Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXI

Iwan Iljitsch erhielt am fünften Tage nach seiner Ankunft ein amtliches Schreiben aus Petrograd mit der Aufforderung, sich unverzüglich in den Obuchowschen Werken zur Verfügung des General-Ingenieurs zu melden.

Die Freude darüber, der Rest des Tages, den er mit Dascha im Trubel der Straßen verbrachte, der eilige Abschied auf dem Nikolai-Bahnhofe, dann der trocken-warme Wagen zweiter Klasse mit der knisternden Heizung und das von einem Bändchen umschlungene kleine Paket, das er unerwartet in seiner Tasche fand und das zwei Äpfel, Schokolade und Gebäck enthielt, – das alles war wie ein Traum.

Iwan Iljitsch trat aus dem Kupee und stellte sich im Seitengange ans Fenster, mit dem Gesicht fast die Scheibe berührend. Draußen flogen, kreuzten sich und fielen zur Erde feurige Linien. Ab und zu jagte eine graue Rauchwolke vorbei. Die Räder klapperten gehorsam. Die Lokomotive ließ an einer Biegung ein langes Heulen vernehmen und beleuchtete die schwarzen Kegel einiger Tannen, – sie traten aus dem Dunkel hervor und verschwanden gleich wieder. Eine Weiche klapperte, der Wagen schwankte, eine grüne Laterne flog vorbei, und wieder regnete es längs des Fensters die langen feurigen Linien.

Iwan Iljitsch verfolgte sie mit den Augen und fühlte mit einer plötzlichen, erschütternden Freude die ganze Bedeutung dessen, was er in diesen fünf Tagen erlebt hatte. Wenn er dieses Gefühl jemand beschreiben könnte, so würde man ihn für verrückt halten. Für ihn war aber darin nichts Seltsames und nichts Verrücktes: alles war ungewöhnlich klar.

Er fühlte: im Dunkel der Nacht bewegen sich, quälen sich und sterben Millionen und Abermillionen von Menschen. Allen diesen Millionen und Abermillionen scheint es, daß sie lebendige Menschen seien. Sie leben aber nur bedingt, und alles, was jetzt auf Erden geschieht, ist nur bedingt, beinahe scheinbar. Dermaßen scheinbar, daß wenn er, Iwan Iljitsch, nur noch eine Anstrengung machte, alles sich sofort verändern und anders werden würde. Und in all dem Scheinbaren gibt es einen lebenden Mittelpunkt: das ist er, Iwan Iljitsch, der am Fenster steht. Er ist ein auserwähltes Wesen. Es ist aus der Welt der Schatten getreten und fliegt in diesem Feuerregen über die dunkle Welt dahin. In ihm schlägt voll göttlicher Freude das Herz und fließt der Strom der Liebe – das lebendige Blut.

Dieses ungewöhnliche Gefühl der Liebe zu sich selbst dauerte nur einige Sekunden. Er kehrte ins Kupee zurück, stieg auf den oberen Schlafplatz, betrachtete beim Auskleiden seine großen Hände und dachte sich zum erstenmal in seinem Leben, daß sie schön seien. Er schob sie in den Nacken, schloß die Augen und erblickte sofort Dascha. Sie sah ihm erregt und verliebt ins Gesicht. (Es war heute im Eßzimmer; Dascha packte das Gebäck ein, Iwan Iljitsch ging um den Tisch herum auf sie zu und küßte sie auf die warme Schulter; sie wandte sich schnell um, und er fragte: »Dascha, wollen Sie meine Frau werden?« Sie antwortete nicht und sah ihn nur an.) Wie er so dalag, Daschas Gesicht sah und sich an dieser Vision gar nicht sattsehen konnte, fühlte Iwan Iljitsch, gleichfalls zum erstenmal in seinem Leben, einen Jubel, ein Entzücken, eine Freude darüber, daß Dascha ihn, der die großen und schönen Hände hatte, liebte. Sein Herz klopfte wie rasend.

* * *

Iwan Iljitsch meldete sich gleich nach seiner Ankunft in Petrograd bei den Obuchowschen Werken und wurde in die Werkstatt für die Nachtschicht eingestellt.

Auf den Werken hatte sich in diesen drei Jahren vieles verändert: die Zahl der Arbeiter hatte sich verdreifacht, zum Teil war es junger Nachwuchs, zum Teil hatte man die Leute vom Ural geholt und zum Teil der Armee entnommen. Der einstige hungrige, halb betrunkene, erboste und schüchterne Arbeiter war spurlos verschwunden. Die Arbeiter verdienten viel Geld, lasen Zeitungen, schimpften auf den Krieg, auf den Zaren, die Zarin, Rasputin und die Generäle, waren erbost und überzeugt, daß nach dem Kriege die Revolution ausbrechen würde.

