Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Während Dascha im Vorzimmer den nassen Pelz aufknöpfte, fragte sie das Dienstmädchen: »Es ist natürlich niemand zu Hause?«

Der Großmogul – so nannte man das Dienstmädchen Luscha wegen ihres wie bei einem mongolischen Götzen breitknochigen, immer stark gepuderten Gesichts – der Großmogul antwortete, in den Spiegel blickend, mit hoher Stimme, daß die Gnädige tatsächlich nicht zu Hause sei; der gnädige Herr sei aber zu Hause, in seinem Kabinett und werde in einer halben Stunde zu Abend essen.

Dascha ging in den Salon, setzte sich ans Klavier, legte ein Bein aufs andere und umfaßte das Knie mit den Händen.

Der Schwager Nikolai Iwanowitsch ist zu Hause; er hat sich also mit seiner Frau gezankt, ist schlechter Laune und wird wieder jammern. Jetzt ist es elf; bis drei, wo sie gewöhnlich einschläft, hat sie nichts zu tun. Lesen, – aber was? Sie hat auch keine Lust. Einfach sitzen und denken, – auch das ist nicht leicht. Wie ungemütlich ist doch manchmal das Leben!

Dascha seufzte, schlug den Klavierdeckel auf und versuchte sich mit einer Hand in einem Stück von Skrjabin zurechtzufinden. Recht schwer hat es ein Mensch in diesem unbequemen Alter von neunzehn Jahren, dazu noch ein junges Mädchen, das gar nicht dumm ist, das obendrein aus einem dummen Reinlichkeitsgefühl heraus gar zu streng ist gegen alle – und solcher gibt es nicht wenig –, die Lust zeigen, ihre Langweile zu vertreiben.

Dascha war im vorigen Jahr aus Ssamara nach Petersburg gekommen, um Jus zu studieren, und wohnte bei ihrer älteren Schwester Jekaterina Dmitrijewna Smokownikowa. Diese war mit einem recht bekannten Rechtsanwalt verheiratet; das Ehepaar lebte auf großem Fuß und hatte viele Gesellschaft.

Dascha war um etwa fünf Jahre jünger als ihre Schwester: als Jekaterina Dmitrijewna heiratete, war Dascha noch ein Kind; in den folgenden Jahren waren die Schwestern wenig zusammengekommen und nun hatte sich zwischen ihnen ein neues Verhältnis eingestellt: bei Dascha war es Verliebtheit, bei Jekaterina Dmitrijewna – Zärtlichkeit und Liebe.

In der ersten Zeit ahmte Dascha ihre Schwester in allen Dingen nach und war von ihrer Schönheit, ihrem Geschmack und ihrer Kunst, die Menschen zu behandeln, entzückt. Vor den Bekannten ihrer Schwester empfand sie eine Scheu und sagte manchen von ihnen aus lauter Schüchternheit Grobheiten. Jekaterina Dmitrijewna war stets bestrebt, aus ihrem Hause ein Muster des Geschmacks und der neuesten Mode zu machen, die noch nicht zum Besitz der Straße geworden war; sie verpaßte keine einzige Kunstausstellung und kaufte futuristische Bilder. Im letzten Jahre hatte sie aus diesem Grunde manchen stürmischen Auftritt mit ihrem Manne gehabt: Nikolai Iwanowitsch mochte nur Tendenzmalerei, aber Jekaterina Dmitrijewna zog es mit ihrem weiblich ungestümen Temperament vor, eine Märtyrerin der neuen Kunst zu sein, nur um nicht als zurückgeblieben zu gelten.

Dascha begeisterte sich ebenfalls für alle die sonderbaren Bilder, die im Salon hingen, obwohl sie sich manchmal mit Bitternis sagte, daß alle diese quadratischen Figuren mit den geometrischen Gesichtern und viel zu vielen Armen und Beinen und die wie Kopfschmerzen dumpfen Farben – diese ganze fabrikmäßige gußeiserne, zynische Poesie der ranzigen Gasse, die sich wider Gott den Herrn erhoben hat, – für ihre stumpfen Begriffe viel zu erhaben seien.

