Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXII

Iwan Iljitsch ging gegen vier Uhr früh vom Nachtdienst heim. Es war eine frostige Dezembernacht. Droschken waren keine zu sehen, jetzt war um diese Stunde selbst im Zentrum der Stadt schwer eine zu finden. Teljegin ging schnell durch die leere Straße, sein Atem dampfte in dem aufgestellten Kragen. Im Lichte der wenigen Laternen konnte er sehen, wie die ganze Luft von herabfallenden frostigen Nadeln erfüllt war. Der Schnee knirschte laut unter seinen Füßen. An einer gelben, flachen Hausfassade vor ihm flackerten rötliche Reflexe. Teljegin bog um die Ecke und erblickte ein offenes, auf einem eisernen Roste brennendes Holzfeuer und mehrere vermummte, von Dampfwolken umgebene, erfrorene Gestalten ringsum. Etwas weiter standen auf dem Trottoir unbeweglich in einer Linie an die hundert Menschen: Frauen, alte Männer und halbwüchsige Jungen; es war eine ›Polonaise‹ vor einem Lebensmittelgeschäft. Ein Nachtwächter in Filzstiefeln stand daneben und schlug die Fausthandschuhe aufeinander.

Iwan Iljitsch ging längs der Polonaise und betrachtete die an die Wand gedrückten, in Tücher und Bettdecken gehüllten, vor Kälte gekrümmten Gestalten.

Er erreichte den Quai, schlug die Richtung zu der Brücke ein und sagte sich, als der Wind an den Schößen seines Mantels riß, daß er sich doch eine Droschke suchen müsse, vergaß es aber gleich wieder. In der Ferne, auf dem andern Ufer, flimmerten kaum sichtbar die Laternen. Quer über das Eis zog sich längs des Fußweges eine Linie trüber Flämmchen. Über die ganze dunkle, weite Wüste der Newa wehte ein kalter Wind und pfiff jämmerlich in den Trambahndrähten und im durchbrochenen gußeisernen Brückengeländer.

Iwan Iljitsch blieb manchmal stehen und blickte in diese düstere Finsternis und ging dann weiter, immer an das Gleiche denkend: an jenen Augenblick im Eisenbahnwagen, als er wie von einem inneren Feuer, vom Glück, von der Empfindung seiner selbst erfüllt gewesen war.

Dieses Gefühl von Glück war wie ein Licht in der Finsternis: alles ringsum war unklar, verworren, widerspruchsvoll, sogar diesem Glücke feindlich. Er mußte sich ordentlich zusammennehmen, um sich ruhig sagen zu können: ich lebe, ich bin glücklich, mein Leben wird licht und schön sein. Damals, am Fenster des zwischen den Funken dahinfliegenden Wagens war es leicht zu sagen; jetzt kostete es aber eine große Anstrengung, sich von jenen halberfrorenen anstehenden Menschen, von dem wie im Todeskampf heulenden Dezemberwind, von der Empfindung des allgemeinen Elends und des drohenden Unterganges zu trennen.

Eines stand für Iwan Iljitsch fest: seine Liebe zu Dascha, Daschas Schönheit, und die freudige Empfindung seiner selbst, dessen, der damals am Wagenfenster stand und von Dascha geliebt wurde, – das ist das höchste Gut, und im ganzen Leben gibt es nichts, was höher stünde. Der gemütliche, alte, vielleicht zu enge, aber herrliche Tempel des Lebens geriet unter den Schlägen des Krieges ins Schwanken, – die Säulen zittern, die Kuppel klafft, die alten Steine fallen herab, und inmitten dieses Staubes und Schuttes, im Krachen des einstürzenden Tempels wollen zwei Menschen, Iwan Iljitsch und Dascha, im beseligenden Wahnsinn der Liebe, allem zum Trotz, glücklich sein. Ist das recht?

Iwan Iljitsch blickte ins düstere Dunkel der Nacht, auf die flimmernden Flämmchen, hörte das herzzerreißende Heulen des Windes und dachte sich: Nein, es ist keine Sünde, keine Sünde, – denn der Wille zum Glück geht über alles. Ich bin als Gottes Ebenbild geschaffen, ich will nicht die Zerstörung meines Antlitzes, ich will seine Verklärung – das Glück. Ich will es allem zum Trotz. Kann ich denn die Hungrigen sättigen, den Krieg beenden? Nein! Und wenn ich es nicht kann, muß ich denn auch in dieser Finsternis verschwinden und auf das Glück verzichten? Nein, ich muß es nicht. Aber kann ich, werde ich auch glücklich sein? ... –

Iwan Iljitsch passierte die Brücke und ging, ohne auf den Weg zu achten, den Schloßquai entlang. Hier brannten auf hohen Masten, im Winde schwankend, helle Bogenlampen. Über das vom Schnee entblößte Holzpflaster flog mit trockenem Geräusch feiner Schneestaub. Die Fenster des Winterpalais gähnten dunkel und leer. Vor dem gestreiften Schilderhaus stand neben einem Schneehaufen ein baumlanger Wachtposten in einem Schafpelz und hielt das Gewehr mit gekreuzten Händen an die Brust gedrückt.

