Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XIV

Im Kabinett des Redakteurs der großen liberalen Zeitung »Das Wort des Volkes« fand eine außerordentliche Redaktionssitzung statt, und da am Tage vorher das Alkoholverbotgesetz erlassen worden war, so gab es zum Redaktionstee, gegen alle Gepflogenheit, Kognak und Rum.

Die älteren, bärtigen Liberalen saßen in bequemen Sesseln, rauchten und fühlten sich wie vor den Kopf geschlagen. Die jungen Mitarbeiter verteilten sich auf den Fensterbänken und auf dem berüchtigten Ledersofa, in dem es zufolge einer unvorsichtigen Äußerung eines bekannten Schriftstellers Wanzen gab.

Der Redakteur, ein grauhaariger Mann mit rosigem Gesicht und englischen Allüren hielt mit wohlartikulierter Stimme eine seiner berühmten Reden, der es später beschieden war, der ganzen liberalen Presse zur Richtschnur zu werden.

»... Unsere Aufgabe ist um so komplizierter, als wir, ohne auch nur einen Schritt in unserer Opposition gegen die Zarengewalt nachzugeben, angesichts der Gefahr, die der Integrität der russischen Gebiete droht, dieser selben Gewalt die Hand reichen müssen. Unsere Geste muß ehrlich und aufrichtig sein. Die Frage nach der Schuld der zarischen Regierung, die Rußland in den Krieg getrieben hat, ist augenblicklich eine nebensächliche Frage. Wir müssen erst siegen und dürfen dann erst die Schuldigen richten. Heute, um diese Stunde findet die blutige Schlacht bei Krasnostaw statt, wo man unsere Garde in die durchbrochene Front geworfen hat. Der Ausgang der Schlacht ist noch unbekannt, aber es ist zu bedenken, daß Kiew bedroht ist. Es besteht kein Zweifel darüber, daß der Krieg nicht länger als drei oder vier Monate dauern kann, aber wie er auch endet, werden wir mit stolz erhobenem Haupte der zarischen Regierung sagen: In der schwersten Stunde waren wir mit euch, und nun fordern wir von euch Rechenschaft ...«

Das älteste Redaktionsmitglied, Bjeloswjetow, dessen besonderes Gebiet die Semstwo-Frage war, konnte sich nicht beherrschen und rief ganz außer sich: »Die zarische Regierung führt Krieg, – was haben wir damit zu tun und wie können wir ihr die Hand reichen? Sie können mich erschlagen, aber ich verstehe das nicht. Die einfache Logik sagt, daß wir uns von diesem Abenteuer fernhalten müssen, zugleich mit uns auch die ganze Intelligenz. Sollen sich die Zaren nur den Hals brechen, – wir können dabei nur gewinnen.«

»Gewiß, meine Herren, es ist gar zu ekelhaft, Nikolai II. die Hand zu reichen,« murmelte der Leitartikler Alpha, indem er aus dem Kuchenkörbchen einen Zwieback heraussuchte, »schon der bloße Gedanke daran treibt einem kalten Schweiß auf die Stirne ...«

Sofort meldeten sich mehrere Stimmen zugleich:

»Es gibt keine Bedingungen, und kann auch keine geben, die uns veranlaßten, auf einen Kompromiß einzugehen. ...«

»Wie ist es nun – wir kapitulieren? Das frage ich!«

»Ein schmachvolles Ende der ganzen fortschrittlichen Bewegung!«

»Wenn mir nur jemand das Ziel dieses Krieges erklären könnte, meine Herren.«

»Wenn die Deutschen Ihnen den Buckel vollhauen, werden Sie das Ziel schon kennen lernen.«