Jeden Dienstag versammelte sich bei den Smokownikows in ihrem mit Vogelaugenholz getäfelten Eßzimmer zum Souper eine laute und lustige Gesellschaft. Es waren darunter redselige Rechtsanwälte, die das zarte Geschlecht liebten und aufmerksam alle literarischen Strömungen verfolgten, zwei oder drei Journalisten, die ausgezeichnet wußten, wie man die innere und auswärtige Politik machen soll, und der nervös überreizte Kritiker Tschirwa, der den fälligen literarischen Skandal vorbereitete. Manchmal kamen zu einer sehr frühen Stunde junge lyrische Dichter, die ihre Gedichtmanuskripte im Vorzimmer zurückließen. Kurz vor dem Souper erschien im Salon irgendeine Berühmtheit; sie ging langsamen Schritts auf die Dame des Hauses zu, küßte ihr die Hand und ließ sich dann mit Würde in einen Lehnsessel nieder. Während des Soupers hörte man fast jedesmal im Vorzimmer Ledergaloschen poltern und eine samtweiche Stimme sprechen: »Ich begrüße dich, Großmogul!«

Bald darauf beugte sich über den Stuhl der Hausfrau das glatt rasierte Gesicht mit herabhängenden, kiemengleichen Backen des ersten Liebhabers und Räsonneurs. »Katjuscha,« sagte er jedesmal, »von heute an gelobe ich, nicht mehr zu trinken. Mein Ehrenwort!«

Die Hauptperson bei diesen Soupers war für Dascha stets ihre Schwester. Dascha empörte sich über alle, die gegen die liebe, gute und treuherzige Jekaterina Dmitrijewna nicht aufmerksam genug waren; aber auf diejenigen, die schon allzu aufmerksam waren, war sie eifersüchtig und sah die Schuldigen mit bösen Augen an.

Allmählich fand sie sich in dieser für einen Neuling verwirrenden Menge von Personen zurecht. Die Rechtsanwaltsgehilfen verachtete sie jetzt: diese hatten außer ihren Abendanzügen aus rauhem Tuch, den lila Kravatten und durchgezogenen Scheiteln keinerlei wesentliche seelische Eigenschaften. Den ersten Liebhaber und Räsoneur haßte sie: er hatte nicht das Recht, ihre Schwester »Katja« und den Großmogul »Großmogul« zu nennen, und auch gar keinen Grund, ein Glas Schnaps nach dem andern hinunterstürzend mit einem Auge auf Dascha zu schielen und dabei zu sagen: »Auf das Wohl der Mandelblüte!«

Dascha erstickte jedesmal fast vor Wut.

Sie hatte allerdings rote Backen, und diese verdammte Mandelblütenfarbe ließ sich durch nichts vertreiben. Dascha fühlte sich bei Tisch als eine Art roh bemalte Holzpuppe.

Als der Sommer kam, fuhr Dascha nicht zu ihrem Vater in das staubige und heiße Ssamara, sondern willigte mit Freuden ein, bei ihrer Schwester auf dem Strande von Ssestorjezk zu bleiben. Hier gab es dieselben Menschen wie im Winter, aber man traf sich öfter, fuhr Boot, badete, aß im Fichtenwalde Gefrorenes, hörte Abends Musik und soupierte mit großem Lärm auf der Veranda des Kurhauses, unter den Sternen.

Jekaterina Dmitrijewna ließ Dascha ein weißes Kleid mit Plattstichstickerei machen, kaufte ihr einen großen Hut aus rosa Tüll mit schwarzem Band und einen breiten seidenen Gürtel mit einer großen Schleife im Rücken, und in Dascha verliebte sich so unerwartet, als gingen ihm plötzlich die Augen auf, der Gehilfe ihres Schwagers, Kulitschok.

Er gehörte aber zu den »Verachteten«. Dascha empörte sich, bestellte ihn in den Wald und sagte ihm dort, ohne ihn zu Worte kommen zu lassen (er wischte sich nur fortwährend mit dem zusammengeballten Taschentuch das Gesicht), sie werde es nicht dulden, daß er sie wie irgendein »Weibchen« ansehe, sie sei empört und beleidigt, halte ihn für einen Menschen mit perverser Phantasie und werde sich heute noch bei ihrem Schwager beschweren.

