Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XV

Planwagen, Fuhrwerke mit Stroh und Heu, Sanitäswagen und die Riesenbottiche der Pontons zogen wankend und knarrend über die mit flüssigem Schmutz bedeckte Landstraße. Unaufhörlich ging ein schräger feiner Regen nieder. Die Ackerfurchen und die Gräben zu beiden Seiten der Straße waren voller Wasser. In der Ferne ragten die verschwommenen Umrisse einzelner Bäume und Baumgruppen. Es wehte ein scharfer Wind, und über die nassen, braunen Felder flogen Wolkenfetzen.

Unter Schreien und Fluchen, Peitschengeknall und Achsengequietsch bewegte sich durch Schmutz und Regen lawinengleich der Train der vorrückenden russischen Armee. Zu beiden Seiten der Straße lagen verendete und verendende Pferde und mit den Rädern nach oben starrende umgefallene Fuhrwerke. Ab und zu drang in diesen mächtigen Strom ein Militärauto herein. Es begann ein Schreien und Fluchen, die Pferde bäumten sich, mancher beladene Wagen stürzte den Abhang hinab, und die Fuhrleute rollten ihm nach.

Weiter, wo der Strom der Fuhrwerke unterbrochen war, marschierten in langgedehnten Zügen, ausgleitend im Schmutz, die Soldaten, die Rücken mit leeren Säcken und Zeltbahnen geschützt. Inmitten der unordentlichen Menge bewegte sich ein Wagen mit Gepäck, mit nach allen Seiten starrenden Gewehren und obendrauf kauernden Offiziersburschen. Von Zeit zu Zeit lief ein Mann von der Landstraße ins Feld, legte sein Gewehr ins Gras und hockte sich nieder.

Und weiter wankten wieder Wagen, Pontons, Fuhrwerke und Stadtequipagen mit durchnäßten Gestalten in Offiziersmänteln. Dieser ganze brausende Strom senkte sich bald in einen Hohlweg – man drängte sich, schrie und kam auf den Brücken ins Handgemenge – und zog bald langsam eine Anhöhe hinauf und verschwand hinter dem Sattel. Von allen Seiten mündeten in ihn neue Trains mit Lebensmitteln, Heu und Munition. Quer übers Feld zogen, einander überholend, kleinere Kavallerieabteilungen.

Manchmal schnitt sich in diese Trains mit eisernem Dröhnen die Artillerie ein. Die großen, breitbrüstigen Pferde und die auf ihnen sitzenden, mit den Peitschen nach rechts und links, auf Pferde und Menschen dreinschlagenden Fahrer mit den bärtigen, wütenden Gesichtern räumten, die hüpfenden, stumpfmäuligen Geschütze nach sich schleppend, wie ein Schneepflug die Landstraße. Von überall her liefen die Menschen, sie erhoben sich in den Fuhrwerken und fuchtelten mit den Armen. Und der Strom schloß sich wieder und drang in einen Wald, in dem es scharf nach Pilzen und faulem Laube roch und der im Regen sanft rauschte.

Weiter ragten zu beiden Seiten der Landstraße aus Schutthaufen Schornsteine, schwankte eine zerschlagene Laterne, klatschte ein buntes Kinoplakat gegen eine zerschossene Hausmauer. In einem Wagen ohne Vorderräder lag im blauen Mantel ein Verwundeter mit einem winzigen gelben Gesicht und trüben, traurigen Augen.

Noch an die fünfundzwanzig Werst weiter dröhnte am rauchbedeckten Horizont dumpfer Geschützdonner. Dorthin strömten diese Heere und Trains Tag und Nacht. Dorthin rollten aus ganz Rußland mit Brot, Menschen und Munition beladene Eisenbahnzüge. Das ganze Land war vom Kanonendonner erschüttert. Endlich schien die Freiheit für alles Gierige, Unbefriedigte, Sündhafte und Böse gekommen, das sich in diesem Lande unter dem schwülen Druck angesammelt hatte.

Die übersättigte, vom verdorbenen, unreinen Leben aus dem Geleise geworfene Bevölkerung der Städte war wie aus einem schwülen Traume erwacht. Im Dröhnen der Geschütze war die erfrischende Stimme des Weltensturms. Das bisherige Leben erschien auf einmal unerträglich. Die Bevölkerung begrüßte den Krieg mit wütender Schadenfreude.

