Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXIX

Die letzte Stunde vor Moskau rollte der Zug mit gedehntem Pfeifen an den verödeten Sommerfrischen vorbei; sein weißer Rauch verfing sich im Herbstlaub, in den durchsichtig gelben Birken und dem purpurnen Espengehölz, wo es nach Pilzen roch. Hier und da hing ein Ahornast mit blutroten, gefingerten. Blättern auf das Geleise herab. Durch das entlaubte Gesträuch sah man Glaskugeln in Beeten, vernagelte Fensterläden von Sommerhäusern und mit Laub bedeckte Gartenwege und Stufen.

Da fliegt eine Bedarfshaltestelle vorbei, wo zwei Soldaten mit Rucksäcken mit aufgerissenem Munde auf die Fenster des Zuges starren und auf einer Bank ein trauriges, von Gott vergessenes junges Mädchen in kariertem Mäntelchen sitzt und mit der Spitze eines Regenschirms auf den nassen Brettern des Perrons ein Muster zeichnet. Da erscheint an einer Biegung zwischen den Bäumen ein Bretterschild mit einer aufgemalten Flasche ›Schustows unvergleichlicher Ebereschenlikör‹. Da ist der Wald zu Ende, und rechts und links ziehen sich lange Reihen weißgrüner Kohlköpfe hin; am Schlagbaum steht ein Wagen mit Stroh, und ein Bauernweib mit Männerhalbpelz hält ein ungefügiges graues Pferdchen am Zaum. In der Ferne aber unter der langgestreckten Wolke tauchen schon die Turmspitzen auf, und hoch über der Stadt werden die fünf strahlenden Zwiebeln der Erlöserkathedrale sichtbar. Teljegin lag im Fenster und atmete den kräftigen Oktoberduft ein: den Geruch von Laub, feuchten Pilzen, vom Rauch irgendwo brennenden Strohs und von der vom Morgenfroste gehärteten Erde.

Er fühlte hinter sich den schweren Weg der beiden qualvollen Jahre liegen, der in dieser herrlichen, langen Stunde der Erwartung endete. Iwan Iljitsch hatte es genau berechnet: um halb drei Uhr wird er den Knopf an der einzigen Türe drücken – er stellte sie sich aus heller Eiche mit zwei Fensterchen oben vor –, an die er sich wohl noch sterbend hingeschleppt haben würde.

Die Gemüsegärten gingen zu Ende, und am Geleise flogen die schmutzbespritzten Vorstadthäuschen vorbei, schlecht gepflasterte Straßen mit rasselnden Frachtfuhrwerken, Bretterzäune und dahinter Gärten mit uralten Linden, die ihre Äste bis in die Mitte der Gassen ausstreckten, bunte Ladenschilder, Passanten, die in ihren eigenen nichtigen Geschäften gingen und weder den dröhnenden Zug, noch den im Fenster liegenden Iwan Iljitsch bemerkten; ein in die Tiefe der Straße laufender, wie ein Spielzeug aussehender Trambahnwagen, eine von einem Hause halbverdeckte winzige Kirche, – Iwan Iljitsch bekreuzigte sich schnell, – die Räder klopften auf den Weichen. Endlich, endlich, nach zwei langen Jahren sah er den asphaltierten Perron des Moskauer Bahnhofs an den Fenstern vorbeischweben. In die Wägen stiegen die Träger, saubere, gleichgültige, alte Männchen in weißen Schürzen. Iwan Iljitsch streckte seinen Kopf weit hinaus und suchte etwas mit den Blicken. Unsinn, er hatte doch niemand von seinem Kommen benachrichtigt.

Als Iwan Iljitsch mit seinem billigen Köfferchen, das er in aller Eile in Kiew gekauft hatte, aus dem Bahnhofgebäude trat, konnte er sich nicht des Lachens enthalten: etwa fünfzig Schritte vor ihm stand auf dem Platz eine lange Reihe von Droschken. Die Kutscher winkten mit den Fausthandschuhen und schrien:

»Ich will den Herrn fahren! Ich! Ich!«

»Herr, warum wollen Sie denn den Braunen nehmen? Hier ist ein Rappe!«

»Bitte, bitte, ich fahre den Herrn!«

»Was drängst du dich vor, grindiger Teufel? Zurück!«

»Einen Traber mit Gummirädern!«

Die zurückgehaltenen Pferde stampften, schnaubten und wieherten. Das Geschrei erhob sich über dem ganzen Platz. Man konnte meinen, die ganze Reihe der Droschken wolle jeden Augenblick den Bahnhof stürmen.