»Ach, Väterchen, Sie scheinen ja gar ein Nationalist zu sein!«

»Ich will einfach keine Prügel bekommen.«

»Die Prügel kriegen aber nicht wir, sondern Nikolai II.«

»Gestatten Sie. ... Und Polen? Und Wolhynien? Und Kiew? ...«

»Je mehr Prügel wir kriegen, desto schneller kommt die Revolution ...«

»Ich aber möchte Kiew um keine Revolution hergeben. ...«

»Pjotr Petrowitsch, Väterchen, schämen Sie sich doch, ...«

Der Redakteur stellte mit großer Mühe die Ordnung wieder her und erklärte, daß die Militärzensur auf Grund des Kriegszustandsgesetzes die Zeitung schon wegen der geringsten Ausfälligkeit gegen die Regierung sistieren werde; so würden die mit so großer Mühe errungenen Keime des freien Wortes vernichtet werden. »... Darum schlage ich der verehrten Versammlung vor, einen annehmbaren Standpunkt zu finden. Meinerseits erlaube ich mir die vielleicht paradoxale Meinung auszusprechen, daß wir diesen Krieg mit allen seinen Konsequenzen akzeptieren werden müssen. Ich bitte nicht zu vergessen, daß der Krieg in der Gesellschaft äußerst populär ist. In Moskau hat man ihn zum zweiten Befreiungskrieg erklärt« – er schlug mit einem feinen Lächeln die Augen nieder. »Dem Kaiser wurde in Moskau ein fast begeisterter Empfang zuteil. Die Mobilisierung vollzieht sich im einfachen Volke so glatt, wie es niemand zu erwarten wagte ...«

»Wassilij Wassiljewitsch, ist es wirklich Ihr Ernst?« rief Bjeloswjetow mit klagender Stimme. »Sie schmeißen ja eine ganze Weltanschauung wie ein Kartenhaus um ... Der Regierung zu Hilfe kommen? Und die Zehntausende der besten Russen, die in Sibirien verfaulen? ... Und die Erschießungen von Arbeitern? ... Das Blut auf den Steinen ist ja noch nicht trocken ...«

Das waren schöne und edle Redensarten, aber einem jeden wurde es allmählich klar, daß ein Kompromiß mit der Regierung sich nicht vermeiden ließ; und als aus der Druckerei die Korrektur des Leitartikels kam, der mit den Worten begann: »Wir müssen uns angesichts der deutschen Invasion zu einer einheitlichen Front zusammenschließen«, – sah die Versammlung schweigend die Korrekturfahnen durch, wobei der eine nur seufzte und ein anderer bedeutungsvoll versetzte: »Nun haben wir's erlebt.« Bjeloswjetow knöpfte energisch seinen mit Zigarettenasche bestreuten Rock bis oben zu, ging aber nicht fort, sondern setzte sich wieder auf seinen Platz, und die Nummer bekam die Überschrift: »Das Vaterland in Gefahr! Zu den Waffen!«

Aber jedem einzelnen war es doch trüb und unruhig zumute. Wieso der gesicherte europäische Friede innerhalb vierundzwanzig Stunden in die Luft geflogen war und warum die humane europäische Zivilisation, die »Das Wort des Volkes« der Regierung jeden Tag unter die Nase rieb und mit ihm das Gewissen aller Gesellschaftskreise zu wecken suchte, sich als ein Betrug, als ein Blendwerk herausgestellt hatte (man hatte doch die Buchdruckerkunst, die Elektrizität und sogar das Radium erfunden, als aber die Stunde schlug, zeigte sich unter dem Frack und dem Zylinderhut der alte tierische, behaarte Urmensch mit einer Keule) – nein, das zu begreifen, war der Redaktion allzu schwer, und das anzuerkennen – allzu bitter.

Die Sitzung endete gar nicht lustig. Die älteren Journalisten gingen ins Restaurant Cubat, die jüngeren versammelten sich im Kabinett des Lokalredakteurs. Es wurde beschlossen, genaueste Untersuchungen über die in den verschiedensten Schichten und Kreisen der Bevölkerung herrschenden Stimmungen anzustellen. Antoschka Arnoldow bekam den Auftrag, sich mit der Militärzensur in Verbindung zu setzen. Er ließ sich in seinem Eifer einen Vorschuß geben und fuhr mit einer Droschke erster Güte über den Newskij in den Generalstab.

Der Chef der Presseabteilung, Oberst im Generalstabe Ssolnzew, empfing Antoschka Arnoldow in seinem Arbeitszimmer und hörte ihn höflich an, wobei er ihm mit seinen heiteren, hervorstehenden, lustigen Augen gerade ins Gesicht blickte. Arnoldow hatte erwartet, einen furchteinflößenden Recken, einen General mit blaurotem Löwengesicht, eine Geißel der freien Presse, anzutreffen, – vor ihm saß aber ein eleganter Herr mit rosigem Gesicht und guten Manieren, der weder keuchte, noch im Baß brüllte und auch gar keine Absicht verriet, jemand zu erdrosseln; dies alles stimmte mit der gewöhnlichen Vorstellung von den Schergen des Zaren so gar nicht überein.