Auf dem flachen Lande fragte man nicht viel, weshalb und gegen wen der Krieg geführt wurde, – das war ganz gleich. Haß und Bosheit verhüllten schon längst wie ein blutiger Nebel alles vor den Augen. Es war die Zeit für schreckliche Dinge gekommen. Burschen und junge Bauern ließen ihre Mädels und Weiber im Stich, füllten gierig und unternehmungslustig die Güterwagen der Eisenbahnen und zogen pfeifend und unflätige Lieder singend an den Städten vorüber. Das alte Leben war zu Ende, – Rußland wurde wie von einem Riesenlöffel umgerührt und aufgewühlt, alles kam in Bewegung, rückte zusammen und berauschte sich am starken Weine des Kriegs.

Als die Trains und die Truppenteile die Kampfzone erreichten, flossen sie auseinander und schmolzen. Hier endete alles Lebendige und Menschliche. Ein jeder bekam seinen Platz in der Erde, im Schützengraben. Hier mußte er schlafen, essen, Läuse umbringen und aus seinem Gewehre bis zur Bewußtlosigkeit in den grauen Nebel des Regens »pfeffern«.

Nachts flackerten am ganzen Horizont blutrote, hohe Feuerbrände, rote Schnüre von Raketen durchzogen den Himmel, Geschoße kamen heulend geflogen, explodierten, zerstoben zu Sternen, schlugen in die Erde ein und ließen Säulen von Feuer, Rauch und Staub aufsteigen.

Hier sog es vor tierischer Angst im Magen, die Haut schrumpfte ein, und die Finger krampften sich zusammen. Um die Mitternachtsstunde ertönten Signale. Offiziere mit bebenden Lippen liefen durch die Reihen. Mit Schimpfen, Schreien und Schlägen weckten sie die verschlafenen, vor Feuchtigkeit geschwollenen Soldaten. Und die wirren Menschenhaufen liefen stolpernd, heulend, unflätig fluchend über das Feld, legten sich nieder, sprangen wieder auf und drangen, betäubt und wahnsinnig vor Grauen und Haß, in die feindlichen Schützengräben ein.

Was dann in diesen Schützengräben geschah, wußte hinterher niemand mehr. Wenn die Soldaten später mit ihren Heldentaten prahlen wollten – wie sie einem das Bajonett in den Bauch bohrten, wie unter einem Kolbenschlag ein Schädel krachte und das Gehirn herausflog –, mußten sie lügen. Von so einem nächtlichen Unternehmen blieben nur die Leichen übrig und die den Feinden abgenommenen Decken, Tabak und Kaffee.

Ein neuer Tag brach an, und die Feldküchen kamen gefahren. Die matten, durchfrorenen Soldaten aßen und rauchten. Dann sprachen sie von Weibern, vom Dreck und logen wieder viel. Sie lausten sich und schliefen. Tagelang schliefen sie in diesem nackten, von Unrat und Blut verpesteten Gefilde des Donners und des Todes.

Genau so in Schmutz und Feuchtigkeit, wochenlang nicht aus den Kleidern und Stiefeln kommend, lebte Teljegin. Das Infanterieregiment, in dem er als Fähnrich diente, rückte unter Kämpfen vor. Mehr als die Hälfte der Offiziere und der Soldaten war schon gefallen, Nachschübe kamen nicht, und alle warteten nur auf das eine: wann man sie, halbtot vor Erschöpfung und zerlumpt, in die Etappe zurückziehen würde.

Die Oberste Heeresleitung wollte aber, koste es, was es wolle, noch vor Anbruch des Winters über die Karpathen einfallen und Ungarn verwüsten. Menschen schonte man nicht, – es war noch genug »Material« vorhanden. Es hatte den Anschein, als müßte diese schon den dritten Monat währende Anspannung der Kräfte den Widerstand der in Unordnung weichenden österreichischen Armeen brechen, als würden Krakau und Wien genommen werden und die Russen mit ihrem linken Flügel Deutschland in den ungeschützten Rücken fallen.

