Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXV

Der folgende Tag war dadurch bemerkenswert, aß er den Begriff der Relativität der Zeit bestätigte. So fuhr Iwan Iljitsch mit der Droschke von seinem Hotel in der Twerskaja bis zur Arbat-Gasse ungefähr anderthalb Jahre. »Nein, Herr, die Zeiten, wo wir für fünfzig Kopeken fuhren, sind vorbei,« belehrte ihn der Kutscher. »Man erzählt sich, die Leute in Petrograd hätten jetzt die Freiheit. Wenn nicht heute, so morgen werden wir auch in Moskau die Freiheit haben. Sieh mal an, da steht ein Schutzmann. Gut wäre es, zu dem Hundesohn heranzufahren und ihm mit der Peitsche eins auf die Schnauze zu geben. Warten Sie, Herr, wir werden schon mit allen abrechnen!«

In der Eßzimmertür empfing ihn Dascha. Sie hatte ihren weißen Morgenrock an, die aschblonden Haare waren in aller Eile zusammengesteckt. Sie roch nach frischem Wasser. Die Glocke der Zeit erdröhnte; die Zeit blieb stehen; der Augenblick dehnte sich. Er war ganz von Daschas Worten, von ihrem Lachen, von ihren in der Morgensonne leuchtenden leichten Haaren erfüllt. Iwan Iljitsch wurde selbst dann unruhig, wenn Dascha ans andere Ende des Tisches ging. Dascha machte die Büfettüre auf, hob die Arme, und die weiten Ärmel des Morgenrocks glitten hinunter. Iwan Iljitsch dachte sich, daß ein Mensch solche Arme gar nicht haben könne, – nur die beiden weißen Impfmale oberhalb des Ellenbogens bestätigten, daß es wirklich Menschenarme waren. Dascha holte aus dem Büfett eine Tasse, wandte ihren leuchtenden Kopf zu ihm, sprach und lachte.

Sie zwang Iwan Iljitsch, mehrere Tassen Kaffee zu trinken. Sie sprach irgendwelche Worte, und auch Iwan Iljitsch sprach Worte, aber Menschenworte haben wohl nur innerhalb der normal fortschreitenden Zeit einen Sinn, denn heute waren ihre Worte absolut sinnlos. Jekaterina Dmitrijewna, die auch im Eßzimmer saß, hörte, wie Teljegin und Dascha staunend, begeistert und alles sogleich vergessend einen ungewöhnlichen Unsinn über den Kaffee, die Revolution, ein Ledernecessaire, einen in Petersburg abgehauenen Kopf und über Daschas Haare zusammenredeten, die in der hellen Sonne seltsam rötlich schienen.

Das Dienstmädchen brachte die Zeitungen. Jekaterina Dmitrijewna entfaltete die ›Rußkija Wjedomosti‹ schrie auf und fing an, den verhängnisvollen Erlaß des Kaisers von der Auflösung der Reichsduma laut vorzulesen.

Dascha und Teljegin waren darüber sehr erstaunt, aber Jekaterina Dmitrijewna las das Weitere schon für sich. Dascha sagte zu Teljegin: »Komm mit«, und führte ihn durch den finsteren Korridor in ihr Zimmer. Sie trat als erste ein, sagte hastig: »Wart, wart, sieh nicht hin,« und steckte etwas Weißes in die Schublade der Kommode.

Iwan Iljitsch sah zum erstenmal in seinem Leben Daschas Zimmer: ihren Toilettentisch mit einer Menge ihm unverständlicher Dinge; das strenge, schmale, weiße Bett mit zwei Kissen, einem großen und einem kleinen, auf dem großen pflegte Dascha zu liegen, das kleine aber beim Einschlafen unter den Ellenbogen zu schieben; am Fenster einen breiten Sessel mit dem über die Lehne geworfenen weichen Kopftuch.

Dascha ließ Iwan Iljitsch in diesen Sessel sitzen, schob einen Schemel heran, setzte sich ihm gegenüber, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände, blickte ihm gerade ins Gesicht und hieß ihn sagen, wie er sie liebe. Die Glocke der Zeit schlug den zweiten Augenblick.

»Dascha, wenn man mir alles, was da ist, schenkte,« sagte Teljegin, »die ganze Erde, so wäre mir davon nicht besser, verstehst du es?« Dascha nickte. »Wenn ich allein bin, was brauche ich mich dann, nicht wahr? ... Was brauche ich mich selbst?« Dascha nickte. »Herumgehen, essen, schlafen, – wozu? Wozu habe ich diese Arme und Beine? ... Was hätte ich davon, wenn ich beispielsweise märchenhaft reich wäre. ... Du verstehst doch, wie schrecklich es ist, allein zu sein?« Dascha nickte. »Aber jetzt, wo du so dasitzest. ... Jetzt bin ich nicht mehr da, ich fühle mich nicht mehr. ... Ich fühle nur: das bist du, das ist das Glück. Du bist alles, du bist mein ... Ich sehe dich an, und mir schwindelt der Kopf, – atmest du denn wirklich, bist du lebendig, bist du mein? ... Dascha, verstehst du etwas?«

»Ich erinnere mich,« sagte Dascha, »wir saßen auf dem Deck, ein leichter Wind wehte, in geschliffenen Gläsern funkelte der Wein, und ich fühlte plötzlich, daß wir dem Glück entgegenfuhren.«

»Erinnerst du dich noch an die blauen Schatten?« Dascha blinzelte mit den Augen, und es erschien ihr sofort, daß auch sie sich irgendwelcher herrlicher, blauer Schatten erinnere. Sie erinnerte sich der Möven, die dem Dampfer folgten, der niedrigen Ufer, der weit im Wasser strahlenden Sonnenstraße, die, wie ihr damals schien, am Ende in ein blaues, leuchtendes Meer von Glück münden würde. Dascha erinnerte sich sogar, was für ein Kleid sie damals anhatte ... Wie viele lange Jahre waren seitdem vergangen ... Sie fühlte Mitleid mit sich selbst, ein noch schmerzvolleres Mitleid mit ihrer Schwester Katja. ... Sie nahm Iwan Iljitschs Hände, barg in ihnen ihr Gesicht, seufzte auf, und er fühlte zwischen seinen Fingern Tränen rinnen.

Jekaterina Dmitrijewna kam abends aus dem Juristenklub außer sich vor Freude gelaufen und berichtete: »In Petrograd ist die ganze Gewalt an das Duma-Komitee übergegangen, alle Minister sind verhaftet, aber es schwirren höchst beunruhigende Gerüchte: man sagt, der Kaiser habe das Hauptquartier verlassen und gegen Petrograd ziehe General Iwanow mit einem ganzen Armeekorps. ... In Moskau soll morgen der Kreml und das Arsenal gestürmt werden. ... Iwan Iljitsch, morgen in aller Frühe laufen Dascha und ich hin, um uns die Revolution anzusehen. ...«


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