»Ich hoffe also, Herr Oberst, daß Sie mir nicht versagen werden, die von mir vorgemerkten Fragen durch Ihre sachverständigen Urteile zu beleuchten,« sagte Arnoldow und schielte auf das dunkle lebensgroße Bildnis des Kaisers Nikolai I., der mit unerbittlichen Augen auf diesen Vertreter der Presse herabsah, als wollte er zu ihm sagen: Kurzes Röckchen, gelbe Schuhe, schweißige Nase, gemeines Aussehen, du hast Angst, Hundesohn. ... »Ich zweifle nicht, Herr Oberst, daß die russischen Truppen zu Neujahr in Berlin einmarschieren werden, aber meine Redaktion interessiert sich für einige Nebenfragen. ...« Oberst Ssolnzew unterbrach ihn sehr höflich: »Mir scheint, daß die russische Gesellschaft keine hinreichend klaren Vorstellungen von den Dimensionen und den Folgen dieses Krieges hat. Natürlich kann ich Ihren Wunsch, daß unsere tapfere Armee in Berlin einmarschiere, nur begrüßen, aber ich fürchte, daß die Sache sich doch als viel schwieriger erweisen wird als Sie annehmen. Ich meinerseits halte für die wichtigste Aufgabe der Presse in diesem Augenblick, die Gesellschaft mit dem Gedanken an die sehr ernste Gefahr, die unserem Vaterlande droht, vertraut zu machen, und auch an die außerordentlichen Opfer, die wir alle zur Vermeidung der unerwünschten Folgen der Invasion des Feindes bringen müssen.«

Antoschka Arnoldow ließ die Hand mit dem Notizblock sinken und sah den Oberst erstaunt an. Gerade über dessen Rücken erhob sich die dunkle Gestalt Nikolais I. Beide hatten die gleichen Augen, der eine blickte aber drohend und der andere heiter. Das große Arbeitszimmer war sauber, streng, monumental und roch nach einem ganzen Jahrhundert.

Ssolnzew fuhr fort: »Wir haben den Krieg nicht gewollt und beschränken uns jetzt ganz auf die Verteidigung. Die Deutschen haben ihr Übergewicht in der Artillerie und in der Dichte des Eisenbahnnetzes im Grenzgebiet, folglich auch in der Schnelligkeit der Truppentransporte. Dennoch werden wir alles tun, um dem Feinde die Überschreitung unserer Grenzen zu verwehren. Die russische Armee wird ihre schwere Pflicht erfüllen. Die Gesellschaft muß der Regierung und der Heeresleitung Vertrauen schenken. Aber es wäre auch sehr erwünscht, wenn ebenso die Gesellschaft ihrerseits vom Gefühl ihrer Pflicht gegen das Vaterland durchdrungen wäre.« Ssolnzew hob die Brauen und zeichnete auf den vor ihm liegenden sauberen Papierbogen ein Quadrat. »Ich verstehe wohl, daß das patriotische Gefühl in gewissen Gesellschaftskreisen nicht ganz ungetrübt ist. Aber die Gefahr ist so ernst, daß alle Streitigkeiten und Abrechnungen – dies ist meine Überzeugung – auf bessere Zeiten hinausgeschoben werden sollten. Das russische Reich hat selbst im Jahre 1812 keine so beunruhigenden Momente erlebt. Das ist alles, worauf ich Sie hinzuweisen bitte. Ferner ist bekanntzugeben, daß die Lazarette, über die die Regierung verfügt, nicht imstande sind, alle Verwundeten aufzunehmen. Darum muß die Gesellschaft auch in dieser Beziehung zu einer großangelegten Hilfsaktion bereit sein. ...«

»Entschuldigen Sie, Herr Oberst, ich verstehe nicht: wie groß kann denn die Zahl der Verwundeten sein?«

Ssolnzew hob wieder die Brauen und zeichnete in das Quadrat einen Kreis. »Man dürfte in den nächsten Wochen zweihundertfünfzig- bis dreihunderttausend zu erwarten haben.«

Antoschka Arnoldow schluckte den Speichel hinunter, notierte sich die Zahlen und fragte sehr respektvoll: »Auf wie viel Gefallene kann man in diesem Falle rechnen?«

»Wir rechnen gewöhnlich mit zehn Prozent von der Zahl der Verwundeten.«

»Ach so, ich danke Ihnen.«

Ssolnzew erhob sich. Antoschka drückte ihm schnell die Hand und stieß in der Eichentüre mit dem eben eintretenden Atlant zusammen, einem schwindsüchtigen und zerzausten Journalisten in zerdrücktem Rock, der schon seit gestern keinen Tropfen Schnaps getrunken hatte.

»Herr Oberst, ich komme wegen des Krieges,« erklärte Atlant, indem er seine schmutzige Hemdbrust mit der Hand bedeckte.