Die russischen Heere gingen nach diesem Plane unaufhörlich nach dem Westen vor, machten Zehntausende von Gefangenen und erbeuteten Riesenvorräte von Lebensmitteln, Munition, Waffen und Kleidung. In einem der früheren Kriege hätte schon ein Teil dieser Beute, eine einzige dieser ununterbrochenen blutigen Schlachten, in denen ganze Armeekorps aufgerieben wurden, den Krieg entschieden. Obwohl nun die regulären Armeen schon in den ersten Kämpfen vernichtet waren, nahm die gegenseitige Erbitterung immer noch zu. Der Haß war zur höchsten Äußerung der Tugend geworden. In den Krieg zogen freiwillig und unfreiwillig alle, von den Kindern bis zu den Greisen, ganze Völker. In diesem Kriege war etwas, das über den menschlichen Begriffen stand. Gar oft meinte man: der Feind ist geschlagen und verblutet, nur noch eine Anstrengung, und der Sieg ist errungen. Diese Anstrengung wurde gemacht, aber an Stelle der vernichteten feindlichen Armeen erstanden neue, die mit finsterem Trotz in den Tod gingen und fielen. Weder die Horden der Tataren, noch die Heere der Perser hatten so zäh gekämpft und so leicht den Tod hingenommen wie die schwachen, verzärtelten Europäer oder die schlauen russischen Bauern, die schon einsahen, daß sie in diesem von den Herren geführten Kriege nur stummes Schlachtvieh waren. Dieser Trotz der Völker, der alle Pläne aller Heeresleitungen zunichte machte, ließ den Gedanken erstehen, daß dieser Krieg irgendein anderes Ziel habe, als den Sieg der einen oder der anderen Mächtegruppe. Dieses Ziel blieb aber vor der Zeit dem Verständnis verborgen.

Die Reste des Regiments, in dem Teljegin diente, hatten sich am Ufer eines schmalen, tiefen Flusses eingegraben. Die Stellung war schlecht und zu wenig gedeckt, die Schützengräben waren nicht tief genug. Im Regiment erwartete man von Stunde zu Stunde den Befehl zum Vormarsch, aber einstweilen waren alle froh, die Fußlappen wechseln und ausruhen zu können, obwohl von der anderen Seite des Flusses, wo in starken Stellungen österreichische Truppenteile saßen, unaufhörlich herübergeschossen wurde.

Gegen Abend, wenn das Gewehrfeuer für etwa drei Stunden zu verstummen pflegte, ging Iwan Iljitsch gewöhnlich in den Regimentsstab, der sich in einem verlassenen Schlosse, etwa zwei Werst hinter der Stellung, befand.

Ein weißer, flockiger Nebel lag längs des ganzen, sich im Gestrüpp windenden Flusses und dampfte in den Uferbüschen. Es war still und naß und roch nach feuchtem Laub. Ab und zu rollte über das Wasser ein einzelner dumpfer Schuß.

Iwan Iljitsch sprang über den Straßengraben auf die Chaussee, blieb einen Augenblick stehen und zündete sich eine Zigarette an. Zu beiden Seiten ragten im Nebel hohe, entlaubte Bäume, die ungeheuer groß erschienen. Um sie herum war die sumpfige Niederung wie mit Milch übergossen. Eine Gewehrkugel pfiff klagend durch die Stille. Iwan Iljitsch holte tief Atem und schritt über den knirschenden Kies, zu den durchsichtigen Baumwipfeln und Zweigen hinaufblickend. In dieser Stille, durch die er ganz allein ging, ruhte in ihm alles aus, der Lärm des Tages trat zurück, und in sein Herz zog langsam eine feine, alles durchdringende Trauer. Er holte noch einmal Atem, warf die Zigarette weg, verschränkte die Hände im Nacken und ging so wie durch eine andere, wunderbare Welt, wo es nur die Gespenster der Bäume, sein lebendiges, sich in Liebe verzehrendes Herz und den unsichtbaren, dies alles erfüllenden Zauber Daschas gab.

Dascha war mit ihm in dieser Stunde der Ruhe und Stille. Er fühlte ihre Berührung jedesmal, wenn das eiserne Heulen der Geschosse, das Geknatter der Gewehre, das Schreien und Fluchen, alle diese in der göttlichen Schöpfung überflüssigen Töne verstummten und er sich in einem Winkel des Unterstandes, den Kopf in den Mantel gehüllt, hinlegen konnte; dann zog dieser unsagbare Zauber in ihn ein und rührte an sein Herz. Dascha war, treu und streng, immer mit ihm.

Iwan Iljitsch glaubte, daß er, wenn er sterben müßte, bis zum letzten Augenblick dieses Glück der Vereinigung mit Dascha empfinden und, von sich selbst befreit, in diesem Gefühl versinken und zum neuen Leben erwachen würde. Er dachte nicht an den Tod und fürchtete ihn nicht. Jetzt vermochte ihn nichts mehr von diesem wunderbaren Lebenszustande loszureißen, selbst der Tod nicht.