Besonders erbost waren sie darüber, daß man in den städtischen Bäckereien dem Brotmehl allerlei Ersatzstoffe beimischte, daß es auf dem Markte oft mehrere Tage hintereinander kein Fleisch oder nur faules Fleisch gab, daß die Kartoffeln gefroren waren, der Zucker viel Schmutz enthielt und daß alle Waren außerdem dauernd im Preise stiegen, während die Kaufleute, Kriegsgewinnler und Spekulanten, die sich an Heereslieferungen bereichert hatten, fünfzig Rubel für eine Schachtel Bonbons und hundert Rubel für eine Flasche Champagner zahlten und von einem Frieden mit den Deutschen nichts wissen wollten.

Iwan Iljitsch bekam nach seinem Eintritt in den Dienst einen Urlaub von drei Tagen, um seine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen; er lief diese ganze Zeit auf der Suche nach einer Wohnung herum. Es war ihm nicht ganz klar, wozu er diese Wohnung brauchte, aber damals, als er im Kupee lag, hatte er sich vorgenommen, eine hübsche Wohnung mit weißen Zimmern, blauen Vorhängen und sauberen Fensterscheiben zu mieten.

Er hatte sich schon Dutzende von Häusern angesehen, aber nichts Entsprechendes gefunden: hier stand vor den Fenstern eine Mauer, dort war die Einrichtung gar zu geschmacklos, dort wieder zu düster. Aber am dritten Tag fand er zufällig das, was ihm im Kupee vorgeschwebt hatte: fünf nicht sehr große, weiße Zimmer mit sauberen Fenstern nach dem Westen. Diese Wohnung, am Ende des Kamennoostrowskij-Prospekts, war für Iwan Iljitsch zwar etwas zu teuer, er mietete sie aber trotzdem und schrieb Dascha darüber.

In der vierten Nacht fuhr er aufs Werk. Auf dem vor Kohlenstaub schwarzen Hofe brannten auf hohen Masten die Bogenlampen. Der Rauch aus den Kaminen wurde vom Winde und der Feuchtigkeit zur Erde geschlagen, und die Luft war von einem gelblichen, schwülen Dunst erfüllt. Durch die halbrunden, großen, verstaubten Fenster der Werkgebäude konnte man sehen, wie die zahllosen Riemenscheiben und Transmissionen schwirrten, wie die gußeisernen Rahmen der Maschinen hin und her glitten und Stahl und Bronze bohrten, hobelten und frästen, und wie die senkrechten Scheiben der Stanzmaschinen sich drehten. In der Höhe liefen und verschwanden im Dunkeln die Laufkatzen der Hebekrane. Die Essen glühten in weißem und rosigem Licht. Der gigantische Bär des Dampfhammers ging auf und nieder, und die Erde zitterte unter seinen kurzen Schlägen. Aus niederen Kaminen stiegen in die Finsternis des feuchten Himmels Flammensäulen auf. Und in diesem Rasseln und Dröhnen bewegten sich ohne Übereilung menschliche Gestalten.

Iwan Iljitsch trat in die Werkstatt, in der Granatenhülsen hergestellt wurden. Ingenieur Strukow, sein alter Bekannter, führte ihn herum und erklärte ihm alle Einzelheiten dieser Arbeit. Dann trat er mit ihm hinter den Bretterverschlag in einer Ecke der Werkstatt, zeigte ihm die Bücher und Listen, übergab ihm die Schlüssel und sagte, während er sich den Mantel anzog: »Diese Werkstatt arbeitet mit dreiundzwanzig Prozent Ausschuß, halten Sie sich auch an diese Zahl.«

Aus Strukows Worten und Gebaren bei der Übergabe der Werkstatt hörte Iwan Iljitsch eine große Gleichgültigkeit heraus; und doch war Strukow, wie er ihn von früher her kannte, ein vorzüglicher Ingenieur, mit Leib und Seele der Arbeit ergeben. Dies betrübte ihn, und er fragte: »Glauben Sie, daß der Prozentsatz des Ausschusses sich nicht herabdrücken läßt?«