»Ich bitte sehr.«

Arnoldow trat aus dem Generalstabsgebäude auf den Platz, setzte seinen Hut auf und stand eine Weile mit zusammengekniffenen Augen da. »Krieg bis zum siegreichen Ende,« murmelte er durch die Zähne: »Nehmt euch jetzt in Acht, ihr alten Galoschen, wir werden euch das Flaumachen zeigen!«

Auf dem großen, sauber gekehrten Platze mit der schweren, granitnen Alexandersäule bewegten sich überall kleine Gruppen bärtiger ungelenker Bauernrekruten. Man hörte schrille Kommandorufe. Die Bauern standen stramm, liefen, warfen sich auf den Boden. An einer Stelle schrien an die fünfzig Mann, die sich soeben von der Erde erhoben hatten, »Hurra!« und stürmten stolpernd vorwärts. ... »Halt! Stillgestanden. ... Gesindel, Hundesöhne! ...« schrie eine heisere Stimme. An einer andern Stelle standen sie im Kreise, und man hörte einen sagen: »Wenn du ihn erreicht hast, so stich ihn in die Brust, hast du aber das Bajonett zerbrochen, so hau ihn mit dem Kolben.«

Es waren die selben elenden Bauern mit besenförmigen Barten, in Bastschuhen und an den Schulterblättern durchschwitzten Hemden, die vor zweihundert Jahren hergekommen waren, um an diesen sumpfigen Gestaden die Stadt zu errichten. Nun hatte man sie wieder gerufen, damit sie mit ihren Schultern die schwankende Säule des Kaiserreichs stützten.

Antoschka bog, ununterbrochen an seinen Artikel denkend, in den Newskij ein. In der Mitte der Straße marschierten unter Flötenklängen, die an das Heulen des Windes gemahnten, zwei Kompagnien in voller, kriegsmäßiger Ausrüstung, mit Brotbeuteln, Kochgeschirr und Spaten. Die breitknochigen Gesichter der Soldaten waren ermüdet und staubbedeckt. Ein kleiner Offizier in grüner Hemdbluse mit nagelneuen Riemen kreuzweise über der Brust, reckte sich jeden Augenblick auf den Zehen, wandte sich um und rollte die Augen: »Eins. Zwei.« Wie im Traume hörte man den eleganten Newskij mit den blitzenden Equipagen und Schaufenstern rauschen. »Eins. Zwei. Eins. Zwei.« Hinter dem kleinen Offizier gingen schwerfällige Bauern, sich im Takte wiegend, gehorsam in den Tod. Ein vornehmer Wagen mit einem Rappen holte sie ein. Der Kutscher mit dem gepolsterten Gesäß hielt den schaumbedeckten Rappen an. In der Equipage erhob sich eine hübsche Dame und betrachtete die vorbeimarschierenden Soldaten. Plötzlich begann sie sie mit ihrer weißbehandschuhten Hand zu bekreuzigen, und über ihr Gesicht liefen Tränen.

Die Soldaten waren vorbeimarschiert und hinter dem Strom der Fuhrwerke verschwunden. Auf den Bürgersteigen war es heiß und eng, und alles schien auf etwas zu warten. Die Passanten blieben stehen, lauschten den Gesprächen und Rufen, drängten sich vor, fragten und gingen erregt weiter zu den anderen Gruppen. Überall bildeten sich Wirbel von Menschen, und es entstand ein Gedränge.

