Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XVII

Ich sagte zu meinem Bruder: du bist ein fanatischer Theoretiker, ich hasse die Sozialdemokraten, ihr seid imstande einen Menschen zu foltern, wenn er sich nur in einem Worte irrt. Ich sagte ihm: du bist ein astraler Mensch. Da jagte er mich aus dem Hause. Nun bin ich in Moskau ohne einen Pfennig Geld. Es ist furchtbar amüsant. Seien Sie so gut, Darja Dmitrijewna, legen Sie bei Nikolai Iwanowitsch ein Wort für mich ein. Mir ist es ganz gleich, was für einen Posten ich bekomme, – am besten wäre es natürlich in einem Sanitätszuge.«

»Ja, ja, ich will mit ihm sprechen.«

»Hier kenne ich keinen Menschen. Erinnern Sie sich noch an unsere ›Zentrale‹? Wassilij Wenjaminowitsch Walet ist gefallen. Schade um ihn, er war außergewöhnlich begabt. Ssaposchkow ist irgendwo im Felde. Schirow hält im Kaukasus Vorträge über den Futurismus. Wo aber Iwan Iljitsch Teljegin ist, weiß ich nicht. Ich glaube, Sie haben ihn gekannt?«

Jelisaweta Kijewna und Dascha gingen langsam zwischen hohen Schneehaufen durch eine Moskauer Gasse. Es schneite. Der Schnee knirschte unter den Füßen. Ein Droschkenkutscher fuhr mit seinem niederen Schlitten langsam an ihnen vorbei; er hatte einen seiner Filzstiefel, mit einer Schneekruste überzogen, vom Bocke hängen und rief den beiden freundlich zu: »Fräuleins, Vorsicht, daß ich euch nicht überfahre!«

In diesem Winter gab es sehr viel Schnee. Schneebedeckte Lindenäste hingen tief über die Gasse herab. Der ganze weiße, schneerfüllte Himmel war voller Vögel. Die Krähen schwirrten scharenweise schreiend über der Stadt, setzten sich auf die Türme und Kirchenkuppeln und stiegen wieder in die kalte Höhe.

Dascha blieb an einer Ecke stehen und zupfte ihr weißes Kopftuch zurecht. Ihr Sealpelz und Muff waren von Schneeflocken bedeckt. Ihr Gesicht war schmächtiger, die Augen waren größer und strenger geworden.

»Iwan Iljitsch ist unter den Vermißten,« sagte sie, »ich weiß nicht, was mit ihm ist.«

Dascha hob die Augen und sah auf die Vögel. Die Krähen mußten wohl in der schneeverwehten Stadt ein Hungerleben führen. Jelisaweta Kijewna stand mit einem starren Lächeln auf ihren sehr roten Lippen, den Kopf in der Pelzmütze mit den Ohrenklappen gesenkt. Der Männermantel war ihr in der Brust zu eng, der Pelzkragen viel zu weit, und die kurzen Ärmel vermochten die roten Hände nicht zu schützen. Auf ihren gelblichen Hals fiel eine Schneeflocke und schmolz. In ihren langen Wimpern standen Tränen. Dascha nahm sie bei der Hand und sagte: »Ich will heute noch mit Nikolai Iwanowitsch sprechen. Ja?«

»Sagen Sie ihm, daß ich mit jedem Posten einverstanden bin.« Jelisaweta Kijewna blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Ich habe Iwan Iljitsch so furchtbar geliebt.« Sie lachte, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Dieses Gefühl war das Beste in mir. Ich werde also morgen kommen. Auf Wiedersehen!«

Sie nahm Abschied und entfernte sich, in ihren Filzgaloschen weit ausschreitend, die erfrorenen Hände auf Männerart in die Taschen versenkt.

Dascha blickte ihr trotzig nach, zog dann die Brauen zusammen, bog um die Ecke und trat in das kleine Palais, in dem sich jetzt ein städtisches Lazarett befand. Hier roch es in den hohen, mit Eichenholz getäfelten und mit Leder tapezierten Zimmern nach Jodoform, und auf den Betten lagen und saßen im Kriege verwundete Bauern; mit ihren kurzgeschorenen Schädeln, in den gestreiften Mänteln sahen sie wie Sträflinge aus. Zwei spielten am Fenster Dame. Einer ging in weichen Pantoffeln von Ecke zu Ecke. Als Dascha erschien, sah er sich schnell nach ihr um, runzelte die niedere Stirn, legte sich auf sein Bett und verschränkte die Hände im Nacken.

