Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XIII

Bessonow durchlebte eine tödliche, die Kinnbacken lähmende Langweile, während er tagelang auf dem Strande herumlag. Er betrachtete die Gesichter, die lachenden und sonnverbrannten weiblichen und die kupferroten und aufgeregten männlichen, und fühlte beklommen sein Herz wie ein Stück Eis in seiner Brust liegen. Er sah auf das Meer und dachte nach, daß es schon seit Jahrtausenden seine Wellen an den Strand werfe. Der Strand sei einst leer gewesen, nun sei er bevölkert, diese Menschen würden aber sterben, der Strand werde wieder veröden, das Meer aber immer gleichermaßen den Sand belecken. Während er sich das dachte, verzog er das Gesicht, sammelte die kleinen Muscheln mit dem Finger zu einem Häufchen und steckte seine erloschene Zigarette hinein. Dann ging er baden. Dann aß er träge zu Mittag. Dann ging er schlafen.

Gestern hatte sich nicht weit von ihm ein junges Mädchen in den Sand gesetzt und lange auf das Mondlicht geblickt; sie hatte schwach nach Veilchen geduftet. Durch sein erstarrtes Hirn war eine Erinnerung gezogen. Bessonow hatte sich aufgesetzt und gesagt: »Nein, mit diesem Köder fängst du mich nicht, zum Teufel, ich gehe schlafen,« und war langsam in sein Hotel gegangen.

Dascha hatte diese Begegnung große Angst gemacht. Sie hatte ja geglaubt, daß das schwüle, schlaflose Petersburger Leben für immer entschwunden und daß Bessonow, der ihre Phantasie durch Gott weiß was gereizt hatte, für immer vergessen sei.

Aber dieser eine Blick, dieser eine Moment, als er als schwarze Silhouette am Mondlicht vorbeigegangen war, ließ alles in ihr mit neuer Kraft erstehen; es waren keine verworrenen und unklaren Empfindungen mehr, sondern ganz bestimmte Gelüste, heiß wie die Mittagsglut: sie lechzte danach, diesen Menschen zu fühlen. Weder zu lieben, noch sich zu quälen, noch an ihn zu denken, sondern nichts andres als ihn zu fühlen.

Während sie im mondlichtdurchfluteten weißen Zimmer am Fenster saß, mußte sie immer wieder mit schwacher Stimme vor sich hinsagen: »Ach, mein Gott, mein Gott, was ist denn das? ...«

Dascha ging um sieben Uhr früh zum Strand, entkleidete sich, trat bis an die Knie ins Wasser und blieb entzückt stehen. Das Meer war wie verblichen, blaßblau und nur hie und da in der Ferne gekräuselt. Man konnte den Grund sehen, und das Wasser stieg langsam über die Knie und sank dann wieder tiefer. Dascha streckte die Arme aus, ließ sich in diese himmlische Kühle fallen und schwamm. Dann hüllte sie sich, erfrischt und ganz salzig, in den rauhen Bademantel und legte sich auf den schon warmen Sand.

Ich liebe Iwan Iljitsch allein, dachte sie, indem sie die Wange an den rosigen, frisch duftenden Ellenbogen drückte, – ich liebe, ich liebe Iwan Iljitsch. Mit ihm ist es so frisch, rein und freudig. Gott sei Dank, daß ich Iwan Iljitsch liebe. Ich werde ihn heiraten ...

Sie schloß die Augen, schlief ein und fühlte, wie das Wasser im gleichen Takt mit ihr atmete.

Dieser Schlaf war süß. Sie spürte die ganze Zeit, wie leicht und warm ihr Körper im Sande lag. Und sie empfand im Schlafe eine eigentümliche, erregte Verliebtheit in sich selbst.

Gegen Abend, als die Sonne wie eine abgeplattete Kugel in den orangegelben wolkenlosen Feuerbrand sank, stieß Dascha auf Bessonow; er saß auf einem Stein am Fußpfade, der sich durch ein flaches Wermutfeld schlängelte. Dascha hatte sich beim Spazierengehen dahin verirrt; als sie Bessonow erblickte, wollte sie schon umkehren und davonlaufen, aber die Leichtigkeit von vorher war verschwunden, die Füße waren schwer geworden und wie angewurzelt, und sie sah mit gerunzelter Stirn, wie er, über diese Begegnung kaum erstaunt, auf sie zuging, den Strohhut zog und bescheiden wie ein Mönch den Kopf neigte.