Iwan Iljitsch stieg in eine sehr hoch gebaute Luxusdroschke mit hohem Sitz; der freche, schmucke Kutscher fragte ihn herablassend freundlich nach der Adresse und ließ, der Eleganz halber seitwärts sitzend und die lose hängenden Zügel in der linken Hand haltend, seinen Traberhengst laufen; die Gummireifen sprangen über die Pflastersteine.

»Kommen der Herr aus dem Felde?« fragte der Kutscher.

»Aus der Gefangenschaft,« antwortete Iwan Iljitsch, »ich bin geflohen.«

»Nein, wirklich? Wie sieht es denn dort aus? Man sagt, sie haben nichts mehr zu fressen. – Obacht, Mutter! ... Ja, ein Nationalheld ... Viele fliehen aus der Gefangenschaft, immer vor Hunger. – Fuhrmann, Obacht! Du frecher Kerl! ... Kennen Sie den Iwan Trifonytsch?«

»Wen?«

»Den vom Rasguljai, er handelt mit Karbol oder mit Schwefel. Gestern fuhr er mit mir und jammerte furchtbar. Ja, das sind Geschichten! ... Er hat an den Kriegslieferungen so viel verdient, daß er gar nicht weiß, was er mit dem Gelde anfangen soll; nun brennt ihm aber vorgestern seine Frau mit einem Polacken durch. Und sogar gar nicht weit: in den Petrowskij-Park, zum Jean. Am andern Tage haben unsere Kutscher die Neuigkeit über ganz Moskau verbreitet. Iwan Trifonytsch kann sich jetzt nicht mehr auf der Straße sehen lassen, alle lachen. ... Das hat er davon, daß er so viel verdient und gestohlen hat. ...«

»Fahr, bitte, schneller, mein Bester,« sagte Iwan Iljitsch, obwohl der hochgebaute Hengst auch ohnehin wie der Wind durch die Gasse flog.

»Wir sind schon da, Herr, die zweite Tür. Halt!«

Iwan Iljitsch warf einen erregten Blick auf die sechs Fenster des weißen Häuschens, in denen ruhig und reinlich Spitzenstores hingen, und sprang aus dem Wagen. Die Türe war alt und geschnitzt, mit einem Löwenkopf als Griff, und die Klingel war nicht elektrisch, sondern zum Ziehen. Iwan Iljitsch stand einige Sekunden da und hatte nicht die Kraft, die Hand an die Klingel zu führen, sein Herz schlug langsam und schmerzhaft. – Eigentlich weiß ich noch nichts, vielleicht ist niemand zu Hause, vielleicht wird man mich nicht empfangen, dachte er sich und zog am Messingknopf. Irgendwo in der Tiefe bimmelte eine Klingel. – Natürlich niemand zu Hause! – Aber gleich darauf ließen sich schnelle Frauenschritte vernehmen. Iwan Iljitsch sah sich zerstreut um, die schwarzbärtige, lustige Fratze des Kutschers blinzelte ihm zu. Dann klirrte eine Kette, die Türe ging auf, und ein pockennarbiges Dienstmädchen steckte den Kopf heraus.

»Wohnt hier Darja Dmitrijewna Bulawina?« fragte Teljegin und hüstelte.

»Zu Hause, zu Hause, treten Sie näher,« antwortete das pockennarbige Mädchen freundlich, in singendem Ton, »die Gnädige und das gnädige Fräulein sind zu Hause.«

Iwan Iljitsch trat wie im Traum in den mit einer Glaswand versehenen Flur, wo eine gestreifte Ottomane stand und es nach Pelzen roch. Das Dienstmädchen öffnete eine zweite, mit schwarzem Wachstuch beschlagene Tür nach rechts, – in dem kleinen, Halbdunkeln Vorzimmer hingen Damenmäntel und vor dem Spiegel lagen Handschuhe, ein Häubchen mit dem roten Kreuz und ein Daunentuch. Allen diesen harmlosen Gegenständen entströmte der ihm bekannte, kaum wahrnehmbare Duft eines wunderbaren Parfüms.

Das Dienstmädchen entfernte sich, ohne nach dem Namen des Gastes zu fragen. Iwan Iljitsch berührte mit den Fingern das Daunentuch und empfand plötzlich, daß zwischen diesem reinen und schönen Leben und ihm, der aus dem blutigen Gemetzel kam, gar kein Zusammenhang sei. »Gnädige Fräulein, es ist wer zu Ihnen«, hörte er in der Tiefe des Zimmers das Dienstmädchen sagen. Iwan Iljitsch schloß die Augen – gleich wird der himmlische Donner erschallen – und vernahm, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, die klare Stimme: »Zu mir? Wer ist es?«

Durch die Zimmer klangen Schritte. Sie kamen aus dem Abgrunde der zwei Jahre Erwartung. In die Türe des Vorzimmers trat aus dem Lichte der Fenster Dascha. Ihr leichtes Haar schimmerte golden. Sie schien größer und schlanker. Sie trug eine gestrickte Jacke und einen blauen Rock.