Als Iwan Iljitsch im vergangenen Sommer nach Jewpatoria fuhr, um Dascha zum letzten Male, wie er glaubte, zu sehen, hatte er Angst, regte sich auf und erfand allerlei Entschuldigungen. Aber jene Begegnung unterwegs, Daschas unerwartete Tränen, ihr blonder Kopf, der sich an seine Brust schmiegte, ihre nach dem Meere duftenden Haare, Hände und Schultern, ihr verweinter Mund, mit dem sie ihm, das Gesicht mit den gesenkten, nassen Wimpern zu ihm hebend, sagte: »Iwan Iljitsch, mein Lieber, ich habe Sie so sehnsüchtig erwartet,« – alle diese unbeschreiblichen Dinge, die ihm damals auf dem Wege zum Meer wie vom Himmel in den Schoß gefallen waren, hatten sein ganzes Leben in wenigen Minuten aufgewühlt. Statt aller Erklärungen sprach er nur, auf einen ruhigen und festen Blick in das geliebte vor Aufregung zitternde Gesicht: »Ich liebe Sie für mein ganzes Leben, Dascha.« (Später kam es ihm sogar vor, daß er diese Worte vielleicht auch gar nicht gesprochen hätte; er hätte sie sich nur gedacht, und Dascha hätte sie erraten.) Dascha senkte den Kopf, nahm die Hände von seinen Schultern und sagte: »Ich muß Ihnen vieles erzählen. Kommen Sie.«

Sie gingen zum Meer und setzten sich in den Sand. Dascha nahm eine Handvoll kleiner Steine und warf einen nach dem andern ins Wasser.

»Es handelt sich darum, daß es noch eine Frage ist, ob Sie mir gut sein werden, wenn Sie alles erfahren,« begann sie und sah mit einem Augenwinkel, wie Iwan Iljitsch langsam erbleichte und die Lippen zusammenpreßte. »Obwohl es eigentlich ganz gleich ist, Sie können sich zu mir verhalten wie Sie wollen.« Sie seufzte auf und stützte das Kinn auf ihre Fäuste. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie wischte sie ärgerlich einfach mit der Hand ab und fuhr fort: »Ohne Sie habe ich gar nicht gut gelebt, Iwan Iljitsch. Wenn Sie es können, verzeihen Sie mir.«

Und sie erzählte ihm aufrichtig und ausführlich alles: von Ssamara, und wie sie hergekommen und Bessonow getroffen, wie sie jede Lebenslust verloren hatte, – so widerlich sei ihr dieser ganze Petersburger Dunst gewesen, der sie wieder umfangen, ihr Blut vergiftet und ihre Neugierde aufgestachelt habe. ...

»Wie lange sollte ich noch zimperlich tun? Ich bin, Gott sei Dank, schon zwanzig Jahre alt und ein Weib wie die andern. Ich sehnte mich selbst nach dem Schmutz, und es ist mir ganz recht geschehen. Und doch habe ich im allerletzten Augenblick Angst bekommen. ... Ich hasse mich selbst. ... Iwan Iljitsch, Liebster. ...« Dascha schlug die Hände zusammen. »Helfen Sie mir. Ich will nicht, ich kann mich nicht länger hassen. ... Ich bin schlecht, unrein, sündig, ja, ja, ja. ... Aber es ist doch nicht alles in mir verdorben. ... Ich will lieben, Liebster. ...«

Dascha legte sich nach diesem Ausbruch auf den Sand und schwieg sehr lange. Iwan Iljitsch blickte unverwandt auf das in der Sonne strahlende spiegelglatte blaue Wasser, und sein Herz war trotz allem von Seligkeit erfüllt. Als er sich endlich entschloß, Dascha anzusehen, schlief sie, den Mund leicht geöffnet, wie ein Kind.

Daß der Krieg ausgebrochen war und Teljegin schon am nächsten Tage fort mußte, um sein Regiment einzuholen, begriff Dascha erst später, als der Wind eine Welle an den Strand trieb, die ihr die Füße näßte, – sie seufzte auf, erwachte, setzte sich, sah Iwan Iljitsch an und lächelte zärtlich und erstaunt.