»Ich habe mich also gestern nicht getäuscht, Darja Dmitrijewna, – das waren Sie am Strande?«

»Ja, ich ...«

Er schwieg eine Weile mit gesenkten Augen und blickte dann an Dascha vorbei in die Tiefe der schon dunkelnden Steppe.

»Auf diesem Felde fühlt man sich beim Sonnenuntergang wie in der Wüste. Nur selten kommt jemand her. Ringsum Wermut und Steine, und in der Dämmerung habe ich das Gefühl, als sei niemand mehr auf der Erde geblieben, als sei ich allein.«

Bessonow lachte und zeigte langsam seine weißen Zähne. Dascha sah ihn wie ein Vöglein an. Dann ging sie neben ihm den Pfad entlang. Zu beiden Seiten und auf dem ganzen Felde wuchsen niedere, bitter duftende Wermutstauden; eine jede warf im Mondlichte auf die trockene Erde einen noch blassen Schatten, über ihren Köpfen flatterten, sich deutlich vom Abendrotstreifen abhebend, unruhig und zitternd zwei Fledermäuse.

»Versuchungen, Versuchungen, man kann sich vor ihnen nirgends verbergen,« sagte Bessonow, »sie ziehen uns hinein, verlocken, und man läßt sich von ihnen wieder täuschen. Schauen Sie nur, wie geschickt es eingerichtet ist.« Er zeigte mit dem Stock auf den niedrig hängenden Mond: »Er wird die ganze Nacht seine Netze weben, der Fußpfad wird sich als Bach verstellen, jeder Busch wird so tun, als sei er bewohnt, selbst die Leiche wird schön und das Frauengesicht geheimnisvoll erscheinen. Vielleicht muß es aber auch wirklich so sein: die ganze Weisheit ist in diesem Betrug. ... Wie glücklich sind Sie doch, Darja Dmitrijewna, wie glücklich. ...«

»Warum soll es ein Betrug sein? Mir scheint, es ist gar kein Betrug. Es ist ganz einfach Mondschein,« erwiderte Dascha trotzig.

»Gewiß, Darja Dmitrijewna, gewiß ... ›Seid wie die Kinder.‹ Der Betrug liegt darin, daß ich an dies alles nicht glaube. Aber: ›seid wie die Schlangen.‹ Wie soll man beides vereinen? Was braucht man dazu? ... Man sagt, die Liebe könne alles vereinen. ... Was denken Sie darüber?«

»Ich weiß nicht, ich denke mir gar nichts.«

»Aus welchen Weltenräumen mag sie kommen? Wie kann man sie einfangen? Mit welchem Worte beschwören? Sich in den Staub legen und rufen: ›Herr, schicke die Liebe über mich! ...‹«

»Ich gehe nicht weiter,« erklärte Dascha, »ich will zum Meer.«

Sie kehrten um und gingen durch den Wermut zu einer sandigen Anhöhe. Bessonow sagte ganz unerwartet weich und vorsichtig: »Ich erinnere mich noch an jedes Wort, das Sie damals bei mir in Petersburg gesprochen haben. Ich habe Sie verscheucht.«

Dascha schwieg, sah vor sich hin und ging sehr schnell.

»Ich hatte aber immer aus irgendeinem Grunde das Gefühl, daß wir unser Gespräch nicht fortsetzen würden, Darja Dmitrijewna. Ich erinnere mich, eine Empfindung hat mich damals ganz besonders erschüttert. ... Es war nicht Ihre eigentümliche Schönheit, nein ... Mich erschütterte die unbeschreibliche Musik Ihrer Stimme, die mein ganzes Wesen durchdrang. Einmal, es ist schon lange her, hörte ich in einem Konzert eine Symphonie, ich weiß nicht mehr, welche. Zwischen allen Tönen erklang ein Ton: ein Horn sang so rein und traurig; es schien mir, man müßte es an allen Enden der Welt hören, – so wird die Stimme des Erzengels in der letzten Stunde sein.«

»Gott weiß, was Sie da reden!« rief Dascha und blieb stehen; sie sah ihn an und ging wieder weiter.

