Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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VII

An das eiserne Tor wurde geklopft. Auf dem Steinpfosten im Schatten des Torweges rührte sich ein Schafspelz, eine Hand mit klirrenden Schlüsseln fuhr hinauf, das Schloß kreischte, und das schwere Tor ging auf.

Auf die Straße traten zwei Männer, das Kinn in die aufgestellten Kragen gedrückt; es waren Bessonow und Akundin. Aus schwarzem Schafspelz heraus zeigte sich das kurzsichtige Gesicht des Nachtwächters und bat sie um ein Trinkgeld. Bessonow drückte ihm ins Ende des Ärmels ein Zwanzigkopekenstück und ging nach rechts durch die leere Straße. Akundin ging erst hinter ihm her, holte ihn dann ein und faßte ihn unter den Arm.

»Nun, Alexej Alexejewitsch, wie gefiel Ihnen unser Prophet Elisa?«

Bessonow blieb sofort stehen.

»Hören Sie, es ist ja Wahnsinn! In einem Hinterhaus mit schmutziger Treppe, in einem dumpfen Zimmer zwischen Büchern und Tabak zu sitzen und zu denken. ... Haben Sie sein Gesicht betrachtet? ... Kein Tropfen Blut ist darin. ... Ein ungewöhnlich roter Mund, als sauge er jedes Wort erst mit den Lippen. Bedenken Sie nur, wenn man alles verwirklichen wollte, was er sagte. ...«

»Das würde einen großen Spaß geben, Alexej Alexejewitsch.«

»Nein, es ist Wahnsinn!... Auf einem alten Sofa, in Tabakrauch den Weltbrand anfachen! ... Was erzählen Sie mir! Jetzt regnet es und es wird bis ans Ende aller Zeiten so regnen. ... Sie werden keinen einzigen Stein von der Stelle rücken.«

Sie standen unter einer Laterne. Bessonow sah auf die im Nebel des feinen Regens verschwindenden grünlichen Lichter. Die wenigen Passanten eilten, sich im schwarzen Asphalt spiegelnd, nach Hause, die Hände in die Taschen und die Nasen in die Mantelkragen vergraben. Akundin sah unter seinem großen grauen Hut Bessonow von unten an, lächelte und zupfte an seinem Bärtchen.

»Wir werden in solche Posaunen von Jericho stoßen, Alexej Alexejewitsch, daß nicht nur die Mauern einstürzen werden, sondern alles von unten bis oben. Wir haben nämlich einen wunderbaren Kunstgriff. Wir kennen ein Zauberwort. Das wichtigste war, dieses Wörtchen zu finden, – Sesam, öffne dich. Unser Wörtchen hat eine besondere Eigenschaft: wo man es auch hinsetzt, fängt alles zugleich zu faulen an und zerfällt. Sie aber sagen, daß wir keinen Stein von der Stelle rücken werden. Sagen wir z.B.: im Interesse unserer Mineralschätze ist es notwendig, die Deutschen zu schlagen und ihre Städte niederzubrennen. Hurra, Kinder, für den Glauben, für den Zaren und für das Vaterland! Nun versuchen Sie einmal, hier unser Wörtchen hinzusetzen. Genossen, Russen, Deutsche usw., ihr Bettler und Ausgestoßene der Gesellschaft, man hat euch genug Blut ausgesogen, man ist auf eurem Buckel genug herumgeritten, laßt uns jetzt die Weltgerechtigkeit errichten. Das ist es, wozu wir euch rufen. Von nun an seid ihr allein Menschen, alle andern sind Parasiten. Ja, was ist denn los? Was für Parasiten? Was für eine Weltgerechtigkeit? Alexej Alexejewitsch, verstehen Sie mich, hier braucht man eine Geste wie die, mit der Jesu Christo die Reiche der Erde gezeigt wurden. Dies muß eben wiederholt werden. Es muß anschaulich gemacht werden, was die Weltgerechtigkeit in der Vorstellung des Bauern Alexej Iwanow des Siebenten aus dem Dorfe Brjuchino im Kreise Kaschira bedeutet, der von seinem zwölften Lebensjahre an in einer Ziegelei um einen Lohn von fünfundfünfzig Kopeken pro Tag bei eigener Verpflegung arbeitet. Ein Beispiel: Seht ihr dieses steinerne Haus? Wir sehen es. In diesem Hause wohnt der Besitzer der Ziegelei und hat eine dicke Uhrkette am Bauche hängen, seht ihr ihn? Wir sehen ihn. Er hat einen Schrank voll Geld, vor den Fenstern geht aber ein Schutzmann auf und ab und paßt streng auf, seht ihr es? Wir sehen es. Nun, nach der Weltgerechtigkeit ist das alles euer, Genossen. Habt ihr es verstanden? Sie aber, Alexej Alexejewitsch, sagen, wir seien bloß Theoretiker. Wir sind wie die ersten Christen. Jene haben sich vor dem Bettler verbeugt, und auch wir verbeugen uns vor dem Erniedrigten und Beleidigten, der so heruntergekommen ist, daß er nicht mal einem Menschen ähnlich sieht, im Namen der fünf Kontinente. Jene kannten ein Wörtchen, und auch wir kennen ein Wörtchen. Jene hatten Kreuzzüge, auch wir haben Kreuzzüge.« Akundin lachte auf und versuchte, Bessonow ins Gesicht zu blicken, das im Schatten des Hutes lag. Dann sah er auf die Uhr und hatte plötzlich Eile.

