterina Dmitrijewna lief hin. Alles war aufgeregt und schrie; man erzählte sich allerlei Gerüchte:

»Der Warschauer Bahnhof brennt, die Deutschen haben ihn angezündet.«

»Zweitausend Deutsche sind schon umgebracht.«

»Nicht zwei, sondern sechsundeinhalb Tausend, man hat sie alle in der Jausa ersäuft.«

»Mit den Deutschen fing man an, dann nahm man aber alle Läden der Reihe nach durch. Auf der Schmiedebrücke soll kein einziges Geschäft ganz geblieben sein.«

»Es geschieht ihnen recht. Sie sind von unserm Schweiß dick und fett geworden, die Hunde!«

»Kann man denn das Volk bändigen? Man kann es gar nicht bändigen.«

»Ich aber sage dir: auf dem Neglinnyj steht Militär. Man hat schon dreimal auf die Menge geschossen.«

»Natürlich ist es Unfug, – Raub und Plünderung darf man nicht zulassen.«

»Dem Stadthauptmann wurde der Schädel eingeschlagen.«

»Was?«

»Im Petrowskij-Park, bei Gott, ich lüge nicht, – meine Schwester kommt eben von dort. Im Park, sagt man, hat man bei Sommerfrischlern einen drahtlosen Telegraphen gefunden und zwei Spione mit falschen Bärten erwischt, – man hat die Brüder natürlich auf der Stelle erschlagen.«

»Man sollte doch bei allen Sommerfrischlern nachschauen, das wäre vernünftig.«

Dann sah man einige Dorfmädchen mit leeren Säcken in der Richtung zum Mühlendamm rennen, wo die Moskauer Landstraße vorbeiging. Die Leute schrien ihnen etwas nach. Die Mädchen wandten sich um, schwangen die Säcke und lachten. Jekaterina Dmitrijewna fragte einen uralten Bauern von ehrwürdigem Aussehen, der mit einem Stock in der Hand neben ihr stand: »Wohin laufen die Mädels?«

»In die Stadt plündern, liebe gnädige Frau.«

Endlich, gegen sechs Uhr kamen aus der Stadt mit einer Droschke Dascha und Nikolai Iwanowitsch. Sie waren beide in höchster Aufregung und erzählten, einander unterbrechend, daß der Pöbel in ganz Moskau sich zu Banden sammle und die Wohnungen von Deutschen und die deutschen Geschäfte plündere. Einige Häuser seien sogar in Brand gesteckt worden, das große Konfektionsgeschäft von Mandel sei vollkommen ausgeraubt. Die Bauern und ihre Weiber zogen die geraubten Sachen an Ort und Stelle an und sängen dabei die Volkshymne: »Gott erhalte den Zaren.« Das Beckersche Klavierlager auf der Schmiedebrücke sei gänzlich demoliert; man habe die Klaviere aus den Fenstern des zweiten Stocks auf die Straße geworfen und angezündet. Der Lubjanka-Platz sei ganz mit Medikamenten und zerschlagenen Gläsern bedeckt. Man spreche auch von Menschenopfern. Am Nachmittag seien Patrouillen durch die Straßen gezogen und hätten das Volk auseinandergetrieben. Im Augenblick sei alles ruhig.

»Es ist natürlich barbarisch,« sagte Nikolai Iwanowitsch, vor Erregung mit den Augen zwinkernd, »mir gefällt aber dieser Temperamentsausbruch im Volke. Heute haben sie die deutschen Geschäfte demoliert, werden aber morgen, hol's der Teufel, Barrikaden bauen! Die Regierung hat diesen Pogrom absichtlich zugelassen. Ja, ja, ich versichere dich, – als Ventil für die Erbitterung des Volkes. Das Volk wird aber nach solchen Scherzen auch an ernsthafteren Dingen Geschmack finden. ... Hi, hi!«

In der folgenden Nacht wurde bei den Schilkins der ganze Keller ausgeräumt und bei den Swejetschnikows die Wäsche vom Hängeboden gestohlen. Einige Sommerfrischler sahen mit eigenen Augen, wie mit schweren Bündeln bepackte Weiber im Dunkeln zwischen den Bäumen schlichen. In der Schenke brannte bis zum Morgen Licht. Auch eine ganze Woche nachher tuschelten die Leute auf dem Dorfe und verfolgten die spazierengehenden Sommerfrischler mit forschenden Blicken.

* * *

Anfang August zogen die Smokownikows in die Stadt, und Jekaterina Dmitrijewna fing wieder an, im Lazarett zu arbeiten. Moskau war in diesem Herbst voll von Flüchtlingen aus Polen. Auf der Schmiedebrücke, in der Petrowka und der Twerskaja konnte man sich kaum durchzwängen. Alle Geschäfte, Cafés und Theater waren überfüllt, und auf Schritt und Tritt hörte man die von den Polen importierte Wendung: »Ich entschuldige mich.«

Diesen ganzen Lärm und Luxus, die überfüllten Theater und Hotels, die belebten, vom elektrischen Lichte überfluteten Straßen schützte vor allen Gefahren die lebendige Mauer der verblutenden Vierzehnmillionenarmee.

Die Kriegslage war immer noch wenig tröstlich. Überall, an der Front und im Lande sprach man vom bösen Willen Rasputins, vom Verrat und von der Unmöglichkeit, länger zu kämpfen, wenn der heilige Nikola nicht ein Wunder geschehen ließe.

Doch in dieser Zeit der Entmutigung und Auflösung gelang es dem General Rußkij, die Offensive der deutschen Armeen im freien Felde zum Stillstand zu bringen. Rußland war für diesmal gerettet.


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