»Iwan Iljitsch!«

»Ja?«

»Sind Sie mir gut?«

»Ja.«

»Sehr gut?«

»Ja.«

Sie kroch auf den Knien zu ihm heran, setzte sich neben ihn, rückte eine Weile hin und her und legte dann ihre Hand in die seine, wie damals auf dem Dampfschiff.

»Iwan Iljitsch, auch ich bin Ihnen gut; ja!«

Sie drückte seine Finger, die zu zittern anfingen, fest zusammen und fragte nach einem Schweigen: »Was haben Sie mir vorhin auf der Landstraße gesagt? ...« Sie runzelte die Stirn. »Was für ein Krieg? Gegen wen?«

»Gegen die Deutschen.«

»Und Sie?«

»Ich muß morgen fort.«

Dascha stieß einen leisen Schrei aus und verstummte. Aus der Ferne lief auf sie in seinem zerdrückten, gestreiften Pyjama Nikolai Iwanowitsch zu, der offenbar soeben aus dem Bette gesprungen war. Er war über und über rot, blieb ab und zu stehen, schwang ein Zeitungsblatt und schrie etwas. Iwan Iljitsch schenkte er keine Beachtung. Und als Dascha ihm sagte: »Nikolai, das ist mein bester Freund,« packte er Teljegin am Rock, schüttelte ihn und brüllte ihm ins Gesicht: »Vergessen Sie nicht, sehr verehrter Herr, daß ich vor allen Dingen Patriot bin! Ich will Ihren Deutschen auch nicht einen Zoll unseres Landes abtreten. ...«

Dascha wich den ganzen Tag nicht von Iwan Iljitschs Seite und war still und nachdenklich. Ihm kam aber dieser vom bläulichen Sonnenlichte und dem Brausen des Meeres erfüllte Tag ungeheuer lang vor. Jede Minute dehnte sich zu einem ganzen Leben.

Teljegin und Dascha irrten am Strande herum, lagen im Sande, saßen auf der Terrasse und waren beide wie betäubt. Nikolai Iwanowitsch folgte ihnen auf Schritt und Tritt und hielt lange Reden über den Krieg und die deutschen Machtgelüste. Teljegin hörte ihm zu, nickte und dachte dabei nur: Meine liebe, liebe Dascha! –

Dascha sah ihm in die blutunterlaufenen Augen und dachte: Lieber Gott, erhalte mir meinen Iwan IIjitsch. ... –

Gegen Abend gelang es ihnen jedoch, sich von Nikolai Iwanowitsch zu befreien. Dascha und Teljegin waren ganz allein weit längs der Bucht gegangen. Sie gingen langsam, im gleichen Schritt und Tritt, einander mit den Ellbogen berührend. Jetzt fiel es Iwan Iljitsch ein, daß er Dascha eigentlich doch einige Worte sagen sollte. Natürlich erwartete sie von ihm eine leidenschaftliche, außerdem bindende Erklärung. Was konnte er ihr aber sagen? Konnte er denn mit Worten das ausdrücken, was ihn so erfüllte, als wäre die Sonne dieses Tages in seine Brust gesunken? Nein, das konnte er gar nicht ausdrücken.

Iwan Iljitsch wurde traurig. Nein, nein, dachte er und sah zu Boden, wenn ich ihr diese Worte sage, wird es gewissenlos sein: sie kann mich nicht lieben und wird mir als ein ehrliches und gutes Mädchen ihr Jawort geben, wenn ich sie um ihre Hand bitte. Aber das wäre eine Vergewaltigung. Ich habe um so weniger Recht dazu, als wir uns für eine ganz unbestimmte Zeit trennen und ich aus dem Kriege höchstwahrscheinlich nicht zurückkehre. ... So zwinge ich sie, vergebens zu warten und Wort zu halten. ... Nein, und abermals nein! –

Es war ein Anfall von Selbstzerfleischung, wie Iwan Iljitsch sie manchmal hatte. Dascha blieb plötzlich stehen und seufzte tief.

»Ich weiß es, wenn Sie fort sind, werde ich Sie sehr lieben, Iwan Iljitsch.«

Sie legte ihre Hände um seinen Hals, blickte ihm mit ihren klaren, fast strengen, grauen Augen, die nicht lächelten, in die seinen und seufzte noch einmal, doch nicht mehr so tief.