»Eine schrecklichere Versuchung habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehabt. Ich sah Sie damals an und dachte mir: ›dieser Ort ist heilig.‹ Hier ist meine Rettung: mein Herz Ihnen herzugeben, arm und demütig zu werden, in Ihrem Lichte zu zerschmelzen. ... Vielleicht aber auch Ihr Herz zu nehmen? Unendlich reich zu werden? ... Überlegen Sie es sich, Darja Dmitrijewna; Sie sind gekommen, und ich muß das Rätsel raten.«

Dascha ließ ihn zurück und eilte die sandige Düne hinauf. Eine breite, schuppig schillernde Mondstraße lag auf der schweren Masse des Wassers und brach am Rande des Meeres in einem langen, klaren Streifen ab, und dort, über diesem Lichte war ein dunkles Leuchten. Dascha hatte solches Herzklopfen, daß sie die Augen schließen mußte. – Gott, errette mich vor ihm! dachte sie bei sich. Bessonow stieß seinen Stock einigemal in den Sand.

»Sie müssen sich entschließen, Darja Dmitrijewna. ... Jemand muß in diesem Feuer verbrennen ... Ob Sie... Ob ich... Denken Sie nach und antworten Sie mir ...«

»Ich verstehe nicht«, sagte Dascha kurz.

»Wenn Sie arm geworden, verwüstet und verbrannt sind, dann erst wird für Sie das wahre Leben beginnen, Darja Dmitrijewna ... Ohne dieses Mondlicht, ohne diese Versuchung, die einen Dreier wert ist. Es wird ein schreckliches Leben sein, voller Weisheit. Und das Gefühl einer unermeßlichen Größe: der Stolz. Und dazu brauchen Sie nur Ihr Kinderkleidchen von sich zu werfen ...«

Bessonow ergriff mit seiner eisigen Hand die ihre und blickte ihr in die Augen. Dascha hatte nur die Kraft, langsam die Augen zu schließen. Nach einem langen Schweigen sagte er: »Wollen wir lieber nach Hause gehen, schlafen ... Wir haben uns ausgesprochen, die Frage von allen Seiten erörtert, es ist auch schon spät ...«

* * *

Er begleitete Dascha vor ihr Hotel, nahm von ihr höflich Abschied, schob den Hut in den Nacken und ging dicht am Wasser weiter, wo er die verschwommenen Silhouetten der Spaziergänger musterte. Plötzlich blieb er stehen, kehrte um und ging auf eine hochgewachsene Frau zu, die in einen weißseidenen Schal gehüllt, unbeweglich dastand. Bessonow legte seinen Stock über die Schultern, ergriff beide Enden mit den Händen und sagte: »Nina, guten Abend.«

»Guten Abend.«

»Was machst du allein am Strande?«

»Ich stehe da.«

»Warum bist du allein?«

»Weil ich allein bin,« antwortete die Tscharodejewa leise, mit böser Stimme.

»Bist du mir denn noch immer böse?«

»Nein, mein Lieber, ich habe mich schon längst beruhigt. Rege du dich nur meinetwegen nicht auf.«

»Nina, komm zu mir.«

Sie warf den Kopf zurück, schwieg eine lange Weile und entgegnete dann unsicher und dumpf: »Du bist wohl verrückt?«

»Hast du es denn noch nicht gewußt?«

Er nahm sie am Arm, aber sie befreite sich von ihm und ging langsam an seiner Seite längs der Mondlichtreflexe, die, über das ölig-schwarze Wasser gleitend, ihren Schritten folgten.

Am nächsten Morgen klopfte Nikolai Iwanowitsch vorsichtig an Daschas Tür. »Dascha, steh auf, Kind, wir wollen Kaffee trinken.«

Dascha ließ die Beine vom Bett hinunter und sah auf die Strümpfe und Schuhe, die sie gestern ausgezogen hatte, – alles war mit grauem Staub bedeckt. Etwas war geschehen. Oder hat sie wieder jenen ekelhaften Traum gehabt? Nein, nein, es war etwas viel Schlimmeres und kein Traum. Dascha zog sich in aller Eile an und lief zum Baden.