»Sie werden sich erst dagegen stemmen, werden aber dann unbedingt zu uns kommen, Alexej Alexejewitsch. Gerade solche Menschen wie Sie brauchen wir ... Die Zeit ist nahe, es sind die letzten Tage ...« Er kicherte, bemeisterte seine Erregung, drückte Bessonow kräftig die Hand und bog um eine Ecke. Man konnte noch lange hören, wie sicher seine Absätze auf das Trottoir klopften.

Bessonow rief nach einer Droschke. Irgendwo im Nebel ließ sich erst das Schnalzen von Lippen, und dann das Rasseln eines Wagens vernehmen. Unter der Laterne blieb eine Frau stehen und blickte gleichfalls auf die im Regen verschwimmenden Lichter. Dann sagte sie, mit Mühe die Zunge bewegend: »Das verzeihe ich nie!« Bessonow fuhr zusammen und sah sie an. Ihr runzliges, trunkenes Gesicht lachte. Der Droschkenkutscher, ein langer Bauer mit kleinem Pferd fuhr heran und rief mit hoher Stimme: »Halt!« Als Bessonow in den feuchten Wagen stieg, erinnerte er sich, daß ihm noch ein Rendez-vous mit einer Frau bevorstand. Es wird höchstwahrscheinlich sehr dumm und banal ausfallen, – um so besser. Er sagte dem Kutscher die Adresse, stellte seinen Kragen auf, und schon schwebten die verschwommenen Umrisse der Häuser, die erleuchteten Fenster und die gelblichen Nebelwölkchen über jeder Straßenlaterne ihm entgegen.

Der Kutscher hielt vor dem ihm genannten Restaurant und sagte mit besonders lustiger Stimme, die er nur im Verkehr mit Herrschaften gebrauchte: »Sie sind schon der vierte, den ich herbringe. Ist hier das Essen so gut? Einer trieb mich sogar die ganze Zeit an: ›Du kriegst einen Rubel extra.‹ sagte er, ›wenn du schneller fährst, Hundesohn!‹ Mein Pferdchen kann aber nicht schnell laufen.«

Bessonow drückte ihm ohne zu zählen einige Münzen in die Hand und lief die breite Treppe zum Restaurant hinauf. Der Portier sagte, indem er ihm aus dem Mantel half: »Alexej Alexejewitsch, Sie werden erwartet.«

»Wer ist's?«

»Eine uns unbekannte Person weiblichen Geschlechts.«

Bessonow hob hoch den Kopf und ging, mit kühlen Augen gerade vor sich blickend, in die ferne Ecke des niederen, um diese Stunde überfüllten Saales zu seinem gewohnten Tischchen. Der Maitre d'hôtel Loskutkin, ein Greis von ehrwürdigem Aussehen, teilte ihm, sich übers Tischchen beugend, mit, daß es heute ganz ausgezeichneten Hammelrücken gebe. Bessonow entgegnete: »Ich werde nichts essen. Geben Sie mir Weißwein, meine Marke.« Er saß lange in gerader Haltung, mit strenger Miene, die Hände auf der Tischdecke da. Um diese Stunde und an diesem Orte verfiel er wie immer in den gewohnten Zustand einer düsteren Inspiration. Alle Eindrücke des Tages hatten sich ihm gleichsam zu einer harmonischen und sinnvollen Form gefügt, und in seinem Innersten, das von den Geigen des Zigeunerorchesters, den Parfüms der Frauen und der Schwüle des überfüllten Saales erregt war, erstand der Schatten dieser von außen eingedrungenen Form, und dieser Schatten war die Inspiration. Es war ihm, als erfasse er mit einem eigentümlichen blinden inneren Tastsinn den geheimnisvollen Zusammenhang der Dinge und der Worte, – des lachenden und verweinten Gesichts unter der Laterne, der von Wollust erfüllten Musik, des Fieberdeliriums des Publizisten und Soziologen, zu dem ihn Akundin heute hingeführt hatte, und aller dieser seltsamen Vergleiche, Beispiele und kichernden Worte an der Ecke unter der Gaslaterne.

Bessonow hob sein Glas und trank den Wein, ohne die Zähne zu öffnen. Sein Herz schlug langsam. Es war so unsagbar angenehm, sich ganz von Tönen und Stimmen durchdrungen zu fühlen.

Am Tische gegenüber, unter dem Spiegel speisten Ssaposchkow, Antoschka Arnoldow – ein zappliger Mensch mit tragischen Augen – und Jelisaweta Kijewna. Sie hatte gestern Bessonow einen langen Brief geschrieben und ihn in dieses Restaurant bestellt; nun saß sie rot und aufgeregt da. Sie trug ein schwarzgelb gestreiftes Kleid und eine ebensolche Schleife im Haar. Als Bessonow ins Lokal trat, wurde ihr schwül.

»Seien Sie vorsichtig«, flüsterte ihr Arnoldow zu und lächelte, wobei er alle seine faulen und goldenen Zähne zeigte: »Er hat seiner Schauspielerin den Laufpaß gegeben, ist jetzt ohne Frau und darum so gefährlich wie ein Tiger.« Jelisaweta Kijewna lachte, schüttelte die gestreifte Haarschleife und ging zwischen den Tischen auf Bessonow zu. Man begleitete sie lächelnd mit den Blicken, und gab ihr den Weg frei.