»Schwester!« rief eine schwache Stimme. Dascha ging zu einem langen Burschen mit geschwollenem Kopf und dicken Lippen. »Dreh mich, bitte, um Christi Willen, auf die linke Seite um,« bat er, indem er nach jedem Worte stöhnte. Dascha umfaßte ihn mit den Armen, hob ihn und drehte ihn um wie einen Sack. »Schwester, es ist Zeit, mich zu messen.« Dascha schüttelte das Thermometer und steckte es ihm unter die Achsel. »Ich habe immer Erbrechen, Schwester, was ich auch esse, es kommt gleich wieder heraus. Ich halte es nicht mehr aus. Wenn ich doch irgendwelche Tropfen haben könnte.«

Dascha zog über ihn die Decke und trat zur Seite. Auf den andern Betten lächelten sie, und einer sagte: »Schwester, er ist nur hier in diesem Herrschaftshause so krank, sonst ist er aber so gesund wie ein Eber.«

»Soll er nur jammern,« sagte eine andere Stimme, »er schadet doch damit niemand, – die Schwester hat eine Beschäftigung, und er das Vergnügen.«

»Schwester, Ssemjon will Sie etwas fragen, traut sich aber nicht.«

Dascha ging zu dem Bett, auf dem ein Bauer mit lustigen Augen, so rund wie bei einer Krähe, und einem kleinen Bärenmund saß; sein langer, besenförmiger Bart war sorgfältig gekämmt. Er streckte den Bart vor und sagte zu Dascha: »Schwester, sie machen nur Spaß, ich bin mit allem zufrieden und danke Ihnen schön.«

Dascha lächelte. Die Last von vorhin war ihr vom Herzen gefallen. Sie setzte sich zu Ssemjon, zog seinen Ärmel hinauf und untersuchte seinen Verband. Und er begann, um ihr ein Vergnügen zu machen, genau zu beschreiben, wo er noch Schmerzen hatte und welcher Art.

* * *

Dascha war nach Moskau im Oktober gekommen, als Nikolai Iwanowitsch aus patriotischen Motiven in die Moskauer Abteilung des Allrussischen Städteverbands eingetreten war, der für die Kriegsfürsorge und Landesverteidigung wirkte. Seine Petersburger Wohnung hatte er an Mitglieder der englischen Militärmission abgetreten und führte mit Dascha eine Art Biwakleben; er trug eine sämisch-lederne Feldbluse, schimpfte auf die rückgratlose Intelligenz und arbeitete, wie er zu sagen pflegte, wie ein Pferd. Dascha studierte Strafrecht, führte die kleine Wirtschaft und schrieb jeden Tag Iwan Iljitsch. Sie fühlte sich ruhig und geborgen. Das Vergangene schien so weit zurückzuliegen, als gehörte es einem fremden Leben an, und sie hatte keine Lust zurückzublicken, so verworren und unklar war alles darin. Und so lebte sie ein zur Hälfte gedämpftes Leben, ganz erfüllt von Unruhe, von der Erwartung von Nachrichten und von der Sorge, sich für Iwan Iljitsch in strengster Reinheit zu erhalten.

Dieser Seelenzustand dauerte jedoch nicht lange. Anfang November entfaltete Dascha eines Morgens beim Kaffee die »Rußkoje Slowo« und las im Verzeichnis der Vermißten den Namen Teljegins. Die Verlustliste füllte zwei kleingedruckte Spalten. Zuerst kamen die Gefallenen, dann die Verwundeten, dann die Vermißten, und unter diesen stand ganz zuletzt: Teljegin, Iwan Iljitsch, Fähnrich.

Dieses Ereignis, das mit einem Male ihr ganzes Leben verfinsterte, war in einer winzigen Zeile abgetan.

Dascha fühlte, wie alle diese kleinen Buchstaben, trockenen Zeilen, Spalten, Überschriften sich mit Blut füllten. Es war der Augenblick eines unbeschreiblichen Grauens, – das Zeitungsblatt hatte sich in das verwandelt, wovon es handelte: in einen übelriechenden und blutigen Brei. Es hauchte sie mit Verwesungsgeruch an und heulte mit lautlosen Stimmen.

Dascha ging in ihr Zimmer, legte sich aufs Sofa und deckte sich mit ihrem Pelzmantel zu. Sie hatte Schüttelfrost. Selbst das, was mit Iwan Iljitsch geschehen war, und ihre ganze Verzweiflung gingen in dem tierischen Grauen und Ekel unter. So lag sie mit zusammengebissenen Zähnen sehr lange, bis zur Abenddämmerung.

Nikolai Iwanowitsch kam zum Abendessen heim. Er setzte sich zu ihr aufs Sofa und streichelte ihr stumm die Füße. Nun fing sie an, leise zu weinen.