Iwan Iljitsch blieb plötzlich stehen, warf einen Blick zu den Fenstern hinauf und ging dann noch schneller weiter, erst gegen den Wind kämpfend, dann von ihm im Rücken getrieben. Es schien ihm, daß er jetzt allen, allen Menschen eine klare, einfache Wahrheit hätte sagen können, an die alle glauben würden. Er würde ihnen sagen: ›Ihr seht, so kann man nicht weiter leben: die Staaten sind auf Haß aufgebaut, der Haß hat die Grenzen aufgerichtet, jeder von euch ist ein kleiner Klumpen Haß, eine Festung mit nach allen Seiten gerichteten Geschützen. So ist das Leben eng und schrecklich. Die ganze Welt erstickt in Haß, die Menschen vernichten einander, das Blut fließt in Strömen. Ist euch das zu wenig? Seid ihr noch nicht sehend geworden? Wollt ihr, daß auch hier in jedem Hause der Mensch seinen Mitmenschen umbringe? Besinnt euch, werft die Waffen weg, legt die Schranken nieder, öffnet die Türen und Fenster, damit freie Luft hereinkomme. Möge eine Prozession über die ganze Erde ziehen und sie im Namen des Heiligen Geistes mit dem Wasser des Lebens besprengen. Denn wir leben nur von ihm. Es gibt genug Land für Getreidefelder, Wiesen und Viehweiden, genug Berghänge für Weingärten. ... Unerschöpflich ist der Schoß der Erde, für alle ist Raum. ... Seht ihr denn nicht, daß ihr immer noch im Dunkel der vergangenen Jahrhunderte lebt. ...‹ –

* * *

Auch in diesem Stadtteil gab es keine Droschken. Iwan Iljitsch ging wieder über die Newa und vertiefte sich in die krummen Gassen der Petersburger Seite. In seine Gedanken versunken, im Selbstgespräch, verlor er die Orientierung und ging aufs Geratewohl durch die dunklen und öden Gassen, bis er schließlich an den Quai irgendeines Kanals stieß.

›Ein schöner Spaziergang!‹ Iwan Iljitsch blieb lachend stehen, holte Atem und sah nach der Uhr. Es war fünf. Hinter der nächsten Ecke kam, im Schnee knirschend, ein großes offenes Auto mit abgelöschten Laternen hervor. Am Steuer saß ein Offizier in offenem Mantel, – sein schmales, rasiertes Gesicht war blaß, seine Augen waren gläsern wie bei einem sinnlos Betrunkenen. Hinter ihm saß ein anderer Offizier mit einer in den Nacken gerutschten Mütze – sein Gesicht war nicht zu sehen – und hielt mit beiden Händen einen langen, in Bastdecken eingeschlagenen Gegenstand. Der Dritte im Auto war ein Zivilist mit aufgestelltem Mantelkragen und einer hohen Astrachanmütze. Er stand auf und packte den am Steuer Sitzenden an der Schulter. Das Auto hielt vor einer Brücke. Iwan Iljitsch sah, wie alle drei in den Schnee sprangen, das große Paket aus dem Auto zogen, es einige Schritt über den Schnee schleiften, dann mit großer Mühe hoben, bis zur Mitte der Brücke trugen und übers Geländer warfen. Die beiden Offiziere kehrten unverzüglich zum Auto zurück; der Zivilist aber beugte sich über das Geländer, sah eine Weile hinunter und holte dann, den Mantelkragen zurückschlagend, seine Genossen ein. Das Auto riß sich vom Flecke los und verschwand.

»Gemeinheit!« sagte Iwan Iljitsch, der die ganze Zeit mit verhaltenem Atem in der Nähe gestanden hatte. Er trat auf die Brücke; so gespannt er auch hinunterblickte, konnte er im großen schwarzen Eisloch unter der Brücke nichts erkennen.

»Gemeinheit!« murmelte Iwan Iljitsch wieder und verzog den Mund. Dann ging er längs des gußeisernen Kanalgitters weiter. An der Ecke fand er endlich eine Droschke mit einem erfrorenen, alten Kutscher. Als er sich in den Schlitten setzte, die hartgefrorene Pelzdecke zuknöpfte und die Augen schloß, zitterte sein ganzer Körper vor Müdigkeit. – Ich liebe, das ist wichtig, das ist wahr, dachte er sich: – Wie ich auch handle, wenn es nur von meiner Liebe kommt, so ist es gut.