In der letzten Zeit hatte sich das Leben Jelisaweta Kijewnas sehr trostlos gestaltet, – ein Tag war wie der andere, ohne Beschäftigung, ohne Hoffnung auf etwas Besseres, – mit einem Worte trostlos. Teljegin zeigte ihr ganz offen seine Abneigung; er behandelte sie zwar höflich, mied aber alle Gespräche und das Alleinsein mit ihr. Sie jedoch fühlte voller Verzweiflung, daß sie gerade ihn brauchte. Wenn im Vorzimmer seine Stimme erklang, hob Jelisaweta Kijewna den Kopf vom Buch, in dem sie las, und sah auf die Tür. Er ging durch den Korridor, wie immer, auf den Fußspitzen. Sie wartete, ihr Herz stand still, die Türe schwamm vor ihren Augen, er ging aber wieder vorbei. Wenn er doch wenigstens anklopfen und um Streichhölzer bitten wollte. Schließlich war es ja auch wahnsinnig beleidigend.

Neulich hatte sie sich, Schirow zum Trotz, der mit größter Vorsicht auf alles in der Welt schimpfte, einen Band Bessonowscher Verse gekauft, ihn mit der Brennschere aufgeschnitten, einigemal hintereinander gelesen, mit Kaffee begossen und im Bette zerknittert; schließlich erklärte sie beim Mittagessen, daß Bessonow ein Genie sei. ... Alle Pensionäre Teljegins entrüsteten sich. Ssaposchkow nannte Bessonow einen Fäulnispilz auf dem verwesenden Körper der Bourgeoisie. Bei Schirow blähte sich eine Ader auf der Stirn. Der Maler Walet warf die Gabel auf den Tisch. Teljegin allein blieb teilnahmslos. Nun bekam sie den sogenannten »Unfall von Selbstprovokation«, lachte auf, ging in ihr Zimmer, schrieb einen verzückten und unsinnigen Brief an Bessonow, in dem sie ein Rendezvous forderte, kam ins Eßzimmer zurück und schmiß den Brief auf den Tisch. Die Pensionäre lasen ihn laut vor und berieten sich längere Zeit. Teljegin sagte: »Ein kühner Brief!« Jelisaweta Kijewna gab den Brief der Köchin, damit sie ihn sofort in den Kasten werfe, und fühlte, daß sie in einen Abgrund stürze.

Nun ging sie auf Bessonow zu und sagte ungezwungen: »Ich habe Ihnen geschrieben. Sie sind gekommen. Danke.«

Mit diesen Worten setzte sie sich ihm gegenüber, seitwärts zum Tisch, mit übergeschlagenen Beinen, legte einen Ellenbogen auf den Tisch, stützte das Kinn in die Hand und fing an, Alexej Alexejewitsch mit ihren gleichsam gemalten Augen zu betrachten. Er schwieg. Der Maitre d'hôtel Loskutkin brachte ein zweites Glas und schenkte Jelisaweta Kijewna Wein ein. Sie begann: »Sie werden mich natürlich fragen, warum ich Sie sprechen wollte?«

»Nein, das werde ich nicht fragen. Trinken Sie Wein.«

»Sie haben recht, ich habe Ihnen nichts zu erzählen. Sie leben, Bessonow, und ich nicht. Es ist mir einfach langweilig.«

»Was treiben Sie?«

»Es wurde mir vorgeschlagen, der terroristischen Partei beizutreten, aber ich hasse jede Disziplin. Eine Kokotte werden will ich nicht: mein Reinlichkeitsgefühl sträubt sich dagegen. Was kann man jetzt anfangen, wo alles faul ist, wo alles verwest? Ich treibe gar nichts. Es ist Ihnen sonderbar? Widerlich? Also ich frage Sie: was soll ich mit mir anfangen?«

»Ich meine, daß solche Menschen wie Sie noch etwas warten müssen,« antwortete Bessonow, indem er sein Weinglas gegen das Licht hob: »Bald, bald kommt die Zeit, wo Tausende solcher versteinerter Chimären wie Sie lebendig werden und zusammenfliegen, um die Beute zu teilen. Sie haben die Augen einer Chimäre.« Er trank den Wein langsam durch die Zähne.

Jelisaweta Kijewna verstand nicht ganz, was er sprach, wurde jedoch vor Vergnügen rot. Bessonow seinerseits erkannte in ihr einen dankbaren Zuhörer, außerdem war er ganz von selbst in den richtigen Stil geraten, und er gestattete sich das Vergnügen, seinen »Zauber« wirken zu lassen – diese vor Aufmerksamkeit erstarrte Frau mit dem schwarzen Rauch seiner Phantasie zu betäuben. Er sprach davon, daß über Rußland sich die Nacht der schrecklichen Vergeltung senke. Er erkenne das an geheimen und unheilkündenden Zeichen. An den Zäunen und Hausmauern seien in Form von Geschäftsreklamen Bilder des Teufels aufgetaucht. Gestern habe z. B. die Firma »Kosmos« ein riesengroßes Plakat ankleben lassen: ein lachender Teufel, rot wie Blut, fliegt auf einem Automobilreifen eine endlose Treppe hinunter. In der Deneschnyj-Gasse habe er an einem Zaune ein anderes Plakat gesehen: eine Hand weist aus einer Wolke mit dem Finger auf die rätselhafte Inschrift: »In der allernächsten Zeit.« – »Sie verstehen, was das heißt? ... Sie werden bald ein weites Feld vor sich haben, Jelisaweta Kijewna.«