Aber das Wasser ermüdete sie, und die Sonne erhitzte ihr Blut. Im rauhen Bademantel sitzend, die bloßen Knie umschlingend, dachte sie sich, daß sie hier nichts Gutes zu erwarten habe: Ich bin dumm, feig und faul. Habe eine überhitzte Phantasie. Ich weiß selbst nicht, was ich will. Am Morgen ist es das eine, und am Abend etwas anderes. Es ist gerade der Typus, den ich so hasse. – Dascha blickte mit gesenktem Kopf aufs Meer, und es kamen ihr sogar Tränen in die Augen, so trüb und traurig war ihr zumute. Als ob es etwas Kostbares wäre, was ich so hüte. Wer braucht es? – kein Mensch in der Welt. Ich liebe niemand mit wahrer Liebe und hasse mich selbst. Also hat er wohl recht: es ist schon besser, alles ins Feuer zu werfen, zu verbrennen und nüchtern zu werden. Er hat mich gerufen ... Heute abend zu ihm gehen und ... Ach, nein! ... –

Dascha ließ das Gesicht auf die Knie sinken, so heiß war es geworden. Und es war ihr klar, daß sie dieses Doppelleben nicht weiter fortführen durfte. Endlich mußte ja die Erlösung von der auf die Dauer nicht mehr erträglichen Jungfräulichkeit kommen. Oder lieber sollte schon ein Malheur geschehen.

Sie saß trübsinnig da und überlegte sich: Nehmen wir an, daß ich von hier fortgehe. Zum Vater. In den Staub. Zu den Fliegen. Ich warte bis zum Herbst. Dann beginnen die Vorlesungen. Ich werde zwölf Stunden am Tage arbeiten. Ich werde austrocknen, ein Scheusal werden. Werde das Völkerrecht auswendig lernen. Werde Barchentröcke tragen. Die allgemein geachtete Juristin Fräulein Bulawina werden. Dieser Ausweg ist natürlich durchaus respektabel. ... Ach, mein Gott, mein Gott! ... –

Dascha schüttelte den Sand ab, der an ihrer Haut klebte, und ging ins Haus. Nikolai Iwanowitsch lag in einem seidenen Pyjama auf der Veranda und las einen von der Zensur verbotenen Roman von Anatole France. Dascha setzte sich zu ihm auf die Armlehne des Schaukelstuhles, wippte mit dem Pantöffelchen und sagte nachdenklich: »Wir wollten doch über Katja sprechen.«

»Ja, gewiß.«

»Siehst du, Nikolai, das Frauenleben ist überhaupt sehr schwierig. Mit neunzehn Jahren weiß unsereins nicht, was mit sich anzufangen.«

»In deinen! Alter, Dascha, muß man das Leben in vollen Zügen genießen, ohne zu grübeln. Wenn du zu viel grübelst, bleibst du einfach sitzen. Ich muß dich immer anschauen: du bist so furchtbar hübsch!«

»Ich habs ja gewußt, Nikolai, daß es keinen Zweck hat, mit dir zu sprechen. Du sprichst niemals zur Sache und bist außerdem taktlos. Darum ist auch Katja von dir gegangen.«

Nikolai Iwanowitsch fing zu lachen an, legte sich den Roman von Anatole France auf den Bauch und verschränkte die dicken Hände im Nacken.

»Wenn die Regenzeit beginnt, wird das Vöglein von selbst nach Hause zurückkehren. Weißt du noch, wie sie sich die Federchen zu putzen pflegte? ... Ich habe Katjuscha trotz allem sehr lieb. Nun, wir haben beide gesündigt und sind quitt.«

»Ach, so sprichst du auf einmal! Ich hätte aber an Katjas Stelle genau so gehandelt ...«

»Oho! Du hast wohl was Neues? ...«

»Ja, was Neues. ... In der Tat,« sagte Dascha mit einem Blick voll Haß, »unsereins liebt, quält sich, kann keinen Platz finden, ›er‹ aber ist sehr zufrieden und seiner selbst sicher ...«

Sie trat an das Geländer der Veranda, aufgebracht gegen Nikolai Iwanowitsch oder gegen jemand anderen.