»Wart nur ab, das ist das Wichtigste, Dascha,« tröstete Nikolai Iwanowitsch. »Er wird vermißt, also ist er wohl in Gefangenschaft geraten. Ich kenne Tausende solcher Fälle.«

Nikolai Iwanowitsch speiste im Zimmer nebenan, aß wie immer sehr laut, trank viel Wasser und seufzte ab und zu tief auf. Schließlich erschien er, sich mit der Serviette den Mund wischend, in der Tür.

»Soll ich dir etwas Kompott bringen? Das Kompott ist vorzüglich.«

Dascha schüttelte den Kopf, biß ins Taschentuch, zog sich den Mantel über den Kopf und fing laut zu schluchzen an.

Nachts träumte ihr: in einem leeren, schmalen Zimmer, mit nur einem, von Spinngewebe und Staub bedeckten, trüben Fenster sitzt auf einem eisernen Bett ein unbekannter Mensch im Soldatenhemd. Sein fahles, breitknochiges Gesicht ist von Schmerz verzerrt. Er macht sich mit beiden Händen an seinem kahlen Schädel zu schaffen, schält ihn wie ein Ei, nimmt das Innere heraus, stopft es sich in den Mund und ißt. Sie schrie mitten in der Nacht so schrecklich auf, daß Nikolai Iwanowitsch, die Bettdecke über die Schultern geworfen, zu ihr ins Zimmer kam und von ihr lange nicht herausbekommen konnte, was sie hatte. Dann tropfte er in ein Weinglas etwas Baldrian, gab es Dascha und nahm auch selbst davon.

Dascha saß im Bette, schlug sich mit drei wie zu einer Prise zusammengelegten Fingern an die Brust und sprach leise voller Verzweiflung: »Weißt du, ich kann nicht länger leben. Weißt du, Nikolai, ich kann nicht, ich will nicht.«

Es war schwer, nach dem, was geschehen war, zu leben, – und so zu leben, wie Dascha bisher gelebt hatte, ganz unmöglich.

Der Krieg hatte Dascha nur mit einem Finger berührt, und schon war alles in ihr entblößt und zerfetzt. Sie konnte es weder fliehen, noch sich davor verbergen. Jetzt gingen alle diese Tode und Tränen auch sie an. Und als die ersten Tage der heftigsten Verzweiflung vorbei waren, widmete sich Dascha der einzigen Arbeit, zu der sie imstande war: sie machte einen vierwöchigen Pflegerinnenkurs durch und arbeitete im Lazarett. So fing für sie ein langer Alltag an.

Anfangs fiel es ihr sehr schwer. Von der Front kamen Verwundete, deren Verbände seit sieben und zehn Tagen nicht gewechselt worden waren; den von Eiter und Blut durchtränkten Mullbinden entströmte solcher Geruch, daß den Schwestern übel wurde. Dascha hatte während der Operationen die schwarzgewordenen Beine und Arme zu halten, von denen die an den Wunden klebende Kruste in Stücken abfiel, und sie erfuhr, wie erwachsene und starke Menschen mit den Zähnen knirschen können und wie hilflos und elend ihre Körper zitterten ...

Es gab so viel dieser Leiden, daß die Barmherzigkeit der ganzen Welt wohl nicht ausgereicht hätte, sie zu stillen. Und Dascha war es, als wäre sie nun für immer mit diesem verstümmelten, blutbefleckten Leben verbunden, und als gäbe es kein anderes Leben: das ganze Leben sei so. Das aber, wovon sie bisher gelebt hatte, – ihre selbstsüchtigen Erlebnisse und sogar ihre Treue gegen Iwan Iljitsch – sei nur ein Hirngespinst, ein Traum. Nachts brennt im Schwesternzimmer vor einem aufgeschlagenen Buche ein Lämpchen unter grünem Schirm, hinter der Wand phantasiert ein rothaariger Soldat, ein vorbeifahrendes Auto läßt die Fläschchen auf dem ungestrichenen Wandbrett erklirren, jemand schlürft in Pantoffeln durch den Korridor, und an der halbgeöffneten Türe bewegt sich das mit einem Reißnagel befestigte Papierblatt. Dieser Trübsinn ist ein Teil des wahren Lebens, der Alltag.

Während Dascha so die Nachtstunden im Sessel vor dem Tisch verbrachte, erinnerte sie sich ihrer ganzen Vergangenheit, und sie erschien ihr immer mehr als ein Traum. Sie hatte auf einer schwindelnden Höhe gelebt, von der sie die Erde nicht sehen konnte; sie hatte gelebt wie alle dort leben, in sich selbst verliebt, hochmütig und anspruchsvoll. Und nun mußte sie aus diesen durchsichtigen Wolken auf die Erde fallen, in Blut und Schmutz, in dieses Lazarett, wo es nach kranken Menschenleibern roch, – es war wie die Vergeltung für irgendeine Sünde.