Während er sprach, schenkte er in beide Gläser immer wieder Wein ein. Jelisaweta Kijewna betrachtete seine eisigen Augen, seinen weiblichen Mund, seine hochgezogenen feinen Brauen und sah, wie seine Finger, die das Glas hielten, zitterten und wie durstig und langsam er trank. Sie empfand ein wohliges Schwindelgefühl. Ssaposchkow machte ihr aus der Ferne Zeichen. Bessonow brach plötzlich ab, wandte sich um und fragte düster: »Wer sind diese Menschen?«

»Meine Freunde.«

»Ihre Zeichen gefallen mir nicht.«

Jelisaweta Kijewna sagte ohne Überlegung: »Gehen wir doch irgendwo anders hin, wollen Sie?«

Bessonow sah sie durchdringend an. Ihre Augen schielten etwas, der Mund lächelte leise, und an ihren Schläfen waren kleine Schweißtropfen hervorgetreten. Plötzlich fühlte er ein gieriges Verlangen nach diesem kräftigen, kurzsichtigen Mädchen; er ergriff ihre große, heiße Hand, die auf dem Tische lag, und sagte: »Gehen Sie entweder sofort weg ... oder schweigen Sie ... Kommen Sie. So muß es sein ...«

Jelisaweta Kijewna seufzte kurz auf, und ihre Wangen erbleichten. Sie fühlte gar nicht, wie sie sich erhob, wie Bessonow sie unter den Arm nahm, wie man ihr unten in den Mantel half. Und als sie in eine Droschke stiegen, vermochte selbst der Wind nicht ihre glühenden Wangen abzukühlen. Die Droschke rasselte über das Pflaster. Bessonow hielt seinen Stock mit beiden Händen, stützte das Kinn auf den Knauf und sprach: »Sie sagten, daß ich lebe. Ich habe gelebt. Ich bin achtunddreißig Jahre alt, aber mein Leben ist zu Ende. Die Liebe kann mich nicht mehr täuschen. Es gibt nichts traurigeres als die plötzliche Erkenntnis, daß das Ritterroß nur ein Holzpferd ist. Und so muß man sich noch lange, lange Zeit durch dieses Leben schleppen ... wie eine Leiche. ...«

Er wandte sich um und hob lächelnd die Oberlippe.

»Es scheint, daß auch ich mit Ihnen auf die Posaune von Jericho warten muß. Schön wäre es, wenn auf diesem Friedhof plötzlich ein Trarara erschallte! Und ein Feuerschein den ganzen Himmel bedeckte. ...«

Sie landeten in einem Vorstadthotel. Ein verschlafener Kellner führte sie durch einen langen Korridor in das einzige noch unbesetzte Zimmer. Es war klein, mit roten Tapeten voller Risse und Flecken. An der Wand stand unter einem verblichenen Baldachin ein mächtiges Bett, und am Fußende des Bettes ein blechener Waschtisch. Es roch nach dumpfer Feuchtigkeit und Tabakrauch. An der Decke brannte trüb eine verstaubte Glühbirne. In der Türe fragte Jelisaweta Kijewna kaum hörbar: »Wozu haben Sie mich hergebracht?«

»Nein, nein, wir werden es hier schön haben,« antwortete Bessonow eilig. Er nahm ihr Hut und Mantel ab und legte beides auf einen zerbrochenen Stuhl. Der Kellner brachte eine Flasche Champagner und einen Teller mit kleinen Äpfeln und Weintrauben, an denen Korkspäne klebten, warf einen Blick in die Waschschüssel und verschwand mit seiner finsteren Miene.

Jelisaweta schob den Fenstervorhang etwas zurück: draußen brannte inmitten eines großen unbebauten Platzes eine Gaslaterne und fuhren mit riesengroßen Fässern beladene Wagen vorbei, auf deren Böcken in Bastdecken gehüllte Männer kauerten. Sie lächelte, trat vor den Spiegel und begann mit eigentümlichen neuen Bewegungen, die ihr selbst fremd waren, ihre Frisur in Ordnung zu bringen. – Wenn ich morgen zur Besinnung komme, werde ich verrückt! sagte sie sich ruhig, indem sie die gestreifte Haarschleife zurechtrückte.

»Wollen Sie Sekt?« fragte Bessonow.

»Ja.«

Sie setzte sich aufs Sofa, er ließ sich auf den Teppich zu ihren Füssen nieder und sagte wie versonnen: »Sie haben seltsame Augen: wild und sanft zugleich. Es sind russische Augen. Lieben Sie mich?«

Sie verlor wieder die Fassung, sagte sich aber gleich: Nein. Das ist ja der Wahnsinn! – Dann nahm sie aus seiner Hand das volle Sektglas und trank es aus; ihr Kopf begann zu schwindeln, als fiele er zurück.

»Ich fürchte Sie und werde Sie wahrscheinlich hassen,« sprach Jelisaweta Kijewna; mit einem Lächeln lauschte sie ihren eigenen Worten, die wie aus der Ferne klangen. »Unterstehen Sie sich nicht, mich so anzusehen, hören Sie?!«

»Sie sind ein sonderbares Mädchen.«

»Bessonow, hören Sie, Sie sind ein gefährlicher Mensch. Ich bin aus einer Sektierer-Familie und glaube an den Teufel. ... Mein Gott, schauen Sie mich doch nicht so an. Ich weiß, wozu Sie mich brauchen. ... Ich fürchte Sie, mein Ehrenwort. ...«

Sie lachte laut auf, ihr ganzer Körper erzitterte vor Lachen, und ihre Hände verschütteten den Sekt. Bessonow legte den Kopf in ihren Schoß.