»Wir werden auch dort beisammen sein, ja?«

Iwan Iljitsch zog sie sanft zu sich heran und küßte sie auf die zarten, zitternden Lippen. Dascha schloß die Augen. Dann, als beiden schon der Atem ausgegangen war, rückte Dascha von ihm weg, nahm seinen Arm, und sie gingen weiter längs des schweren, dunklen Wassers, das den Strand zu ihren Füßen mit blutroten Reflexen beleckte.

An dies alles dachte Iwan Iljitsch in unverminderter Erregung, so oft es um ihn herum still war. Als er jetzt mit im Nacken verschränkten Händen im Nebel über die Chaussee zwischen den Bäumen dahinschritt, sah er wieder den aufmerksamen Blick Daschas vor sich und durchkostete ihren langen Kuß, – den Atem des Lebens.

In jener Stunde hatte er für immer aufgehört, allein zu sein. Ein Mädchen im weißen Kleid hatte ihn abends am Meeresstrande geküßt. Die bleiernen Klammern der Einsamkeit waren gesprengt. Er, Iwan Iljitsch Teljegin, hatte aufgehört zu sein. In jenem wunderbaren Augenblick war ein neuer, bis zum kleinsten Härchen anderer Iwan Iljitsch erstanden. Jener unterlag der Vernichtung, dieser aber konnte nicht mehr verschwinden. Jener war allein wie der Teufel in der Wüste, dieser lechzte danach, sich auszudehnen, sich zu vervielfältigen und in sein glühendes, aufgeregtes Herz alles – die Menschen, die Tiere, die ganze Welt einzuschließen.

»Halt, wer da?« rief eine erfrorene, rohe Stimme aus dem Nebel.

Iwan Iljitsch nannte die Parole und versenkte die Hände in die Manteltaschen. Und er bog unter die Eichen zu der verschwommenen Silhouette des Schlosses ein, wo in einigen Fenstern gelbes Licht schimmerte. Auf der Freitreppe warf jemand, als er Teljegin erblickte, seine Zigarette fort und stand stramm. »War die Post noch nicht da?« – »Zu Befehl nein. Euer Wohlgeboren, wir erwarten sie jeden Augenblick.« Iwan Iljitsch trat in den Flur. Im Hintergrunde hing über der Windung einer breiten eichenen Treppe ein wahrscheinlich sehr alter Gobelin: unter schmächtigen Bäumchen standen Adam und Eva; sie hielt in der Hand den Apfel, das Symbol der süßen Freude des Lebens, und er einen abgeschnittenen Blütenzweig, das Symbol des Sündenfalls und der Vergebung. Eine Kerze, die in einer Flasche auf einem Treppenpfeiler stand, beleuchtete ihre verblichenen Gesichter und langen Körper mit schwachem Scheine.

Iwan Iljitsch öffnete die Türe nach rechts und trat in ein leeres Zimmer, dessen Stuckdecke in einer Ecke, wo gestern ein Geschoß eingeschlagen, eingestürzt war. Vor dem hell flackernden Herdfeuer saßen auf einem Bett der Oberleutnant Fürst Bjelskij und der Leutnant Martynow. Iwan Iljitsch begrüßte sie, fragte, wann das Auto vom Armeestabe erwartet werde, setzte sich nicht weit von ihnen auf eine Patronenkiste und kniff, vom Licht geblendet, die Augen zusammen.

»Nun, was gibt's bei Ihnen, wird noch immer geschossen?« fragte Martynow, aus irgendeinem Grunde ironisch.

Iwan Iljitsch gab keine Antwort und zuckte die Achseln. Fürst Bjelskij fuhr leise fort: »Das Schrecklichste ist der Gestank. Ich schrieb schon einmal heim: den Tod fürchte ich nicht; ich bin bereit, mein Leben für das Vaterland hinzugeben; ich habe mich eigentlich nur deswegen zur Infanterie versetzen lassen und sitze im Schützengraben; aber der Gestank bringt mich um.«

»Ach was, Gestank, wenn es dir nicht gefällt, brauchst du nicht zu riechen,« versetzte Martynow, seine Fangschnüre ordnend. »Viel wesentlicher ist, daß es hier keine Weiber gibt. Das ist einfach dumm und wird zu nichts Gutem führen. Urteile doch selbst: der Oberbefehlshaber ist eine alte Mumie, und wir müssen alle, hols der Teufel, wie die Mönche leben, – weder Schnaps, noch Weiber. Sorgt man denn so für eine Armee, ist das ein Krieg? Wenn man mir ein Weib gibt, so spucke ich auf die Etappe. Ich hab's immer gesagt: ein Krieg soll lustig sein.«

Martynow erhob sich vom Bett und fing an, mit dem Stiefel in die Holzscheite zu stoßen. Der Fürst blickte nachdenklich auf das Feuer und rauchte.