»Sie wollen mich sprechen?«

Dascha stockte, ihr Gesicht zuckte, die Brauen gingen hinauf, der Mund öffnete sich, aber der Schatten des ersten Schreckens wich rasch von ihrem Gesicht, und die Augen erstrahlten vor Überraschung und Freude.

»Sie sind es?« sagte sie kaum hörbar. Dann umschlang sie stürmisch Iwan Iljitsch und küßte ihn mit zärtlich bebenden Lippen auf den Mund. Darauf lief sie in den Salon, setzte sich in einen Sessel, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, senkte den Kopf zu den Knien und fing an zu weinen. »Ja, es ist dumm, es ist dumm, gewiß. ... Es geht gleich vorüber,« flüsterte sie, mit aller Kraft die Augen reibend. Iwan Iljitsch stand vor ihr und drückte die Mütze an die Brust. Dascha ergriff plötzlich die Armlehnen des Sessels und hob den Kopf.

»Iwan Iljitsch, Sie sind geflohen?«

»Ja.«

»Mein Gott, und?«

»Und bin... direkt hergekommen.«

Er setzte sich in den Sessel ihr gegenüber, legte die Mütze auf den Tisch und blickte zu Boden.

»Wie ist es gegangen?« fragte Dascha stockend.

»Eigentlich ganz gewöhnlich.«

»War es gefährlich?«

»Ja. ... Das heißt, nicht besonders.«

Beide fühlten sich allmählich von einer Schüchternheit, wie von einem Spinnengewebe, umfangen; Dascha schlug sogar die Augen nieder.

»Seit wann sind Sie hier in Moskau?«

»Ich komme unmittelbar vom Bahnhof.«

»Ich will gleich Kaffee machen lassen. ...«

»Nein, bemühen Sie sich nicht. ... Ich fahre gleich ins Hotel.«

»Werden Sie Abends kommen?« fragte Dascha ganz leise.

Iwan Iljitsch preßte die Lippen zusammen und nickte. Ihm ging der Atem aus. Er erhob sich.

»Jetzt gehe ich also. Abends komme ich wieder.«

Dascha reichte ihm die Hand. Er ergriff ihre zarte und kräftige Hand, und diese Berührung trieb ihm das Blut ins Gesicht. Er drückte ihre Finger zusammen. In der Türe des Vorzimmers wandte er sich noch einmal um. Dascha stand mit dem Rücken zum Licht und sah Teljegin mit krauser Stirne sonderbar, gar nicht freundlich an.

»Darf ich gegen sieben kommen, Darja Dmitrijewna?« Sie nickte.

Iwan Iljitsch trat auf die Straße und sagte dem Kutscher: »In ein Hotel, in ein gutes, in das beste!«

Er saß in der Droschke zurückgelehnt, die Hände in den Taschen und lächelte. Bläuliche Schatten von Menschen, Bäumen und Wägen schwebten vor seinen Augen. Der kalte, vom eigentümlichen Geruch einer russischen Stadt erfüllte Wind kühlte sein Gesicht. Iwan Iljitsch führte seine von der Berührung Daschas noch glühende Hand an die Nase und lachte: »Ein wahrer Zauber!«

Dascha stand, nachdem sie sich von Iwan Iljitsch verabschiedet hatte, am Fenster im Salon. In ihrem Kopf klang es, sie war außerstand ihre Gedanken zu sammeln und zu fassen, was geschehen war. Sie schloß die Augen, schrie plötzlich leise auf und lief zu ihrer Schwester ins Schlafzimmer.

Jekaterina Dmitrijewna saß am Fenster, nähte und sann. Als sie Daschas Schritte hörte, fragte sie, ohne den Kopf zu heben: »Dascha, wer war eben bei dir?«

»Er.«

Katja sah sie aufmerksam an, und ihr Gesicht zuckte. »Wer?«

»Er ... Verstehst du denn nicht. ... Er. ... Iwan Iljitsch. ...«

Katja ließ die Näharbeit sinken und schlug langsam die Hände zusammen.

»Katja, begreife doch, ich bin so gar nicht froh, ich habe nur Angst,« sagte Dascha mit dumpfer Stimme.


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