Sie beschwerte sich beim Schwager noch am gleichen Abend. Nikolai Iwanowitsch hörte sie, seinen gepflegten Bart streichelnd, bis zu Ende an, sah erstaunt auf ihre vor Empörung mandelblütenroten Wangen, auf ihren vor Wut zitternden großen Hut, auf ihre ganze schlanke, weiße Figur, setzte sich dann in den Sand dicht am Wasser und fing zu lachen an; er zog das Tuch aus der Tasche, trocknete sich die Augen und sagte: »Geh, Dascha, geh, sonst sterbe ich!«

Dascha ging, ohne etwas zu verstehen, verwirrt und gekränkt. Kulitschok wagte nicht mehr, sie auch nur anzusehen, suchte die Einsamkeit und magerte ab. Daschas Ehre war gerettet. Aber diese ganze Geschichte hatte ganz unerwartet die in ihr keusch schlummernden Gefühle aufgerüttelt. Das feine Gleichgewicht war gestört, als entstünde in Daschas ganzem Körper, von den Haaren bis zu den Fersen ein zweiter, schwüler, schwärmerischer, formloser und ekelhafter Mensch. Dascha fühlte ihn schmerzvoll mit ihrer ganzen Haut als etwas Unsauberes; sie wollte dieses unsichtbare Spinngewebe von sich abwaschen und wieder frisch, kühl und leicht werden.

Nun spielte sie stundenlang Tennis, badete zweimal im Tage und stand früh des Morgens auf, wenn auf den Blättern noch die großen Tautropfen glühten, vom spiegelglatten lila Meer ein Dampf aufstieg und man auf der leeren Veranda die feuchten Tische aufstellte und die sandigen Gartenwege kehrte.

Aber von der Sonne, oder nachts im weichen Bette erwärmt, wurde jener andere Mensch wieder lebendig; er schlich sich leise an ihr Herz heran und drückte es mit seiner weichen Pfote zusammen. Er ließ sich, wie das Blut vom verzauberten Schlüssel des Ritters Blaubart, weder abreißen, noch abwaschen.

Alle Bekannten und vor allem die Schwester fanden, daß Dascha in diesem Sommer sehr hübsch geworden sei und von Tag zu Tag noch hübscher werde. Jekaterina Dmitrijewna kam einmal des Morgens zu ihr ins Zimmer und sagte: »Was wird aus uns noch werden?«

»Was meinst du, Katja?«

Dascha saß im bloßen Hemd auf dem Bettrande und band ihr aschblondes Haar zu einem großen Knoten.

»Du wirst gar zu hübsch. Es ist mir sogar schrecklich zu denken, was aus dir noch werden wird.«

Dascha blickte ihre Schwester mit strengen, stechenden Augen an und wandte sich weg. Ihre Wangen und Ohren wurden rot. »Katja, ich will nicht, daß du so zu mir sprichst, es ist mir ekelhaft, verstehst du?«

Jekaterina Dmitrijewna setzte sich auf das Bett, schmiegte ihre Wange an Daschas bloßen Rücken, küßte sie zwischen die Schulterblätter und lachte. »So stachlig wie ein Igel, so bös wie eine Wildkatze!«

Eines Tages erschien auf dem Tennisplatze ein Engländer, – hager, glattrasiert, mit hervorstehendem Kinn und kindlichen Augen. Er war so tadellos gekleidet, daß einige junge Leute aus Jekaterina Dmitrijewnas Gefolge sogar trübsinnig wurden. Er schlug Dascha vor, eine Partie zu spielen, und spielte wie eine Maschine. Dascha schien es, als hätte er sie während der ganzen Partie kein einziges Mal angesehen, – er sah an ihr immer vorbei. Sie verlor und schlug eine zweite Partie vor. Um es bequemer zu haben, krempelte sie die Ärmel ihrer weißen Bluse hinauf. Unter ihrem Piquéhütchen fiel eine Haarsträhne heraus, sie brachte sie aber nicht in Ordnung. Indem sie einen Ball dicht über dem Netz kräftig zurückschlug, dachte sie sich: Ein gewandtes russisches junges Mädchen mit einer unfaßbaren Grazie in allen Bewegungen, die roten Backen stehen ihr gut zu Gesicht...–

Der Engländer gewann auch diesmal; er verbeugte sich, setzte seinen steifen Strohhut auf, – seine Haut war vollkommen trocken, – zündete sich eine parfümierte Zigarette an, nahm etwas abseits Platz und ließ sich eine Limonade geben.