»Fünf Millionen Soldaten, die mit ihren Ausscheidungen die Luft verpesten,« sagte er, »außerdem faulen die Leichen und die Pferde. Ich werde mein Leben lang an diesen Krieg als etwas Stinkendes denken. Brrr. ...«

Draußen schnaubte ein eben angekommenes Auto.

»Meine Herren, die Post ist da!« rief eine aufgeregte Stimme in die Türe. Die Offiziere gingen sogleich auf die Treppe hinaus. Am Auto machten sich mehrere dunkle Gestalten zu schaffen; einige Mann liefen über den Hof. Eine heisere Stimme mahnte immer wieder: »Meine Herren, reißen Sie mir, bitte, nichts aus den Händen!«

Endlich waren die Säcke mit der Post in den Flur gebracht, und man machte sich daran, sie auf der Treppe unter Adam und Eva auszupacken. Es war die Post für einen ganzen Monat. In diesen schmutzigen Säcken schien ein ganzes Meer von Liebe und Sehnsucht zu liegen, das ganze verlassene, liebe, reine Leben.

»Meine Herren, reißen Sie mir doch nichts aus den Händen!« schnarrte der Stabshauptmann Babkin, ein dicker Mann mit blaurotem Gesicht. »Fähnrich Teljegin, sechs Briefe und ein Paket. ... Fähnrich Njeschnij, zwei Briefe –«

»Njeschnij ist gefallen, meine Herren.«

»Wann denn?«

»Heute früh.«

Iwan Iljitsch trat an den Kamin. Alle sechs Briefe waren von Dascha. Die Adresse war mit großen, halb kindlichen Buchstaben geschrieben. Iwan Iljitsch fühlte überströmende Zärtlichkeit für die liebe Hand, die diese großen Buchstaben gemalt hatte, damit es ja recht leserlich sei. Er beugte sich zum Feuer und öffnete behutsam den ersten Brief. Ihm schlug daraus ein solcher Strom von Erinnerungen entgegen, daß er für einen Moment die Augen schließen mußte. Dann las er: »Nachdem wir uns von Ihnen verabschiedet hatten, fuhren wir, Nikolai Iwanowitsch und ich, am gleichen Tag nach Simferopol und stiegen abends in den Petersburger Zug. Jetzt sind wir in unserer alten Wohnung. Nikolai Iwanowitsch ist sehr unruhig: wir haben von Katja keine Nachricht und wissen nicht, wo sie ist. Was zwischen uns beiden geschehen ist, ist so groß und so plötzlich, daß ich noch immer nicht zur Besinnung kommen kann. Entschuldigen Sie, daß ich per ›Sie‹ schreibe. Ich liebe Sie. Ich werde Sie heiß und treu lieben. Augenblicklich ist alles trüb, – durch die Straßen ziehen Soldaten mit Musik, es ist so traurig, als zöge zugleich mit diesen Trompeten und Soldaten auch das Glück fort. Ich weiß, daß ich es Ihnen nicht schreiben soll, aber seien Sie im Felde doch vorsichtig. ...«

»Euer Wohlgeboren, Euer Wohlgeboren!« Teljegin wandte sich mit Mühe um; in der Türe stand eine Ordonnanz. »Ein telephonischer Befehl, Euer Wohlgeboren. ... Sie möchten gleich zu Oberstleutnant Rosanow in die Kompagnie kommen.«

Teljegin faltete den Brief, den er nicht zu Ende gelesen hatte, zusammen, steckte ihn mit den übrigen unter seine Hemdbluse, drückte sich die Mütze tief in die Stirn und ging hinaus.