In der ungeordneten Bewegung war allmählich eine bestimmte Richtung zu erkennen: die Menge zog vom Newskij auf die Morskaja. Hier wälzten sich die Massen nicht nur auf dem Trottoir, sondern auch auf der Fahrbahn. Mehrere kleingewachsene Burschen liefen stumm, mit besorgten Gesichtern vorbei. An der Straßenkreuzung warf man Mützen in die Luft und schwang die Regenschirme. »Hurra! Hurra!« rollte es über die Morskaja. Die Gassenjungen pfiffen durchdringend. Überall hielten die Equipagen, und in ihnen standen elegante Damen. Die Menge drängte zum Isaaksplatz, überflutete ihn und kletterte über die Gitter der Anlagen. Unter den Säulen der Isaakskathedrale wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Alle Fenster und Dächer waren voller Menschen. Und alle die Tausende blickten dorthin, wo aus den oberen Fenstern des mattroten schwerfälligen Gebäudes der deutschen Botschaft Rauchsäulen aufstiegen. Hinter den eingeschlagenen Fensterscheiben sah man Leute hin und her laufen und Haufen von Papier in die Menge werfen; die Papiere flatterten durch die Luft und fielen langsam herab. Bei jeder neuen Rauchwolke, die aus den Fenstern aufstieg, und jedem neuen Gegenstand, der herausflog, ging durch die Menge ein Brüllen. Da erschienen auf dem Giebel des Gebäudes, wo zwei bronzene Riesen Rosse am Zaume hielten, die gleichen geschäftigen Männchen. Die Menge wurde still, und man hörte das Klopfen von Hämmern gegen Metall. Der Riese rechts begann zu schwanken und stürzte aufs Trottoir. Die Menge heulte auf und drängte vor, es begann ein Tumult, die Leute liefen von allen Seiten zusammen. »Schmeißt sie in die Moika! Schmeißt die Verdammten in die Moika!« Auch die zweite Statue fiel herab. Eine beleibte Dame mit einem Zwicker auf der Nase packte Antoschka Arnoldow an der Schulter und schrie ihm zu: »Wir werden sie alle ersäufen, junger Mann!« Die Menge zog zur Moika. Nun ertönten Feuerwehrhuppen, und in der Ferne funkelten Messinghelme. An den Straßenecken zeigte sich berittene Polizei. Arnoldow erblickte plötzlich unter den Laufenden und Schreienden einen entsetzlich blassen Menschen ohne Hut, mit starren, weit aufgerissenen gläsernen Augen. Er erkannte in ihm Bessonow und ging auf ihn zu.

»Sind Sie dort gewesen?« fragte Bessonow. »Ich habe gehört, wie man ihn ermordete.«

»Ist denn auch ein Mord geschehen? Wen hat man ermordet?«

»Ich weiß es nicht.«

Bessonow wandte sich weg und ging mit unsicheren Schritten, wie ein Blinder weiter. Die Reste der Menge liefen in einzelnen Gruppen auf den Newskij, wo eben der Sturm auf das Café Reuter begann.

Antoschka Arnoldow stand am Abend des gleichen Tages am Stehpult in einem der verrauchten Redaktionszimmer und schrieb schnell auf schmalen Papierstreifen: »... Heute sahen wir die ganze Größe und Schönheit des Zornes des Volkes. Es ist hervorzuheben, daß die Menge auch nicht eine Flasche Wein aus den Kellern der deutschen Botschaft getrunken hat, – alles wurde zerschlagen und in die Moika geschüttet. Eine Versöhnung ist unmöglich. Wir werden bis zu einem siegreichen Ende kämpfen, was für Opfer es auch kosten sollte. Die Deutschen glaubten, Rußland schlafend vorzufinden, aber das Volk hat sich bei den Donnerworten: ›Das Vaterland ist in Gefahr‹ wie ein Mann erhoben. Sein Zorn ist schrecklich. ›Vaterland‹ war ein großes, aber von uns vergessenes Wort. Beim ersten Schuß des ersten deutschen Geschützes ist es in seiner ganzen jungfräulichen Schönheit erwacht und leuchtet nun in flammenden Lettern im Herzen eines jeden. ...«

Antoschka kniff die Augen zusammen, und ein wohliges Frösteln überlief ihm den Rücken. Was für Worte er nun schreiben durfte! Ganz anders als vor vierzehn Tagen, wo er eine Übersicht der Sommerbühnen zu machen hatte. Und er erinnerte sich, wie im Theater »Bouffes« ein als Schwein verkleideter Mann aufs Podium getreten war und gesungen hatte: »Ich bin ein Ferkel, es ist mal so, ich bin ein Ferkel und bin dessen froh. Meine Mutter war ein altes Schwein, ich gleiche ganz dem Mütterlein. ...«

»... Wir treten in eine heroische Epoche. Wir haben lange genug bei lebendigem Leibe gefault. Der Krieg ist unsere Läuterung ...«, schrieb Antoschka mit spritzender Feder.