»Lieben Sie mich. ... Ich flehe Sie an, lieben Sie mich,« bat er voller Verzweiflung, als ob sie seine einzige Rettung wäre. »Es ist mir so schwer. ... Ich fürchte mich so. ... Ich fürchte allein zu sein. ... Lieben Sie mich, lieben Sie mich. ...«

Jelisaweta Kijewna legte ihm ihre Hände auf den Kopf und schloß die Augen. Er erzählte, daß ihn jede Nacht eine Todesangst befalle. Er müsse dicht an seiner Seite einen lebenden Menschen fühlen, der ihn bemitleide und erwärme, der sich ihm hingebe. Es sei eine Strafe, ein Martyrium. ... »Ja, ja, ich weiß es, ich bin ganz erstarrt. Mein Herz schlägt nicht mehr. Erwärmen Sie mich. Ich brauche so wenig. Erbarmen Sie sich, ich gehe zugrunde. Lassen Sie mich nicht allein. Mein liebes, liebes Mädchen. ...«

Jelisaweta Kijewna schwieg erschrocken und erregt. Bessonow bedeckte ihre inneren Handflächen mit immer längeren Küssen. Er küßte auch ihre kräftigen, großen Füße. Sie kniff die Augen noch fester zusammen, es war ihr, als stünde ihr das Herz still, – so schämte sie sich.

Und plötzlich lief etwas wie ein Feuer durch ihren ganzen Körper, das Unruhe und Freude weckte. Bessonow erschien ihr auf einmal so lieb wie ein unglückliches und unschuldiges Kind. Sie hob seinen Kopf und küßte ihn fest und gierig auf den Mund. Dann entkleidete sie sich schnell und ohne Scham und legte sich ins Bett.

* * *

Als Bessonow, den Kopf an ihre bloße Schulter geschmiegt, eingeschlafen war, betrachtete Jelisaweta Kijewna mit ihren kurzsichtigen Augen noch lange sein gelblich weißes Gesicht, das voll müder Falten war: an den Schläfen, unter den Lidern und an den Mundwinkeln. Es war ein fremdes, gar nicht geliebtes, von nun an aber für immer vertrautes Gesicht.

Es war ihr so schwer, auf den Schlafenden zu schauen, daß sie zu weinen begann. Sie dachte, daß wenn Bessonow erwache und sie, die dicke und unschöne, mit den geschwollenen Augen im Bette sehe, er sich beeilen werde, sie so schnell als möglich loszuwerden; daß er sie niemals werde lieben können, daß alle sie für ein verdorbenes, dummes und gemeines Frauenzimmer halten würden und sie auch absichtlich alles tun werde, damit man von ihr so denke; daß sie nur einen Menschen liebe, sich aber einem andern hingegeben habe und daß ihr Leben immer mit Schlamm, Schmutz und schrecklichen Kränkungen angefüllt sein werde. Jelisaweta Kijewna schluchzte leise und wischte sich mit einem Zipfel des Lakens die Augen. Endlich schlief sie, ohne es selbst zu merken, in ihren Tränen ein.

Bessonow zog mit der Nase tief Luft ein, wandte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Sein ganzer Körper schmerzte von einem fürchterlichen Katzenjammer. Ekelhaft war ihm der Gedanke, einen neuen Tag beginnen zu müssen. Er betrachtete lange eine der Metallkugeln am Fußende des Bettes, nahm sich dann zusammen und blickte nach links. Neben ihm lag, gleichfalls auf dem Rücken, eine Frau, ihr Gesicht war vom bloßen Ellenbogen verdeckt.

Wer ist es? – Er strengte sein trübes Gedächtnis an, konnte sich aber auf nichts besinnen. Dann holte er unter dem Kissen das Etui hervor und zündete sich eine Zigarette an. – Zum Teufel! Vollständig vergessen! So ungeschickt. ... –

»Ich glaube, Sie sind schon wach,« sagte er mit einschmeichelnder Stimme. »Guten Morgen!« Sie schwieg und nahm den Ellbogen nicht vom Gesicht. »Gestern waren wir noch einander fremd, heute sind wir aber durch die geheimnisvollen Bande der Nacht verbunden.« Er verzog das Gesicht: es klang ziemlich banal. Vor allen Dingen wußte er aber nicht, was sie gleich anfangen würde: bereuen und weinen, oder zärtlich tun? Er berührte vorsichtig ihren Ellbogen. Sie rückte weg. Es kam ihm vor, sie heiße Valentina. Und er sagte traurig: »Valentina, sind Sie mir böse?«

Sie setzte sich in den Kissen auf, hielt das herabgleitende Hemd mit der Hand an der Brust fest und sah ihn mit ihren hervorstehenden kurzsichtigen Augen an. Ihre Lider waren geschwollen, der volle Mund war zu einem Lächeln verzerrt. Nun besann er sich auf alles und wurde sofort von einer brüderlichen Zärtlichkeit zu ihr ergriffen.

»Ich heiße nicht Valentina, sondern Jelisaweta Kijewna,« sagte sie. »Ich hasse Sie. Stehen Sie auf.«

Bessonow stieg sogleich aus dem Bett, kleidete sich neben dem übelriechenden Waschtisch schnell an, zog dann den Fenstervorhang hinauf und drehte das Licht aus.