»Wenn du älter geworden bist, so wirst du selbst sehen, daß es schädlich und unklug ist, die Kümmernisse des Lebens allzu ernst zu nehmen,« sagte Nikolai Iwanowitsch. »Das habt ihr Bulawins alle im Blute, diese Sucht alles kompliziert zu machen ... Man muß einfacher sein, einfacher und der Natur näher ...« Er seufzte auf, verstummte und begann seine Fingernägel zu betrachten. Ein verschwitzter Gymnasiast sprang vor der Veranda vom Fahrrad: er hatte aus der Stadt die Post gebracht.

»Ich will als Lehrerin aufs Land gehen«, sagte Dascha düster. Nikolai Iwanowitsch fragte sofort: »Wohin?«

Sie gab ihm keine Antwort und ging auf ihr Zimmer. Die Post bestand aus zwei Briefen an Dascha: der eine war von Katja, der andere vom Vater.

Dmitrij Stepanowitsch schrieb: »... Ich schicke dir den Brief Katjas. Ich habe ihn gelesen, und er hat mir gar nicht gefallen. Tut aber, was ihr wollt. ... Bei uns ist alles beim alten. Es ist sehr heiß. Außerdem wurde Ssemjon Ssemjonowitsch Gowjadin gestern im Stadtgarten von den Senfpflastern überfallen und verprügelt; weshalb, will er nicht sagen. Sonst gibt es nichts Neues. Außerdem ist für dich eine Postkarte von einem gewissen Teljegin gekommen, aber ich habe sie verlegt. Mir scheint, er ist auch in der Krim, oder auch wo anders. ...«

Dascha las diese letzten Zeilen noch einmal aufmerksam durch, und ihr Herz begann unerwartet heftig zu klopfen. Dann stampfte sie vor Ärger sogar mit dem Fuß. Angenehm zu hören: »in der Krim oder auch wo anders. ...« Der Vater ist in der Tat ein unmöglicher, unordentlicher Mensch und großer Egoist. Sie ballte den Brief zusammen und saß lange am Schreibtisch, das Kinn in die Hand gestützt. Dann las sie den Brief Katjas:

»Erinnerst du dich noch, Dascha, ich schrieb dir über den Menschen, der mich überall verfolgt. Gestern abends im Jardin du Luxembourg setzte er sich zu mir. Ich bekam anfangs Angst, blieb aber sitzen. Da sagte er zu mir: ›Ich habe Sie verfolgt, ich kenne Ihren Namen und weiß, wer Sie sind. Ein großes Unglück stieß mir zu: ich gewann Sie lieb.‹ Ich sah ihn an: er saß so ernst wie in der Kirche, das Gesicht war so streng, dunkel und eingefallen. ›Sie dürfen mich nicht fürchten. Ich bin ein Greis und einsam. Ich habe einen schweren Herzfehler und kann jeden Augenblick sterben. Und dazu noch dieses Unglück.‹ Eine Träne lief über seine Wange. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: ›Wie lieb ist doch Ihr Gesicht!‹ Ich erwiderte: ›Verfolgen Sie mich nicht mehr.‹ Ich wollte weggehen, aber er tat mir leid, und ich blieb sitzen und sprach mit ihm. Er hörte mir mit geschlossenen Augen zu und schüttelte den Kopf. Denk dir nur, Dascha: heute bekomme ich einen Brief von irgendeiner Frau, ich glaube der Hausmeisterin des Hauses, in dem er wohnt ... Sie teilt mir ›in seinem Auftrage‹ mit, daß er in der Nacht gestorben ist – Ach, es ist so schrecklich – Soeben trat ich ans Fenster, draußen auf der Straße leuchten Tausende von Flammen, Equipagen rollen vorbei, Menschen gehen zwischen den Bäumen. Es hat geregnet und ist jetzt neblig. Und es ist mir, als sei dies alles schon gewesen, als sei alles gestorben, als seien diese Menschen tot, als sehe ich nur das, was schon zu Ende ist, könne aber das, was jetzt vorgeht, wo ich am Fenster stehe und hinausschaue, nicht sehen, und wisse nur, daß alles zu Ende ist. Da ging eben ein Mann vorbei; er wandte sich um und blickte zu meinem Fenster hinauf, und es ist mir klar, daß er sich nicht jetzt umgewandt und hinaufgeblickt hat, sondern einmal vor langer Zeit. ... Es geht mir wahrlich sehr schlecht. Manchmal liege ich und weine, – ich weine um mein Leben, daß es so schnell vergangen ist. Ich habe doch irgendein Glück gekannt und liebe Menschen gehabt, und davon ist keine Spur geblieben ... Mein Herz ist ganz ausgetrocknet. Ich weiß, Dascha, daß mir noch ein großer Kummer bevorsteht, eine Vergeltung dafür, daß wir alle so schlecht gelebt haben. Dascha, Dascha, möge Gott dir Glück schenken ...«