* * *

Der Artikel Arnoldows wurde trotz des Widerstandes der Flaumacher – mit Bjeloswjetow an der Spitze – abgedruckt. Man machte nur die eine Konzession an die frühere Richtung, daß man den Aufsatz auf der dritten Seite, unter der akademischen Überschrift »In den Tagen des Krieges« unterbrachte. In den Tagen darauf bekam die Redaktion eine Reihe von Zuschriften aus ihrem Leserkreis; die einen äußerten begeistert ihre Befriedigung, die andern – bittere Ironie. Aber die ersteren waren in der Mehrzahl. Man erhöhte Antoschka das Zeilenhonorar, und eine Woche darauf wurde er auf die Chefredaktion gerufen, wo der grauhaarige und rosige, nach englischem Eau de Cologne duftende Wassilij Wissiljewitsch ihm einen Sessel anbot und eröffnete: »Sie müssen eine Reise aufs Land machen.«

»Sehr gern.«

»Wir müssen wissen, was die Bauern denken und sagen. Die Leser verlangen es von uns.« Er schlug mit der Hand auf einen großen Stoß Briefe. »Bei der Intelligenz macht sich ein großes Interesse für die Bauern bemerkbar. Wir müssen ihr eine lebendige, unmittelbare Vorstellung von dieser Sphinx geben.«

»Der Verlauf der Mobilisierung zeugt von einem kolossalen patriotischen Aufschwung, Wassilij Wassiljewitsch.«

»Ich weiß es. Aber wo kommt, hol es der Teufel, dieser Aufschwung her? Fahren Sie wohin Sie wollen, hören Sie zu und fragen Sie die Leute aus. Bis Sonnabend erwarte ich von Ihnen fünfhundert Zeilen ländlicher Eindrücke.«

Antoschka ging aus der Redaktion auf den Newskij, kaufte sich dort einen Reiseanzug von militärischem Zuschnitt, eine gelbe Pelerine und eine Feldflasche, frühstückte bei Albert und kam zum Schluß, daß das einfachste wäre, ins Dorf Chlyby zu fahren, wo Jelisaweta Kijewna den Sommer bei ihrem Bruder Kij verbrachte. Am Abend saß er schon mit ausgestreckten Beinen im Abteil eines internationalen Schlafwagens, rauchte eine Zigarre und dachte sich: »Ist das ein Leben!«

Das aus rund sechzig Höfen bestehende Dorf Chlyby lag mit seinen von Stachelbeerstauden überwucherten Gemüsegärten, den alten Linden mitten in der Dorfstraße und dem großen, aus einem Herrenhause umgebauten Schulgebäude in einer Niederung, zwischen einem Sumpf und dem Flüßchen Swinjucha, von Brennesseln und Pestwurz überwuchert. Die Landanteile der Bauern waren nicht groß, der Boden war schlecht, und fast alle Bauern verdienten sich ihren Lebensunterhalt in Moskau.

Als Arnoldow gegen Abend in das Dorf einzog, mußte er sich über die ungewohnte Stille wundern. Man hörte nur eine dumme Henne gackern, die sich vor den Pferdebeinen flüchtete, und bei der Tenne einen alten Hund knurren; außerdem schlug irgendwo am Fluß ein Waschbleuel, und zwei Hammel kämpften, mit den Hörnern klopfend, inmitten der Straße.

Arnoldow stieg vor einem steinernen, von abgebröckelten Löwen flankierten Tore aus seinem Korbwagen, bezahlte den tauben alten Mann, der ihn von der Bahnstation hergefahren hatte, und ging einen schmalen Pfad in die Richtung, wo hinter dem durchsichtigen Birkenlaub die weißen Säulen der Schule schimmerten. Auf den morschen Stufen der Freitreppe saßen der Lehrer, Kij Kijewitsch, und seine Schwester, Jelisaweta Kijewna, in ein ruhiges Gespräch versenkt. Unten auf der Wiese lagen die langen Schatten der großen Weiden. Ein Flug Stare zog als dunkles Wölkchen über den Himmel. Eine Hirtenflöte tönte, die Herden zu sammeln. Aus dem Schilf kamen einige rotbraune Kühe, eine von, ihnen hob den Kopf und brüllte. Kij Kijewitsch, der seiner Schwester sehr ähnlich war und die gleichen gemalten Augen hatte, die aber durch die Brille gar nicht gutmütig aussahen, sprach, indem er an einem Strohhalm kaute: »Lisa, zudem bist du in sexueller Beziehung absolut nicht organisiert. Typen deiner Art sind abscheuliche Abfälle der bourgeoisen Kultur. Für die revolutionäre Arbeit bist du gar nicht geeignet.«

Jelisaweta Kijewna blickte mit einem trägen Lächeln auf die Wiese, wo die Gräser und Schatten gelb und warm im Scheine der sinkenden Sonne lagen, und erwiderte: »Ich werde nach Afrika gehen, du wirst es sehen, Kij, nach Afrika. Man fordert mich schon längst auf, hinzureisen, um einen Negeraufstand einzuleiten.«

»Ich glaube nicht daran und halte die Negerrevolution für ein unzeitgemäßes und dummes Beginnen.«