Strukow gähnte, schüttelte den Kopf, stülpte sich die Mütze tief über den ungekämmten Kopf und kehrte mit Iwan Iljitsch zu den Maschinen zurück. »Schlagen Sie es sich aus dem Kopfe, Väterchen. Ist es Ihnen nicht ganz gleich? Wir werden eben um dreiundzwanzig Prozent weniger Menschen umbringen. Außerdem ist dagegen nichts zu machen, die Maschinen sind abgenützt, hol sie der Teufel!«

Er blieb vor einer der Pressen stehen. Ein alter, kurzbeiniger Arbeiter in Lederschurz schob einen glühenden Rohling in die Maschine, der Rahmen senkte sich, der Dorn drang in den rosigen Stahl wie in Butter ein, eine Flamme zischte auf, der Rahmen ging in die Höhe, und eine dreizöllige Granathülse fiel zu Boden. Der Alte hielt sogleich einen neuen Rohling hin. Ein anderer, junger, großgewachsener Arbeiter mit emporgewirbeltem Schnurrbart machte sich an der Esse zu schaffen. Strukow wandte sich an den Alten: »Rubljow, die Hülsen sind doch alle Ausschuß?«

Der Alte lächelte, wippte mit seinem dünnen Bärtchen und schielte verschmitzt zu Teljegin hinüber. »Lauter Ausschuß. Sie sehen doch, wie die Maschine arbeitet.« Er legte die Hand auf die von Fett grüne Führungsstange, über die der Rahmen der Presse glitt. »Sie ist ganz zittrig. Man hätte sie schon längst hinauswerfen sollen.«

Der junge Arbeiter an der Esse, der Sohn Iwan Rubljows, Wassjka, lachte kurz auf und sagte: »Vieles hätte man hinauswerfen sollen. Die ganze Maschinerie ist verrostet.«

»Wassjka, nicht gar so scharf!« sagte Strukow lustig.

»Ja, das ist es eben; nicht gar so scharf!« Wassjka schüttelte den lockigen Kopf, und sein hübsches, etwas breites Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart und den bösen, durchdringenden Augen grinste unangenehm und selbstbewußt.

»Das sind die zwei besten Arbeiter in der Werkstatt«, sagte Strukow leise zu Iwan Iljitsch, als sie sich von ihnen entfernten. »Leben Sie wohl. Heute gehe ich noch in die ›Roten Schellen‹. Sind Sie noch nie dort gewesen? Eine herrliche Kneipe, man kriegt dort auch Wein. Ich will Sie mal hinführen.«

* * *

Teljegin schrieb Dascha jeden Tag, sie antwortete ihm weniger oft. Ihre Briefe waren sonderbar, wie mit einer Eiskruste überzogen, und Iwan Iljitsch fühlte ein leichtes Frösteln, wenn er sie las. Er pflegte sich ans Fenster zu setzen und Daschas Briefe mit den großen, nach unten verlaufenden Zeilen mehreremal hintereinander zu lesen. Dann blickte er auf den lilagrauen Wald auf den Inseln hinaus, auf den bewölkten Himmel, der ebenso trüb war wie das Wasser im Kanal, stützte das Kinn auf das Fensterbrett, sah hinaus und dachte sich, daß es ganz in Ordnung sei, wenn Daschas Briefe nicht so zärtlich seien wie er es sich in seiner Unvernunft wünschte, daß Dascha sie ehrlich und aufmerksam schreibe, in einer so aufrichtigen, stillen und strengen Stimmung wie in den großen Fasten vor der Beichte.

»Lieber Freund,« schrieb sie ihm, »Sie haben eine Wohnung mit fünf Zimmern gemietet. Bedenken Sie doch, was Sie sich für Unkosten machen. Selbst wenn Sie sie nicht allein bewohnen werden, sind die fünf Zimmer doch zu viel. Dann die Bedienung: eine solche Wohnung erfordert zwei Dienstboten, was das heutzutage kostet. Man möchte sich lieber in eine Ritze verkriechen und dort ohne zu atmen sitzen ... Bei uns in Moskau ist Herbst, es ist regnerisch und kalt, kein einziger Lichtblick ... Warten wir das Frühjahr ab. ...«

Ebenso wie Dascha am Tage seiner Abreise die Frage, ob sie seine Frau werden wolle, nur mit einem Blick beantwortet hatte, so erwähnte sie auch in ihren Briefen mit keinem Wort die Hochzeit und das künftige gemeinsame Leben. Man mußte wohl das Frühjahr abwarten.

Diese Erwartung des Frühjahrs und eine unklare, verzweifelte Hoffnung auf irgendein Wunder empfanden jetzt alle. Das Leben war stehen geblieben, war in den Winterschlaf versunken. Es war, als hätte man im wachen Zustande keine Kraft mehr, das blutige Frühjahr zu erwarten.