Dascha zeigte diesen Brief Nikolai Iwanowitsch. Als er ihn gelesen, fing er zu seufzen an und sagte dann, daß er sich vor Katja immer schuldig gefühlt habe: »Ich sah, daß wir schlecht lebten und daß diese ewigen Vergnügungen einmal mit einem Ausbruch von Verzweiflung enden würden. Was konnte ich aber dagegen machen, wenn mein Lebenszweck und der Lebenszweck Katjas und aller Menschen, die uns umgaben, nur im Vergnügen bestand?... Hier schaue ich manchmal aufs Meer und denke mir: es gibt ein Rußland, das den Boden pflügt, sein Vieh weidet, Kohle gewinnt, webt, schmiedet und baut, und es gibt Menschen, die es zwingen, dies alles zu tun; wir aber, die dritten, die geistige Aristokratie des Landes, die Intellektuellen, – wir haben nicht die geringste Berührung mit diesem Rußland. Wir werden von ihm nur ausgehalten. Wir sind Schmetterlinge. Das ist eine Tragödie. Wenn ich z.B. versuche, Gemüsebau zu treiben oder eine Fabrik zu gründen, so wird dabei nichts herauskommen. Ich bin verurteilt, bis an das Ende meiner Tage, als Schmetterling zu flattern. Wir schreiben allerdings Bücher, halten Reden und machen Politik, aber dies alles gehört zu unserem Zeitvertreib, selbst dann, wenn uns das Gewissen plagt. Bei Katjuscha endeten diese ewigen Vergnügungen mit einer geistigen Verödung. Anders konnte es gar nicht kommen ... Ach, wenn du wüßtest, was für eine reizende, zarte und feinfühlende Frau sie war!... Ich habe sie in den Schmutz gezogen und verwüstet. ... Ja, du hast recht, ich muß zu ihr fahren ...«

* * *

Sie beschlossen, daß sie beide nach Paris fahren wollten, sobald die Auslandspässe fertig wären. Nikolai Iwanowitsch ging nach dem Essen in die Stadt, Dascha aber versuchte ihren großen Strohhut für die Reise umzuarbeiten; sie verdarb ihn indes nur, geriet in Verzweiflung und schenkte ihn dem Dienstmädchen. Dann schrieb sie einen Brief an den Vater und legte sich in der Abenddämmerung aufs Bett – eine solche Müdigkeit hatte sie plötzlich ergriffen –, sie schob beide Hände unter die Wange und hörte das Brausen des Meeres immer ferner, immer angenehmer.

Dann war es ihr, als hätte sich jemand über sie gebeugt, ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen und sie auf die Augen, Wangen und Mundwinkel geküßt, ganz leise, mit einem Hauch. Die Süße dieses Kusses ergoß sich über ihren ganzen Körper. Dascha erwachte langsam. Durch das offene Fenster blickten einzelne Sterne herein und ein Windhauch ließ den Brief auf dem Tische rascheln. Dann trat hinter der Wand eine menschliche Gestalt hervor; sie lehnte sich von außen an die Fensterbank und sah Dascha an.