Und war denn ihr Verhältnis zu Iwan Iljitsch keine Sünde? Hatte sie ihm denn für seine Liebe – Liebe geschenkt? Sie hat ihn am Meere geküßt, hat ihm Briefe geschrieben und sich an ihrer Treue gegen ihn berauscht. Und jetzt, wo sie nicht einmal weiß, ob er am Leben ist, hat sie keine Kraft mehr, sich zu verstellen. Hier im Lazarett, wo die Kranken röcheln, wo russische Soldaten sterben und sie alle zehn Minuten Morphiumeinspritzungen machen muß, wo alle Höhen vergessen sind, weiß sie, daß sie Iwan Iljitsch vielleicht noch keine Minute wirklich geliebt hat. Sich selbst liebt sie aber schon gar nicht.

* * *

Die heutige Begegnung mit Jelisaweta Kijewna hatte Dascha sehr erregt. Es war ein schwerer Tag: aus Galizien war ein Transport Schwerverwundeter angekommen; dem einen mußte die Hand, einem andern der ganze Arm amputiert werden; zwei waren bewußtlos und phantasierten. Dascha war nach all der Arbeit ganz erschöpft, und doch wollte ihr Jelisaweta Kijewna mit den roten Händen im Männermantel, mit dem unglücklichen Lächeln und den Augen voller Tränen nicht aus dem Sinn.

Dascha saß abends im Schwesternzimmer, blickte auf den grünen Lampenschirm und dachte sich: wenn sie doch auch so auf der Straße weinen und zu einem fremden Menschen sagen könnte: »Ich habe Iwan Iljitsch furchtbar geliebt!« Wenn sie es lernen könnte, sich so zu vergessen ...

Dascha pries in ihren Gedanken Jelisaweta Kijewna; dann wurde sie trübsinnig, sie rückte in ihrem großen Sessel hin und her, setzte sich bald seitwärts, zog bald die Beine hinauf und schlug das vor ihr liegende Buch auf: den »Bericht über die Tätigkeit des Allrussischen Städteverbandes« für die letzten drei Monate, es waren ganze Spalten von Zahlen und unverständlichen Worten wie Transito, Bilanz; sie fand im Buche keinen Trost, seufzte auf, legte es weg und ging in den Krankensaal.

Die Kranken schliefen, die Luft war stickig. Unter der eichenen Zimmerdecke brannte im eisernen Reifen des großen Lüsters ein einzelnes mattes Lämpchen. Ein junger tatarischer Soldat mit amputiertem Arm warf seinen rasierten Kopf hin und her und phantasierte. Dascha hob vom Boden den Eisbeutel, legte ihn dem Fiebernden auf die rote Stirn und steckte seine Bettdecke zurecht. Dann machte sie eine Runde an allen Betten vorbei und kehrte ins Schwesternzimmer zurück.

Das Herz ist gar zu ungeübt, das ist es! dachte sie sich. – Es versteht nur das Schöne und Angenehme zu lieben. Aber das zu lieben und zu bemitleiden, was es nicht liebt, hat es noch nicht gelernt. –

Dascha saß nun wieder im Schwesternzimmer, das Gesicht der Stuhllehne zugewandt, und hatte das Gefühl, als hätte man sie, die Fremde, hier voller Liebe aufgenommen. Und es war ihr, als sei sie jetzt mit allen diesen Kranken und Schlafenden in Mitleid verbunden. Und während sie das dachte, stellte sie sich plötzlich mit erschütternder Klarheit vor, wie auch Iwan Iljitsch irgendwo in einem schmalen Bette liege und wie diese da atme und schlafe ... Der liebe, liebe Mensch.

Dascha stöhnte auf, erhob sich vom Sessel und fing an, auf und ab zu gehen. Plötzlich schrillte das Telephon. Dascha fuhr zusammen und griff nach dem Hörrohr, – so roh und scharf klang in dieser verschlafenen Stille die Klingel. Es waren wohl wieder mit dem Nachtzuge Verwundete angekommen.

»Ja!« sagte sie. Im Hörrohr erklang eine zarte, aufgeregte Frauenstimme: »Rufen Sie, bitte, Darja Dmitrijewna Bulawina.«

»Ich bin selbst da,« antwortete Dascha, und ihr Herz fing an schnell zu schlagen. »Mein Gott, wer ist es denn? ... Katja? ... Katjuscha! ... Du? ... Meine Liebe! ...«


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