Dascha schrieb einmal: »Ich wollte Ihnen vom Tode Bessonows weder erzählen noch schreiben. Gestern hörte ich aber wieder Einzelheiten über sein schreckliches Ende. Iwan Iljitsch, kurz bevor er an die Front ging, traf ich ihn einmal auf dem Twerskoi-Boulevard. Er war sehr elend, und mir scheint, daß er, wenn ich ihn nicht von mir gestoßen hätte, wohl nicht zugrunde gegangen wäre. Ich habe ihn aber von mir gestoßen. Ich konnte nicht anders und würde wieder so handeln, wenn ich jetzt noch einmal die Wahl hätte. Sein Tod liegt auf mir, und ich nehme es hin. Ich will, daß Sie es verstehen.«

Teljegin brauchte einen halben Tag für die Antwort auf diesen Brief ... »Wie können Sie nur denken, daß ich nicht alles hinnehme, was Sie auf sich tragen,« schrieb er langsam, jedes Wort wägend, um ja nicht eine Unaufrichtigkeit zu sagen. »Manchmal prüfe ich mich, – selbst wenn Sie einen anderen Menschen lieb gewännen, wenn das Schrecklichste geschähe, was wäre dann mit mir?... Ich würde auch das hinnehmen. ... Ich würde mich damit nicht versöhnen, nein: meine Sonne wäre verdüstert. Aber besteht denn meine Liebe zu Ihnen in der Freude allein? ... Ich kenne das Gefühl: man will sterben, weil man viel zu tief liebt. ... Dasselbe empfand wohl auch Bessonow, als er an die Front ging. ... Sein Name sei heilig. ... Auch Sie, Dascha, müssen fühlen, daß Sie grenzenlos frei sind. ... Ich bitte Sie um nichts, selbst nicht um Liebe. ... Das habe ich in der letzten Zeit begriffen. ... Ich möchte wirklich arm im Geiste werden. ... Mein Gott, mein Gott, in welch einer schweren Zeit leben wir!«

Zwei Tage darauf kam Iwan Iljitsch beim Morgengrauen heim, nahm ein Bad und legte sich ins Bett, wurde aber sogleich durch ein Telegramm geweckt: »Alles gut. Liebe dich furchtbar. Deine Dascha.«

* * *

An einem Sonntagabend holte der Ingenieur Strukow Iwan Iljitsch ab und fuhr mit ihm in die ›Roten Schellen‹.

Die Kneipe befand sich in einem von Tabakrauch und alkoholischen und menschlichen Ausdünstungen erfüllten Keller. Die gewölbte Decke und die Wände waren mit bunten Vögeln, nackten Frauen von unnatürlicher Farbe und phantastischem Körperbau, Kindern mit lasterhaften Gesichtern und mit bedeutungsvollen Schnörkeln ausgemalt. Es ging sehr laut zu. Auf dem Podium saß ein kleines, altes, kahles Männchen mit eingefallenen, geschminkten Wangen und klimperte auf einem Klavier. Alle Tische waren besetzt. Mehrere Offiziere tranken eine starke Bowle und wandten sich erregt nach jeder vorbeigehenden Frau um. Rechtsanwälte, die Beziehungen zur Kunst hatten, schrien und stritten. Die Königin des Lokals, eine schwarze Schöne mit geschwollenen Augen, lachte laut. Antoschka Arnoldow saß ganz am Rande eines der Tischchen und schrieb, eine Haarsträhne drehend, einen Bericht von der Front. Auf einer Erhöhung an der Wand duselte, den betrunkenen Kopf auf die Brust gesenkt, der Urahne des Futurismus, ein Tierarzt mit schiefem, schwindsüchtigem Gesicht. Drei junge Dichter schrien aus einer Ecke durchs ganze Lokal: »Kostja, sing doch etwas Unanständiges!« Der geschminkte Alte am Klavier versuchte, ohne sich umzusehen, mit seiner zittrigen Stimme etwas zu singen, aber man hörte ihn nicht. Der Wirt der Kneipe, ein ehemaliger Schauspieler mit langen, zerzausten Haaren erschien ab und zu in einer Seitentüre, sah mit wahnsinnigen Augen auf die Gäste und verschwand gleich wieder. Vorgestern früh war seine Frau direkt aus dem Lokal mit einem jungen genialen Komponisten auf den Finnländischen Bahnhof durchgebrannt, – nun trank er schon den dritten Tag ohne zu schlafen.