Dascha erwachte nun ganz, setzte sich auf und führte die Hand an die Brust, wo das Kleid aufgeknöpft war. »Was wollen Sie?« fragte sie kaum hörbar.

Der Mensch im Fenster antwortete mit der Stimme Bessonows: »Ich habe Sie am Strande erwartet. Warum sind Sie nicht gekommen? Fürchten Sie mich?«

Dascha antwortete nach kurzem Schweigen: »Ja.«

Er stieg über das Fensterbrett, rückte den Tisch weg und trat vor das Bett.

»Ich habe eine ekelhafte Nacht verbracht, – es hat nur wenig gefehlt, und ich hätte mich erhängt. Empfinden Sie wenigstens etwas mir gegenüber?«

Dascha schüttelte den Kopf, öffnete aber die Lippen nicht.

»Hören Sie, Darja Dmitrijewna, es muß, wenn nicht heute so morgen, oder auch in einem Jahr geschehen. Ich kann ohne Sie nicht existieren. Zwingen Sie mich nicht, das menschliche Antlitz zu verlieren.« Er sprach leise und heiser und kam ganz nahe an Dascha heran. Sie seufzte plötzlich tief und kurz auf und fuhr fort, ihm ins Gesicht zu blicken. »Alles, was ich gestern sagte, war eine gemeine Lüge. ... Ich leide grausam ... Ich habe nicht die Kraft, die Erinnerung an Sie auszumerzen ... Werden Sie meine Frau ...«

Er beugte sich über Dascha, sog ihren Duft ein, schob seine Hand hinter ihren Nacken und drückte seine Lippen an die ihrigen. Dascha stemmte sich gegen seine Brust, aber ihre Arme knickten ein. Durch ihr erstarrtes Bewußtsein ging der ruhige Gedanke: Das ist es, was ich fürchtete und wollte, aber es ist wie ein Mord. ... – Sie wandte ihr Gesicht weg und hörte, wie Bessonow ihr etwas ins Ohr flüsterte; sein Atem roch nach Wein. Und Dascha kam der Gedanke: Genau so war es zwischen ihm und Katja. – Die klare Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Frösteln, sie fühlte stärker den Weingeruch, und sein Flüstern wurde noch ekelhafter.

»Lassen Sie mal,« stieß sie hervor. Sie schob Bessonow mit aller Kraft von sich, trat zur Türe und knöpfte endlich den Kragen ihres Kleides zu.

Bessonow geriet nun in Raserei: er packte Dascha bei den Händen, zog sie zu sich heran und bedeckte ihren Hals mit Küssen. Sie wehrte sich schweigend, mit zusammengepreßten Lippen. Als er sie aber auf die Arme hob und zu tragen versuchte, raunte sie hastig: »Nein, niemals, wenn Sie auch sterben ... –« Sie stieß ihn zurück, befreite sich aus seinen Armen und stellte sich an die Wand. Er ließ sich, immer noch schwer atmend, auf einen Stuhl fallen und saß unbeweglich da. Dascha rieb sich die Arme an den Stellen, wo die Spuren seiner Finger waren.

»Ich hätte nicht so übereilt handeln sollen«, sagte Bessonow.

»Sie sind mir ekelhaft«, erwiderte sie

Er drückte seine Wange an die Stuhllehne. Dascha hastig: »Nein, niemals, wenn Sie auch sterben ... –«

Sie sagte es wiederholt. Er verstand es schließlich, erhob sich vom Stuhl und stieg schwerfällig, ungeschickt aus dem Fenster. Dascha schloß den Fensterladen und fing an, im dunkeln Zimmer auf und ab zu gehen. Diese Nacht verbrachte sie schlaflos. Nikolai Iwanowitsch trat gegen Morgen barfuß an ihre Tür und fragte mit verschlafener Stimme: »Hast du Zahnweh, Dascha?«