Als Dascha die dritte Partie mit dem berühmten Gymnasiasten spielte, schielte sie einige Male nach dem Engländer hinüber, – er saß vor seinem Tischchen, hielt den einen Fuß im Seidenstrumpf, den er auf das andere Knie gelegt hatte, mit der Hand umfaßt, hatte den Strohhut in den Nacken geschoben und blickte unverwandt auf das Meer.

Nachts im Bette erinnerte sich Dascha aller dieser Erlebnisse und sah sich ganz deutlich mit rotem Gesicht und flatternder Haarsträhne auf dem Tennisplatze herumhüpfen; sie weinte vor Scham, vor Kränkung und vor noch etwas, was mächtiger war als sie selbst.

Von diesem Tage an ging sie nicht mehr zum Tennis. Jekaterina Dmitrijewna sagte ihr einmal: »Dascha, Mister Biles erkundigt sich nach dir jeden Tag; warum spielst du nicht mehr?«

Dascha öffnete den Mund, – so erschrocken war sie. Dann sagte sie empört, sie wolle keine »dummen Klatschgeschichten« anhören, sie kenne keinen Mister Biles und wolle ihn auch nicht kennen und es sei überhaupt eine Frechheit von ihm, wenn er sich einbilde, daß sie seinetwegen »dieses blöde Tennis« aufgegeben habe. Dascha verzichtete auf das Mittagessen, steckte sich ein Stück Brot und eine Handvoll Stachelbeeren in die Tasche und ging in den Wald. Hier, in dem nach heißem Harz duftenden Fichtenwalde, zwischen den hohen, roten Stämmen mit den rauschenden Wipfeln irrend, kam sie zum Ergebnis, daß die unglückselige Wahrheit sich nicht mehr verbergen lasse: sie sei in den Engländer verliebt, sie sei unglücklich und lebensmüde.

So wuchs in Dascha allmählich jener andere Mensch und hob den Kopf. Anfangs war seine Gegenwart ekelhaft wie Schmutz und schmerzhaft wie Zerstörung. Dann aber gewöhnte sich Dascha an diesen komplizierten Zustand, so wie man sich nach dem Sommer, nach dem frischen Wind und dem kühlen Wasser an das Korsett und an das Tuchkleid gewöhnt.

Zwei Wochen währte diese selbstsüchtige, verbissene Verliebtheit in den Engländer. Dascha haßte sich selbst und entrüstete sich über diesen Menschen. Einige Male sah sie ihn von weitem, wie er träge doch geschickt Tennis spielte oder mit russischen Seeoffizieren soupierte und sagte sich verzweifelt, er sei der bezauberndste Mensch auf der Welt.

Dann aber erschien an seiner Seite ein hageres, langes englisches junges Mädchen im weißen Flanell, – seine Braut, und sie dampften zusammen ab. Dascha konnte die ganze Nacht nicht einschlafen, faßte einen wütenden Haß gegen sich selbst und sagte sich des Morgens, dies solle die letzte Verirrung ihres Lebens sein.

Damit beruhigte sie sich und staunte später selbst darüber, daß alles so schnell und schmerzlos vergangen war. Es war aber gar nicht alles vergangen: Dascha fühlte jetzt, wie er, jener andere Mensch, sich in ihr gleichsam aufgelöst hatte und verschwunden war, daß sie selbst eine ganz andere geworden war: zwar noch ebenso leicht und frisch wie früher, dabei aber gleichsam weicher, zarter, unverständlicher; auch ihre Haut schien feiner geworden, sie erkannte ihr Gesicht nicht mehr im Spiegel; ganz besonders hatten sich die Augen verändert, – wunderbare Augen, vor denen einem schwindelte.

Mitte August zogen die Smokownikows mit Dascha wieder nach Petersburg in ihre große Wohnung in der Snamenskaja-Straße. Wieder begannen die Dienstage, die Kunstausstellungen, die aufsehenerregenden Theaterpremiéren, die Skandalprozesse, die Bilderkäufe, die Begeisterung für alten Hausrat und die im Etablissement »Samarkand« durchwachten Nächte. Wieder erschien der erste Liebhaber und Räsoneur, der im Bade dreiundzwanzig Pfund abgenommen hatte, und zu allen diesen aufregenden Vergnügungen gesellten sich unbestimmte, beunruhigende und freudige Gerüchte über irgendwelche bevorstehende Veränderungen.