»Es gibt Minuten, die man nicht vergißt,« sagte er. Jelisaweta Kijewna beobachtete ihn immer noch mit ihren dunkeln Augen. Als er sich mit einer Zigarette im Munde aufs Sofa setzte, sagte sie: »Wenn ich nach Hause komme, nehme ich Gift.«

»Ich kann Ihre Stimmung nicht begreifen, Jelisaweta Kijewna.«

»Gut, begreifen Sie sie nicht. Gehen Sie weg, ich will mich anziehen.«

Bessonow trat in den Korridor, wo es entsetzlich zog und nach Kohlendunst roch. Er mußte lange warten. Er saß auf der Fensterbank und rauchte. Dann ging er ans Ende des Korridors, wo aus einer kleinen Küche die gedämpften Stimmen des Kellners und zweier Zimmermädchen klangen; sie tranken Tee, und der Kellner sprach: »Du kommst mir wieder mit deinem Dorfe. Was weißt du von Rußland! Geh mal nachts hier durch die Zimmer, – dann hast du dein Rußland. Alle sind Schweinehunde! Schweinehunde und Schmutzkerle.«

»Drücken Sie sich doch etwas delikater aus, Kusjma Iwanytsch.«

»Wenn ich hier in diesem Hotel seit achtzehn Jahren angestellt bin, darf ich mich wohl so ausdrücken.«

Bessonow ging zurück. Die Tür stand offen, das Zimmer war leer. Auf dem Boden lag sein Hut.

Nun, um so besser, sagte er sich. Dann gähnte er und reckte die Glieder.

So fing der neue Tag an. Er unterschied sich vom gestrigen dadurch, daß ein starker Wind gegen zehn Uhr morgens die Regenwolken zerriß, die Fetzen nach Norden trieb und dort zu großen weißen Ballen häufte. Die nasse Stadt war von frischen Strömen von Sonnenlicht übergössen. In diesem Lichte wandten sich in Krämpfen und verendeten die schleimigen, dem Auge unsichtbaren Ungeheuer: Schnupfen, Husten, bösartige Erkältungen und melancholische Tuberkelbazillen; selbst die halbmystischen Mikroben der schwarzen Neurasthenie verkrochen sich in die Portieren, ins Halbdunkel der Zimmer und der feuchten Keller. Durch die Straßen wehte ein warmer Wind. Hausknechte in farbigen Hemden kehrten und besprengten das Pflaster. Auf dem Newskij boten lasterhafte kleine Mädchen mit grünen Gesichtern den Passanten Sträußchen von Schneeglöckchen an, die nach billigem Eau de Cologne rochen. In den Läden räumte man in aller Eile die Wintersachen weg, und in den Schaufenstern erschienen gleich den ersten Blumen Frühlingshüte, leichte Stoffe, Bücher pikanten Inhalts und lustige Krawatten.

Die Dreiuhrblätter erschienen sämtlich mit der Überschrift: »Hoch der russische Frühling!« Manche von den veröffentlichten Versen waren ziemlich doppelsinnig. Mit einem Worte, der Zensur wurde eine Nase gedreht.

Schließlich zogen durch die Stadt unter dem Gepfeife und Gejohle von Straßenjungen die Futuristen von der »Zentrale«. Es waren ihrer drei: Schirow, der Maler Walet und der damals noch völlig unbekannte Arkady Ssemiswjetow, ein baumlanger Kerl mit einem Pferdegesicht und auffallend sehnigen Händen. Die Futuristen trugen kurze gürtellose Jacken aus orangegelbem Samt mit schwarzen Zickzacklinien, Zylinderhüte und Monokel mit Schnüren. Ein jeder hatte auf der Wange einen Fisch, einen Pfeil und ein »P« gemalt. Gegen fünf Uhr wurden sie von der Polizei sistiert und zur Feststellung der Personalien in einer Droschke aufs Polizeirevier gebracht.

Die ganze Stadt war auf den Straßen. Auf der Morskaja, auf den Kais und dem Kamennoostrowskij-Prospekt bewegten sich glänzende Equipagen und Ströme von Menschen. Viele, sehr viele hatten den Eindruck, daß heute etwas Ungewöhnliches und Erfreuliches geschehen müsse: entweder werde im Winterpalais irgendein Manifest unterschrieben, oder der Ministerrat mittels einer Bombe in die Luft gesprengt werden; es werde überhaupt irgendwo irgendwas losgehen«.

Über der Stadt senkte sich aber die blaue Dämmerung, längs der Kanäle und Straßen leuchteten Flammen auf, die sich als zitternde Nadeln im schwarzen Wasser spiegelten, und von den Newa-Brücken wurde hinter den Schornsteinen der Werften ein riesengroßes, rauchiges und bewölktes Abendrot sichtbar. Und es geschah nichts. Die Nadel der Peter-Pauls-Festung leuchtet zum letztenmal auf, und der Tag ging zu Ende.

Bessonow hatte an diesem Tage viel und mit Erfolg gearbeitet. Vom Nachmittagsschläfchen erfrischt, las er lange Goethe, und die Lektüre hatte ihn wie immer erregt.

Er ging in seinem Zimmer mit den Bücherschränken auf und ab, rauchte und sprach mit sich selbst; ab und zu setzte er sich an den Schreibtisch und notierte die Worte und Zeilen; um sich noch mehr anzuregen, ließ er sich schwarzen Kaffee geben, und seine ehemalige Kinderfrau, die seine kleine Junggesellenwirtschaft versah, brachte auf einem Tablett eine nach Mokka duftende Porzellankanne.