»Nun, das werden wir noch sehen. ...«

»Der jetzige europäische Krieg muß dazu führen, daß das internationale Proletariat die Initiative der sozialen Revolution ergreift. Wir müssen dafür bereit sein und dürfen unsere Kräfte nicht zu rein politischen Aktionen verschwenden. Um so mehr als die Negerrevolution Unsinn ist.«

»Es ist so furchtbar langweilig, dir zuzuhören, Kij. Du hast alles auswendig gelernt, alles ist dir klar wie in einem Buche.«

»Lisa, jeder Mensch muß dafür sorgen, daß in seinen Ideen eine Ordnung und ein System herrschen, und darf nicht daran denken, ob das Gespräch langweilig ist oder nicht.«

»Gut, sorge dafür, soviel du willst.«

Die Geschwister führten solche Gespräche den ganzen Tag, – sie hatten nichts anderes zu tun. Wenn Jelisaweta Kijewna nach stärkeren Sensationen lechzte, fing sie an, Ungerechtigkeiten zu sprechen. Kij Kijewitsch beherrschte sich dann, runzelte die Stirn und schrie schließlich seine Schwester mit dumpfer Stimme an. Sie hörte seinen Vorwürfen zu, sagte nichts, weinte und ging endlich zum Fluß, um zu baden.

Dieser Abend war besonders still. Vor der Treppe hingen unbeweglich die durchsichtigen Zweige der Trauerbirken herab. Im Grase am Fuße, der Anhöhe schnarrte eine Wachtel. Kij Kijewitsch sprach davon, daß es für Lisa nun wirklich Zeit sei, solider zu werden und mit einer nützlichen Tätigkeit zu beginnen. Sie aber blickte mit ihren kurzsichtigen Augen auf die im gelbroten Abendlicht verschwimmenden Umrisse der Bäume und malte sich aus, wie sie unter den befreiten Negern, von ihnen vergöttert, leben und wie Iwan Iljitsch Teljegin, wenn er davon erführe, zu ihr gefahren kommen und sagen würde: »Lisa, ich habe Sie niemals richtig beurteilt. Sie sind ein wunderbarer und bezaubernder Mensch.«

In diesem Augenblick erschien vor der Freitreppe Antoschka Arnoldow. Er stellte sein Gepäck auf den Boden und sagte: »Hier bin ich, Lisa. Sie haben mich nicht erwartet? Guten Abend, Sie prächtiges Weib!« Er küßte sie auf die Wange. »Erstens will ich etwas essen, dann brauche ich sehr viel Material, – bis Sonnabend muß ich ein Feuilleton abliefern. Ist das Ihr Bruder? Ihn brauche ich gerade.«

Antoschka schüttelte mit beiden Händen Kij Kijewitschs Rechte, setzte sich auf die Freitreppe, streckte seine Beine in den gelben Gamaschen aus und zündete sich eine Pfeife an.

»Sagen Sie mal, Kij Kijewitsch, was denkt und sagt man in Ihrem Chlyby über den Krieg?«

Kij Kijewitsch, der für jeden Fall eine beleidigte und gelangweilte Miene aufsetzte, damit niemand auf den Gedanken käme, irgendeine Autorität, irgendein Petersburger Journalist mache auf ihn auch nur den geringsten Eindruck, stocherte mit dem Strohhalm in den Zähnen, runzelte die Stirn und sprach: »Ich glaube, daß dieser Krieg auf eine höchst zynische Weise vom internationalen Kapital inszeniert worden ist. Deutschland allein trifft keine Schuld. Das Proletariat war – natürlich nur vorübergehend – gezwungen, sich auf den patriotischen Standpunkt zu stellen.«

»Ich möchte gerne hören, Kij Kijewitsch, was die Bauern sagen.«

»Das weiß ich nicht. Ich versuchte ihnen den sozial-ökonomischen Untergrund des Krieges zu erklären, – sie konnten nichts kapieren. Die Leute sind so unwissend, daß man auf ihre Klasse gar keine Hoffnungen setzen darf.«

»Aber etwas werden sie doch sagen?«

»Gehen Sie mal selbst ins Dorf und hören Sie zu. Vielleicht werden Sie es in einem Gedicht oder einer Novelle verwenden können.«

Kij Kijewitsch war gekränkt und verstummte. Die Sonne sank langsam hinter eine lila-blaue langgestreckte Wolke. Die Schatten der Weiden auf der Wiese wurden auf einmal dunkel. Über die ganze Niederung, von der zarter Dampf aufstieg, klang nun der traurige Gesang der Frösche.