* * *

Der in Bastdecken eingeschlagene Gegenstand, den die drei Männer von der Brücke ins Eisloch geworfen hatten, war der Leichnam des ermordeten Rasputin. Um diesen übermenschlich zähen und starken Bauern zu töten, mußte ihm Zyankali in den Wein getan, je eine Revolverkugel in die Brust, in den Rücken und in den Nacken gejagt und schließlich der Schädel mit einem Totschläger zerschmettert werden. Und doch wurde bei der ärztlichen Untersuchung der Leiche, als man sie nach vierundzwanzig Stunden aufgefunden und aus dem Wasser gezogen hatte, festgestellt, daß Rasputin erst unter dem Eise der Moika zu atmen aufgehört hatte.

Dieser Mord bedeutete gleichsam eine Auslösung alles dessen, was zwei Monate später begann: eine Sanktionierung des Blutvergießens. Rasputin hatte mehr als einmal gesagt, daß nach seinem Tode der Thron stürzen und die Dynastie der Romanows untergehen würde. Dieser wilde und rasende Mensch hatte offenbar eine Vorahnung des Unheils, wie die Hunde einen Todesfall im Hause wittern, und so starb der letzte Verteidiger des Thrones, der Bauer, Pferdedieb und rasende Fanatiker einen schweren Tod.

Nach seinem Ende herrschte im Palais eine unheimliche Trauer, im ganzen Lande aber ein Jubel; die Leute gratulierten einander. Nikolai Iwanowitsch schrieb seiner Frau aus Minsk: »In der Nacht, als diese Nachricht eintraf, ließen sich die Offiziere vom Stabe des Oberbefehlshabers acht Dutzend Flaschen Champagner ins Kasino bringen. Die Soldaten schrien an der ganzen Front Hurra. ...«

Nach einigen Tagen schon war in Rußland dieser Mord vergessen, nicht aber im Palais: dort glaubte man an die Prophezeiung und bereitete sich auf die Revolution vor. Man teilte Petrograd heimlich in Sektoren ein und forderte vom Großfürsten Ssergej Michailowitsch Maschinengewehre; als er keine hergab, ließ man sich vierhundertzwanzig Stück aus Archangelsk kommen und verteilte sie auf den Dachböden an den Straßenkreuzungen. Die Presse bekam einen neuen Druck zu fühlen, und die Zeitungen erschienen zur Hälfte mit weißen Spalten.

Die Kaiserin schrieb ihrem Mann verzweifelte Briefe und bemühte sich, seinen Willen und Geist zu stärken. Der Kaiser saß aber wie gebannt in Mogilew unter den ihm treuen – das stand außer jedem Zweifel – zehn Millionen Bajonetten. Die Weiberrevolten und das Geschrei in den Petrograder Polonaisen erschienen ihm weniger gefährlich als die Armeen der drei Reiche, die die russische Front bedrängten. Um diese selbe Zeit plante General Alexejew, der Chef des Stabes des Oberbefehlshabers, ein kluger Mann und glühender Patriot, in Mogilew hinter dem Rücken des Kaisers die Verhaftung der Zarin und die Vernichtung der deutschen Partei.

Im Januar wurde der Befehl zur Offensive an der Nordfront unterschrieben, um der Frühjahrskampagne des Feindes zuvorzukommen. Die Schlacht begann in einer kalten Nacht bei Riga. Gleich nach Eröffnung des Artilleriefeuers erhob sich ein Schneesturm. Die Soldaten marschierten durch tiefen Schnee, im Heulen des Sturmes und im mörderischen Granatenfeuer. Dutzende von Flugzeugen, die zur Unterstützung der vorgehenden Truppenteile aufgestiegen waren, wurden vom Winde zur Erde geschlagen, und ihre Maschinengewehre mähten im Schneesturme Feind und Freund nieder. Rußland machte den letzten Versuch, den eisernen Ring, der es umklammerte, zu sprengen; die russischen Bauern kämpften, in weiße Totenhemden gekleidet, von Polarstürmen getrieben zum letztenmal für das Kaiserreich, das ein Sechstel der Welt umspannte, für die Autokratie, die einst der Welt drohend erschienen und nun zu einer Idee geworden war, deren Sinn vergessen, unverständlich und feindselig war.

Zehn Tage tobte die wütende Schlacht, Tausende von Menschen wurden unter den Schneewehen begraben. Die Offensive wurde eingestellt und erstarb. Die Front erstarrte wieder im Schnee.


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