* * *

Der Nebel hatte sich verdichtet, die Bäume waren nicht mehr zu sehen, und er ging wie durch ein Meer von Milch; die Straße erkannte er nur am Knirschen des Kieses. Iwan Iljitsch wiederholte vor sich hin: »Ich werde Sie heiß und treu lieben.« Plötzlich blieb er stehen und horchte. Aus dem Nebel kam kein Ton, man hörte nur ab und zu einen schweren Tropfen vom Baume fallen. ... Da begann er aber in der Nähe ein leises Rauschen und ein Plätschern zu unterscheiden. Er ging weiter, und das Plätschern wurde lauter. Plötzlich trat sein Fuß, den er zu einem Schritt erhoben hatte, ins Leere. Er beugte sich mit einem starken Ruck zurück, – eine Erdscholle riß sich unter seinem Fuße los und fiel laut aufklatschend ins Wasser.

Es war offenbar die Stelle, wo die Chaussee über dem Flusse vor der niedergebrannten Brücke abbrach. Auf der andern Seite, nur an die hundert Schritt von ihm entfernt, zogen, wie er wußte, die österreichischen Schützengräben vorbei. Und in der Tat: gleich nach dem Aufklatschen des Wassers knallte auf der anderen Seite wie ein Peitschenschlag ein Schuß, ihm folgte ein zweiter, ein dritter, dann kam eine ganze Salve, es klang, wie wenn man ein Eisenblech entzweirisse, und ihr antworteten aus allen Richtungen vom Nebel gedämpfte, eilige Schüsse. Immer lauter und lauter dröhnte und brüllte es den ganzen Fluß entlang, und mitten in diesem Höllenlärm knatterte ein Maschinengewehr, als knackte es Nüsse. Bumm! – explodierte irgendwo im Walde eine Granate. Der ganz durchlöcherte, dröhnende Nebel lag dicht über der Erde und verdeckte diese gewohnten und gemeinen Geschehnisse. Neben Iwan Iljitsch schlug manche Kugel in einen Baumstamm ein und fiel mancher Zweig zu Boden. Er bog von der Chaussee ins freie Feld ein und ging aufs Geratewohl durch die Büsche weiter. Die Schießerei hörte ebenso plötzlich auf. Iwan Iljitsch nahm sich die Mütze ab und trocknete seine feuchte Stirn. Wieder war alles so still wie unter Wasser, man hörte nur die Tropfen von den Büschen fallen. Gott sei Dank, er wird Daschas Briefe heute noch lesen können. Iwan Iljitsch lachte und sprang über einen schmalen Graben. Endlich hörte er, wie jemand gähnend ganz in der Nähe sagte: »So haben wir ausgeschlafen. Wassilij, ich sage: so haben wir ausgeschlafen.«

»Wart,« antwortete ein anderer kurz: »Da kommt jemand.«

»Wer da?«

Teljegin nannte die Parole und erblickte im gleichen Moment die Brustwehr eines Schützengrabens und zwei aus der Erde ragende bärtige Köpfe.

»Von welcher Kompagnie?« fragte er.

»Von der dritten, Euer Wohlgeboren. Warum gehen Euer Wohlgeboren oben herum? Man kann Sie doch leicht treffen.«

Teljegin sprang in den Graben hinunter und ging zum Verbindungsgang, der zum Offiziersunterstand führte.

Als er in den Offiziersunterstand kam, rief der Bataillonskommandeur, Oberstleutnant Rosanow, der ein träger und kluger, sehr dicker Mann war mit einzelnen Haarbüscheln auf dem großen kahlen Schädel und einer Brille auf der Nase, und in der Ecke unter den Tannenzweigen auf zusammengelegten Pferdedecken saß: »Da kommt er endlich!«

»Verzeihung, Fjodor Kusmitsch, bei Gott, ich habe mich in diesem Nebel verlaufen.«

»Ist schon gut. Hören Sie mal, lieber Freund, heute nacht werden Sie sich etwas Mühe geben müssen.«

Er schob das Stück Brotrinde, das er die ganze Zeit in seiner schmutzigen Faust gehalten hatte, in den Mund. Teljegen preßte langsam die Kiefer aufeinander und raffte sich zusammen. ...

»Die Sache ist nämlich die, liebster Iwan Iljitsch, daß wir den Befehl bekommen haben, das andere Ufer zu besetzen. Es wäre gut, diese Sache möglichst geräuschlos zu machen. Setzen Sie sich mal zu mir. Wollen Sie Kognak? Ich habe mir also folgendes ausgedacht. ... Man muß eine Brücke schlagen, direkt gegenüber der großen Bachweide. Dann werfen wir an die siebzig Mann hinüber. ... Geben Sie sich bitte etwas Mühe ... Beim Sonnenaufgang rücken wir dann alle nach. ...«


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