Bessonow schrieb, daß über Rußland sich die Nacht senke, daß der Vorhang der Tragödie aufgehe und daß das Gotträger-Volk sich so wunderbar wie der Kosak in Gogols »Schreckliche Rache« in einen Bekämpfer Gottes verwandle und eine furchtbare Larve aufsetze. Es werde eine schwarze Messe vor dem ganzen Volke abgehalten werden. Der Abgrund habe sich aufgetan. Es gebe keine Rettung mehr. Man müsse die Sünde auf sich nehmen.

Er schloß die Augen und stellte sich leere Felder vor, Kreuze auf Grabhügeln, vom Winde zerstörte Dächer und am Horizont hinter den Hügeln den Widerschein von Feuersbrünsten. Er umfaßte den Kopf mit beiden Händen und dachte sich, daß er dieses Land, das er bloß aus Büchern und Bildern kannte, nur in dieser Gestalt lieben könne. Auf seiner Stirne bildeten sich tiefe Furchen, sein Herz war von schrecklichen Ahnungen erfüllt. Dann bedeckte er, eine rauchende Zigarette zwischen den Fingern, ein knisterndes Quartblatt nach dem andern mit seinen großen Schriftzügen.

In der Abenddämmerung legte sich Bessonow, ohne Licht zu machen, aufs Sofa; er war immer noch erregt und hatte einen heißen Kopf und feuchte Hände. Damit war sein Arbeitstag zu Ende.

Sein Herz fing allmählich an, ruhiger und gleichmäßiger zu schlagen. Nun mußte er nachdenken, wie der Abend und die Nacht zuzubringen wären. Brrr! Niemand hatte telephoniert, niemand hatte ihn aufgesucht. Also mußte er versuchen, ganz allein mit dem Dämon der Langweile fertig zu werden. Oben, bei der englischen Familie wurde Klavier gespielt, und die Töne dieser Musik weckten unbestimmte und unmögliche Wünsche.

Plötzlich schrillte durch die Stille des Hauses die Türklingel. Die Kinderfrau schlürfte in ihren Pantoffeln vorbei. Eine laute weibliche Stimme sagte: »Ich will ihn sprechen.«

Dann – leichte, stürmische Schritte, die vor seiner Tür erstarrten. Bessonow lächelte, ohne sich zu regen. Die Türe ging, ohne daß man zuvor angeklopft hätte, auf, und ins Zimmer trat, von rückwärts, aus dem Vorzimmer beleuchtet, ein großes schlankes junges Mädchen in großem Hut mit einem Busch steil ragender Margueriten. Sie konnte im Halbdunkel nichts unterscheiden und blieb mitten im Zimmer stehen; und als Bessonow sich schweigend vom Sofa erhob, wich sie erst zurück, schüttelte aber dann trotzig den Kopf und sagte mit der gleichen hohen, herausfordernden Stimme: »Ich komme zu Ihnen in einer sehr wichtigen Angelegenheit.«

Bessonow trat an den Tisch und schaltete das Licht ein. Zwischen den Büchern und Manuskripten leuchtete ein blauer Lampenschirm auf, der das ganze Zimmer mit ruhig gedämpftem Lichte füllte.

»Womit kann ich dienen?« fragte Alexej Alexejewitsch; er bot der Besucherin einen Stuhl an, setzte sich selbst ruhig in seinen Arbeitssessel und legte seine schwachen Hände auf die Armlehnen. Sein Gesicht war durchsichtig blaß, mit blauen Flecken unter den Augen. Er richtete seinen Blick langsam auf das junge Mädchen und fuhr plötzlich zusammen; seine Finger zitterten. »Darja Dmitrijewna!« sagte er leise. »Ich habe Sie im ersten Augenblick nicht erkannt.«

Ebenso entschlossen, wie sie eingetreten war, setzte sich Dascha auf den Stuhl. Sie faltete ihre mit Glacéhandschuhen bekleideten Hände im Schoße und runzelte böse die Stirn.

»Darja Dmitrijewna, ich bin glücklich, daß Sie mich aufgesucht haben. Das ist ein großes Geschenk.«

Dascha entgegnete, ohne ihm zuzuhören: »Glauben Sie, bitte, nicht, daß ich eine Verehrerin von Ihnen bin. Einige Ihrer Verse gefallen mir, andere gefallen mir nicht, – ich verstehe sie nicht, ich liebe sie einfach nicht. Ich bin nicht hergekommen, um über Verse zu sprechen. ... Ich bin gekommen, weil sie mich müde gequält haben. ...«

Sie neigte tief den Kopf, und Bessonow sah, daß ihr Hals und ihre Arme zwischen den Handschuhen und den Ärmeln des schwarzen Kleides rot geworden waren. Er schwieg und rührte sich nicht.

»Ich bin Ihnen natürlich ganz gleichgültig; ich wünschte, daß Sie mir auch gleichgültig wären. Aber wie Sie sehen, gibt es höchst unangenehme Augenblicke. ...«

Sie hob schnell den Kopf und sah ihm mit ihren strengen, klaren Augen in die seinen. Bessonow senkte langsam die Wimpern.