Dascha hatte jetzt keine Zeit, viel nachzudenken und zu fühlen: des Morgens hatte sie ihre Vorlesungen, um vier mußte sie mit der Schwester in die Stadt, abends gab es entweder Theater, oder ein Konzert, oder Gesellschaft, – sie hatte keine Minute Ruhe.

An einem der Dienstage, nach dem Souper, als man schon bei den Likören angelangt war, trat in den Salon Alexej Alexejewitsch Bessonow. Als Jekaterina Dmitrijewna ihn in der Tür erblickte, wurde sie über und über rot. Die allgemeine Unterhaltung stockte. Bessonow setzte sich aufs Sofa und empfing aus den Händen Jekaterina Dmitrijewnas eine Tasse Kaffee. Zwei Rechtsanwälte, große Literaturkenner, setzten sich zu ihm heran, aber er richtete auf die Dame des Hauses einen langen, sonderbaren Blick und sagte ganz unerwartet: es gebe überhaupt keine Kunst; alles sei nur Schwindel und Charlatanerie, Kunststücke, wie die Fakire sie zeigen, die einen Affen an einem Strick in den Himmel steigen lassen. »Es gibt keine Poesie. Alles ist längst tot, – die Menschen und die Kunst. Rußland ist ein Aas, von Raben umschwärmt. Aber die, die noch Verse schreiben, kommen alle in die Hölle.«

Er sprach mit leiser, dumpfer Stimme. Auf seinem bösen, blassen Gesicht zeichneten sich zwei rosa Flecken. Sein weicher Hemdkragen war zerdrückt, der Rock voller Zigarettenasche. Aus der kleinen Tasse, die er in der Hand hielt, lief der Kaffee auf den Teppich hinab.

Die Literaturkenner versuchten ihm zu widersprechen, aber er hörte ihnen nicht zu und verfolgte mit dunkel gewordenen Augen jede Bewegung Jekaterina Dmitrijewnas. Dann erhob er sich, ging auf sie zu, und Dascha hörte ihn sagen: »Ich vertrage schlecht die Gesellschaft von Menschen. Erlauben Sie, daß ich gehe.«

Sie bat ihn schüchtern, etwas vorzulesen. Er schüttelte abweisend den Kopf und drückte beim Abschied seine Lippen so lange auf Jekaterina Dmitrijewnas Hand, daß ihr Nacken rosa wurde.

Als er gegangen war, entspann sich ein Streit. Die Männer äußerten einstimmig, es gebe doch gewisse Grenzen, man dürfe die Gesellschaft nicht so offen brüskieren. Der Kritiker Tschirwa ging auf jedermann zu und sagte: »Meine Herren, er war betrunken, sternhagelvoll.« Die Damen aber meinten: »Ob Bessonow betrunken oder nur in einer eigentümlichen Stimmung war, – jedenfalls ist er ein aufregender Mensch, und das sollen sich alle merken.«

Am nächsten Tage beim Mittagessen sagte Dascha, daß Bessonow ihr als einer der »wahren« Menschen erscheine, von deren Erlebnissen, Sünden und Geschmack wie von reflektiertem Licht z.B. auch der ganze Kreis Jekaterina Dmitrijewnas lebe. »Siehst du, Katja, ich kann wohl verstehen, daß man wegen eines solchen Menschen den Kopf verliert.«

Nikolai Iwanowitsch empörte sich. »Es ist dir ganz einfach in die Nase gestiegen, daß er eine Berühmtheit ist, Dascha.« Jekaterina Dmitrijewna sagte nichts. Bei den Smokownikows zeigte sich Bessonow nicht wieder. Es ging das Gerücht, er halte sich dauernd hinter den Kulissen bei der Schauspielerin Tscharodejewa auf. Kulitschok und seine Freunde gingen einmal ins Theater, eigens um diese Tscharodejewa zu sehen, und waren enttäuscht: »mager wie eine Mumie, besteht nur aus Spitzenjupons.«

Einmal traf Dascha Bessonow in einer Kunstausstellung. Er stand am Fenster und blätterte gleichgültig im Katalog, vor ihm standen aber wie vor einem ausgestopften Tier im Panoptikum zwei stämmige Studentinnen und betrachteten ihn mit erstarrtem Lächeln. Dascha ging langsam an ihm vorbei und setzte sich erst im nächsten Saale auf einen Stuhl, – ihre Beine waren plötzlich müde geworden, und sie fühlte, sie wußte selbst nicht warum, Trauer.