»Wir haben hier wunderbare Frösche«, sagte Jelisaweta Kijewna. Kij Kijewitsch sah sie an und zuckte die Achseln. An der Hausecke erschien die Köchin und rief zum Abendessen.

* * *

Als es dunkel geworden war, gingen Antoschka und Jelisaweta Kijewna ins Dorf. Am kalten Himmel leuchteten die Augustgestirne. Unten in Chlyby war es feucht, und es roch nach dem Staub, der sich noch nicht gelegt hatte, und nach kuhwarmer Milch. Hie und da standen vor den Toren leere Wagen. Unter den Linden, wo es schon ganz dunkel war, knarrte der Ziehbrunnen und schnaubte ein saufendes Pferd. Vor einem hölzernen Schuppen, dessen Strohdach an eine Mütze erinnerte, saßen auf Balken drei Dorfmädchen und sangen mit halber Stimme. Jelisaweta Kijewna und Antoschka kamen näher und setzten sich auf die gleichen Balken.

Im Dorfe Chlyby
Ist es wunderschön –
Schöne junge Mädels
Spazieren gehn ...

sangen die Mädchen. Eine von ihnen, die am Rande saß, wandte sich nach den Fremden um und sagte leise: »Laßt uns schlafen gehen, Mädels!« Aber sie blieben unbeweglich sitzen. Im Schuppen regte sich jemand, dann knarrte die Tür, und heraus trat ein kleingewachsener kahlköpfiger Bauer in offenem Halbpelz; er mühte sich lange ächzend mit dem Vorhängeschloß ab, sperrte es endlich zu, ging dann zu den Mädchen, stemmte die Hände in die Hüften und reckte seinen Ziegenbart.

»Ihr singt noch immer, ihr Nachtigallen?«

»Wir singen, aber nicht für dich, Onkel Fjodor.«

»Gleich komme ich mit der Knute. ... Was ist das für eine Manier, nachts zu singen. ...«

»Bist wohl neidisch?«

Eine andere seufzte: »Es ist uns nur das eine geblieben, Onkel Fjodor, von unserem Chlyby zu singen.«

»Ja, schlecht steht es mit euch. Ihr seid alle verwaist.«

Fjodor setzte sich zu den Mädchen. Die neben ihm erzählte: »Die Weiber von Kosmodemjanowo haben heute gesagt, daß man die halbe Welt zum Militär genommen hat.«

»Bald kommt auch ihr dran, Mädels.«

»Müssen auch wir in den Krieg?«

»Es ist befohlen, alle Weiber und Mädels zum Militär zu nehmen. Aber man sagt, daß ihr im Feldzuge nur die Luft verpestet.«

Die Mädchen lachten, und die eine fragte wieder: »Onkel Fjodor, mit wem führt unser Zar Krieg?«

»Mit den Europäern.«

Die Mädchen sahen einander an, die eine seufzte, die andere zupfte ihr Schultertuch zurecht, die dritte sagte: »Dasselbe haben uns auch die Weiber von Kosmodemjanowo gesagt: mit den Europäern.«

»Onkel Fjodor, wo wohnen die Europäer?«

»Zum größten Teil am Meere.«

Nun tauchte aus dem Grase hinter den Balken ein zerzauster Kopf auf und schnarchte: »Genug von dem Unsinn. Was für Europäer, – mit den Deutschen haben wir Krieg.«

»Alles ist möglich«, versetzte Fjodor.

Der Kopf verschwand wieder. Antoschka Arnoldow holte sein Etui heraus und bot Fjodor eine Zigarette an. Dann fragte er ihn vorsichtig: »Sagen Sie, sind die Leute aus Ihrem Dorfe gerne in den Krieg gezogen?«

»Viele sind gerne gezogen, Herr.«

»Es war also doch eine Begeisterung?«

»Gewiß. Es heißt, daß man beim Militär gut zu essen kriegt. Warum soll man nicht hingehen. So bekommt man auch zu sehen, was los ist. Man kann wohl erschossen werden, aber auch hier muß man sterben. Wir haben gar zu wenig Land, es gibt nichts zu verdienen, wir leben nur von Brot und Kwaß allein. Dort kriegt man aber, sagen alle, sehr gutes Essen, zweimal am Tage Fleisch, auch Zucker und Tee und Tabak, so viel man will.«

»Ist aber so ein Krieg nicht schrecklich?«

»Gewiß ist er schrecklich. Herr, pumpen Sie mir nicht noch eine Zigarette?«


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