Strukow, dem die Bowle in den Kopf gestiegen war, sagte zu Iwan Iljitsch: »Wissen Sie, warum ich diese Kneipe so liebe? Solche Fäulnis findet man sonst nirgends, ein Hochgenuß ... Schauen Sie, dort in der Ecke sitzt einer, ist mager und schrecklich, kann sich gar nicht rühren, – Hysterie im höchsten Grade ... Hat einen Riesenerfolg bei den Frauen ... Und der da mit dem Pferdegebiß ist der berühmte Ssemiswjetow: er hat sich die Vorderzähne ziehen lassen, um nicht in den Krieg zu müssen, und schreibt Verse ... ›Wir wollen den Krieg nicht eher beenden, als bis wir das russische Bajonett an den seidenen Hosen der Wiener Prostituierten abgewischt haben. ...‹ Dieses Gedicht ist gedruckt; es gibt aber auch ungedruckte ... ›Schmatze mit deinem eisernen Gebiß, friß Menschenfleisch, Bürger. Unser Proletarierbajonett wird dir schnell deinen fetten Bauch aufschlitzen.‹« Strukow kicherte, stürzte ein Glas Bowle hinunter und fuhr fort, ohne seine zarten, von einem tatarischen Schnurrbart beschatteten Lippen abzuwischen, Iwan Iljitsch die Namen der Gäste zu nennen und mit dem Finger auf die unausgeschlafenen, krankhaften, halb verrückten Gesichter zu zeigen. »Hier ist der Herd der Ansteckung, der Krebs,« – er sprach diese Worte mit Behagen – »von hier ergießt sich der Eiter über unser ganzes Mütterchen Rußland. Iwan Iljitsch, Sie sind doch Patriot, ich weiß es. ... Ein Intellektueller, der ans Volk glaubt ... Gut wäre es, diese ganze Fäulnis mit Blut zu besprengen, ha, ha. ... Sie werden dann übers ganze Land rennen und wie toll um sich beißen ... Warten Sie nur, lassen Sie Zeit, wenn dieses ganze Gesindel Blut leckt, wird es lebendig werden, die Toten werden ihre Kraft fühlen und an ihr Recht glauben ... Wie rasend werden sie alles aufreißen und umstürzen ... Dann wird unser verdammtes Mütterchen zerspringen und die ganze Welt mit seinem Eiter überschwemmen ... Verflucht soll sie sein!«

Strukow war ordentlich betrunken. Seine Augen glänzten trocken und lustig, und er stieß auch die Flüche mit dem gleichen, beinahe zärtlichen Lächeln aus. Teljegin saß düster da. Von dem Lärm und bunten Trubel der Kneipe und der unglaublichen Blasphemie Strukows schwindelte ihm der Kopf.

Er sah, wie erst einige, und dann alle im Lokal sich zu der Eingangstüre wandten; der Tierarzt öffnete seine gelben Augen; in der Seitentüre erschien das wahnsinnige Gesicht des Wirtes; die halbtote Frau, die neben Iwan Iljitsch saß, hob ihre verschlafenen Lider, und ihre Augen wurden plötzlich lebendig; sie sprang mit einer unerwarteten Behendigkeit auf einen Stuhl und blickte in die gleiche Richtung wie alle ... Ein Weinglas fiel um und klirrte ...

In der Eingangstür stand, eine Schulter etwas vorgeschoben, die Hände in den Taschen, ein älterer Mann von mittlerem Wuchs. Sein schmales Gesicht mit dem hängenden Bärtchen war lustig und lächelte mit zwei tiefen Falten; die lauernden, klugen, durchdringenden Augen brannten mit einem grauen Licht. Es dauerte eine Minute. Aus dem Dunkel der Türe näherte sich ihm ein anderes Gesicht, das eines Beamten mit einem schiefen, besorgten Lächeln, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann runzelte geärgert seine große Nase und sagte: »Wieder kommst du mit deinen Dummheiten. ... Ach, ich hab dich ordentlich satt.« Er warf den Gästen im Keller einen noch lustigeren Blick zu, wippte mit seinem schwarzen Vollbart von unten nach oben und sagte mit lauter, behäbiger Stimme: »Nun, lebt wohl, lustige Brüder. ...«

Gleich darauf verschwand er. Die Tür fiel ins Schloß. Der ganze Keller summte wie ein Bienenkorb. Strukow krallte sich mit den Fingern in die Hand Iwan Iljitschs ein und sagte außer Atem: »Hast du ihn gesehen? Hast du ihn gesehen? Es war Rasputin.«


 << zurück weiter >>