Nach dieser Begegnung kaufte sich Dascha eine Photographie Bessonows und stellte sie auf ihrem Tische auf. Seine Verse, – drei schmale, weiße Bände, – wirkten auf sie anfangs wie Gift: einige Tage ging sie wie betäubt umher und hatte das Gefühl, als sei sie an einer bösen, heimlichen Tat mitbeteiligt. Als sie aber immer von neuem las, fand sie gerade in diesem schmerzhaften Gefühl eine Wonne, als raune ihr jemand zu, sie solle sich vergessen, sie solle erschlaffen, irgendetwas Kostbares verschwenden und sich in Sehnsucht nach etwas, was es nicht gibt, verzehren.

Wegen Bessonow fing sie an, die »Philosophischen Abende« zu besuchen. Er kam gewöhnlich erst sehr spät hin und beteiligte sich selten an der Diskussion, aber Dascha kehrte jedesmal in höchster Erregung heim und war froh, wenn sie zu Hause Gäste antraf. Ihre Eigenliebe regte sich nicht.

Heute mußte sie sich einsam in dem Stücke von Skrjabin zurechtfinden. Die Töne fielen langsam wie Eiskügelchen in ihre Brust, wie in die Tiefe eines dunklen, bodenlosen Sees. Sie fallen nieder und bringen die Wasserfläche in Wallung, das Wasser steigt und sinkt, und dort, in der heißen Dunkelheit klopft laut und unruhig das Herz, als müsse bald, bald, jetzt gleich, in diesem Augenblick etwas Unmögliches geschehen.

Dascha ließ die Hände in den Schoß sinken und hob den Kopf. Im milden Scheine der Lampe unter gelbrotem Schirm blickten auf sie von den Wänden die blauroten, gedunsenen Gesichter mit den gefletschten Zähnen und den glotzenden Augen, gleich Gespenstern des urgeschaffenen Chaos, die am ersten Tage der Schöpfung den Garten des Herrn umschwärmten.

»Ja, gnädiges Fräulein, schlecht stehen unsere Sachen,« sagte Dascha für sich. Sie spielte stürmisch von links nach rechts eine Tonleiter, schloß lautlos das Klavier, entnahm dem japanischen Kästchen, das auf dem Sofatische stand, eine Zigarette, rauchte sie an, bekam einen Hustenanfall und zerdrückte sie in der Aschenschale.

»Nikolai Iwanowitsch, wie spät ist es?« rief Dascha so laut, daß man es im vierten Zimmer hören mußte. Im Kabinett fiel etwas zu Boden, aber sie bekam keine Antwort. Der Großmogul erschien im Salon und meldete, in den Spiegel blickend, daß das Abendessen aufgetragen sei.

Dascha setzte sich im Eßzimmer vor die Vase und begann die welken Blumen auf dem Tischtuche zu zerpflücken. Der Großmogul brachte Tee, kalten Braten und eine Eierspeise. Endlich erschien Nikolai Iwanowitsch in seinem neuen blauen Anzug, aber ohne Kragen. Sein Haar war zerzaust, und in dem nach links gestrichenen Bart hing eine Daunenfeder aus dem Sofakissen.

Nikolai Iwanowitsch nickte Dascha mürrisch zu, setzte sich ans Ende des Tisches, rückte die Pfanne mit der Eierspeise zu sich heran und begann gierig zu essen.

Dann legte er die Ellenbogen auf den Tischrand, stützte die Wange mit der großen, behaarten Faust, richtete die Augen, die nichts zu sehen schienen, auf den Haufen der zerpflückten Blumen und sagte mit tiefer, fast unnatürlicher Stimme: »Deine Schwester hat mir gestern Nacht die Treue gebrochen.«


 << zurück weiter >>