»Nein.«

»Was war denn für ein Lärm in der Nacht?«

»Ich weißt nicht.«

»Sonderbar!« murmelte er und ging. Dascha konnte sich weder setzen, noch legen, – sie ging unaufhörlich vom Fenster zur Tür und zurück, um den gleich Zahnweh bohrenden Abscheu gegen sich selbst zu überwinden. Es war das Abscheulichste geschehen, was sich nicht einmal vorausahnen ließ, – als hätten Hunde nachts auf dem Friedhof eine Leiche zerrissen ... Und das war sie, Dascha. Hätte Bessonow sie überwältigt, so wäre es vielleicht besser gewesen. Und sie erinnerte sich unter heftigem Schmerz des weißen, sonnenlichtüberfluteten Dampfschiffs, und wie der verlassene Liebhaber im Espengehölz gegirrt, gemurmelt und gelogen hatte, daß Dascha verliebt sei.

Damit hat also alles geendet! Indem sie auf das in der Dämmerung weiß schimmernde Bett blickte auf den schrecklichen Ort, wo ein Menschengesicht sich soeben in eine Hundefratze verwandelt hatte, fühlte Dascha, daß sie mit diesem Wissen nicht länger leben könne. Sie wollte jede Qual auf sich nehmen, wenn sie sich nur vor diesem Abscheu gegen alles Lebende, gegen die Menschen, die Erde, gegen sich selbst befreien könnte ... Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und sagte nur immer: »Vater unser, der du bist im Himmel, rette mich ...« Ihr Kopf glühte, und sie hatte gleichsam das schmerzvolle Verlangen sich ein Spinngewebe vom Gesicht, vom Hals, vom ganzen Körper zu reißen.

Endlich war es in den Ritzen des Fensterladens ganz hell geworden. Im Hause gingen die Türen, eine helle Stimme rief: »Matrjoscha, bring Wasser. ...« Nikolai Iwanowitsch erwachte und putzte sich hinter der Wand die Zähne. Dascha wusch sich das Gesicht, drückte das Hütchen tief in die Stirne und ging an den Strand. Das Meer war wie Milch, der Sand feucht. Es roch nach Tang. Dascha schlug die Richtung zum Felde ein und ging die Straße entlang. Ein mit nur einem Pferde bespannter Korbwagen kam ihr langsam entgegen, die Räder ließen leichte Staubwolken aufsteigen. Auf dem Bocke saß ein Tatare, und hinter ihm ein stämmiger, ganz weiß gekleideter Mensch. Als Dascha ihn erblickte, dachte sie sich wie im Schlafe (vor Sonnenlicht und Müdigkeit fielen ihr die Lider zu): Da fährt ein guter und glücklicher Mensch, soll er von mir aus fahren und gut und glücklich sein, – und trat von der Straße ins Feld. Plötzlich rief aus dem Korbwagen eine erschrockene Stimme: »Darja Dmitrijewna!«

Jemand sprang auf die Straße und lief auf sie zu. Diese Stimme ließ Daschas Herz erbeben und in die Tiefe stürzen, ihre Beine wurden schwach. Sie wandte sich um. Es war Teljegin, sonnverbrannt, aufgeregt, blauäugig und ihr so unerwartet lieb und nahe, daß Dascha ihm sofort die Hände auf die Brust legte, sich mit dem Gesicht an ihn schmiegte und laut wie ein Kind zu weinen anfing.

Teljegin hielt sie an den Schultern fest. Als Dascha versuchte, ihm mit ihrer vom Schluchzen unterbrochenen Stimme etwas zu erklären, sagte er: »Bitte, Darja Dmitrijewna, bitte, nicht jetzt. Das ist nicht so wichtig ...«

Sein Leinenrock war an der Brust von Daschas Tränen durchnäßt. Sie fühlte sich erleichtert. »Sind Sie hergekommen, um uns zu besuchen?« fragte sie.

»Ich komme, um mich zu verabschieden, Darja Dmitrijewna ... Gestern erst habe ich erfahren, daß Sie hier sind, und nun möchte ich... Abschied nehmen ...«

»Abschied nehmen?«

»Ich werde einberufen, nichts zu machen.«

»Einberufen?«

»Haben Sie denn nichts gehört?«

»Nein.«

»Es ist Krieg, das ist die Sache.« Und er lächelte und blickte Dascha verliebt, irgendwie verändert und sicher ins Gesicht.


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