»Ich kann mit mir nicht fertig werden, verstehen Sie es? Sie sind in mich wie eine Krankheit eingedrungen. Ich ertappe mich jeden Augenblick darauf, daß ich an Sie denke. Das ging schließlich über meine Kraft. Es war besser, herzukommen und alles auszusprechen, als in dieser Schwüle zu leben. Heute habe ich mich dazu entschlossen. Nun, sehen Sie: ich habe Ihnen eine Liebeserklärung gemacht. ...«

Ihre Lippen zitterten. Sie wandte sich hastig um und blickte auf die Wand, wo die von unten beleuchtete, um jene Zeit bei den Dichtern beliebte Maske Peters des Großen mit dem geschlossenen Munde und den gesenkten Lidern zu lächeln schien. Oben, beim englischen Pastor sangen die vier Stimmen der Fuge: »Wir werden sterben.« – »Nein, wir fliegen fort.« – »In den kristallhellen Himmel.« – »In die ewige, ewige, ewige Freude.«

»Wenn Sie mich zu versichern anfangen, daß Sie gegen mich die gleichen Gefühle hegen, so gehe ich augenblicklich,« fuhr Dascha hastig und erregt fort. »Sie können mich nicht einmal achten, – das ist klar. Eine Frau handelt sonst nicht so. Aber ich will von Ihnen nichts und bitte Sie um nichts. Ich mußte Ihnen nur sagen, daß ich Sie schmerzvoll und leidenschaftlich geliebt habe. ... Dieses Gefühl hat mich ganz ruiniert. ... Ich habe sogar keinen Stolz. ...« Dabei dachte sie sich: Jetzt aufstehen, hochmütig mit dem Kopf nicken und weggehen. – Aber sie blieb sitzen, den Blick auf die lächelnde Maske geheftet. Ihrer hatte sich eine solche Schwäche bemächtigt, daß sie keine Hand heben konnte, und sie fühlte nun ihren ganzen Körper, seine Schwere und Wärme. – Antworte doch, antworte! dachte sie wie im Traume.

Bessonow bedeckte sein Gesicht mit einer Hand und begann so leise und gedämpft, wie man in der Kirche zu sprechen pflegt: »Ich kann Ihnen nur mit meinem ganzen Geiste für dieses Gefühl danken. Solche Minuten, solchen Duft, wie der, mit dem Sie mich angehaucht haben, vergißt man niemals. ...«

»Es wird von Ihnen gar nicht verlangt, daß Sie es nie vergessen,« murmelte Dascha durch die Zähne.

Bessonow schwieg eine Weile, stand dann auf und lehnte sich mit dem Rücken an den Bücherschrank.

»Darja Dmitrijewna, ich kann mich vor Ihnen nur tief verbeugen. Ich war unwürdig. Ihnen zuzuhören. Vielleicht habe ich mich noch niemals so verdammt, wie in diesen Minuten. Ich habe mich ganz verausgabt und verschwendet. Womit kann ich Ihnen antworten? Mit einer Einladung in ein Vorstadthotel? Darja Dmitrijewna, ich bin gegen Sie ehrlich. Ich habe nichts, womit ich lieben könnte. Vor einigen Jahren hätte ich noch geglaubt, daß ich von der ewigen Jugend trinken kann. Ich würde Sie nicht fortgelassen haben. Ich hätte von diesem Kelch getrunken. ...«

Dascha war es, als bohrte er seine Nadeln in sie ein. In seinen Worten war ein berauschender Schmerz.

»Jetzt verschütte ich nur den kostbaren Wein. Sie müssen begreifen, was es mich kostet. Die Hand ausstrecken und nehmen. ...«

»Nein, nein,« flüsterte Dascha schnell.

»Nein: ja ... Und Sie fühlen es selbst. Es gibt keine süßere Sünde als Verschwenden, Verschütten. Dazu sind Sie zu mir gekommen. Sonst hätten Sie die Ihnen von Gott gegebene Schale mit Honig in alle Ewigkeit hinter weißen Vorhängen bewahrt. Sie haben sie mir gebracht. ...« Er schloß langsam die Augen. Dascha blickte entsetzt, ohne zu atmen, ihm ins Gesicht. »Darja Dmitrijewna, gestatten Sie mir aufrichtig zu sein. Sie sehen so Ihrer Schwester ähnlich, daß ich im ersten Augenblick ...«

»Was?« rief Dascha. »Was haben Sie gesagt?« Dascha sprang auf und stellte sich vor ihn. Bessonow hatte ihre Aufregung mißverstanden. Er fühlte, daß er den Kopf verlor. Seine Nüstern atmeten ihr Parfüm ein und den betäubenden und für jeden verschiedenen weiblichen Duft.

»Das ist Wahnsinn. ... Ich weiß es. ... Ich kann nicht. ...« flüsterte er und tastete nach ihrer Hand. Dascha riß sich aber los und lief davon. An der Schwelle sah sie sich noch einmal mit wilden Augen um und verschwand. Die Haustür fiel krachend in Schloß. Bessonow trat langsam an den Tisch und entnahm der Kristalldose mit zitternden Fingern eine Zigarette. Dann drückte er sich die Hand auf die Augen und fühlte mit seiner ganzen erschütternden Einbildungskraft, wie der Weiße Orden sich zum entscheidenden Kampfe rüstete und ihm dieses feurige, zarte und verführerische junge Mädchen gesandt habe, um ihn zu fesseln, zu bekehren und zu retten. Er aber war unrettbar den Schwarzen verfallen. So langsam, wie Gift sich im Blute verbreitet, verzehrten ihn unbefriedigte Gier und Reue.


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