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Auf wie verschiedene Arten wird die Zeit benutzt!
St. Augustin, Beichten B. I. G. 2.
Diese Scene ereignete sich in Paris, während jener Nacht, in welcher der Baron von Cernan nach Nevers kam. Es war eine rabenschwarze, kalte, stürmische Nacht; stromweis floß der Regen nieder, und heftige Windstöße peitschten ihn auf die Dächer der Häuser, die vom Wasser trieften; die Straßen waren leer und selten unterbrachen Fußtritte das eintönige Rauschen der herabfallenden Tropfen.
Am Ende der Vorstadt St. Antoine lag das sonst sogenannte Hospital, der Zufluchts- und Aufbewahrungsort für öffentliche Dirnen, für Weiber, die bei Diebstählen oder andern Verbrechen ertappt worden waren.
Da saß in engem Gewahrsam die Herzogin von Almeda.
Durch die finstre, regnerische Nacht wurden die Umgebungen dieser traurigen Stätte zur fürchterlichen Einöde.
Ein enges und krummes Gäßchen lief längs der Mauer hin, die einen der äußern Vorhöfe dieses Gefängnisses einschloß.
In jenem Gäßchen lauerte, tief in einen Mantel gehüllt, ein Mensch, wie es schien, auf irgend ein Zeichen; denn alle Augenblicke dehnte er den Hals, blickte starr nach der Höhe der Mauer, und lauschte auf das geringste Geräusch.
Nach einer Viertelstunde fiel ein Stein, an welchen ein langes Seil gebunden war, zu den Füßen des Mannes im Mantel nieder, der alsbald seine Kappe abwarf, den Stein aufhob und das Seil leicht schüttelte, das man ohne Zweifel jenseits der Mauer festhielt; denn ein gleiches Schütteln erwiederte das Zeichen. – Da befestigte Perez, – denn dieser war es, – eiligst an das Seil ein anderes voller Knoten, in welchen kleine Eisenklammern eingeknüpft waren, gab das Zeichen von Neuem, und das Seil glitt über die Mauer hin.
In demselben Augenblicke schienen Regen und Wind ihre Wuth zu verdoppeln, das Wasser stürzte in Strömen nieder, deren Silberglanz mitten im Dunkel der Nacht ein bemerkbarer Reif zu sein schien. Der Orkan heulte gewaltig, und knickte die kahlen Zweige einiger Bäume, deren Wipfel die Mauer überragten, morsch zusammen. Da fiel ein zweiter Stein, und Perez ergriff mit starkem Arm das Ende der Strickleiter, und stämmte sich kräftig, denn bald bemerkte er an der plötzlichen Anspannung des Seils, daß der Gefangene jenseit der Mauer bereits darauf gestiegen war; wenige Minuten dauerte dieses Aufsteigen, als auf einmal eine heftige Erschütterung der Leiter Perez in Todesschreck versetzte, und während er hierauf immer noch mit aller Kraft das Ende derselben festhielt, gab das Seil auf einmal nach und glitt größtentheils in seine Hände. Perez stieß einen Schrei des Entsetzens aus.
Seinen Schrecken kann man sich leicht denken; denn er glaubte, daß in dem Augenblicke, wo das Seil so plötzlich schlaff geworden war, Rita, zu schwach, um den Forst der Mauer zu erreichen, gefallen wäre, sich vielleicht beschädigt, vielleicht gar todt gefallen habe. Fürchterlich mußte hierbei die ihr so treue Seele leiden. Zitternd vor Schrecken drückte er sein Ohr an die Mauer, die ihn von Rita trennte. In Todesangst krümmte er sich, und suchte durch die stummen, fühllosen Steine den Hülferuf der unglücklichen Herzogin zu vernehmen, wobei der Gedanke ihn peinigte: »Dort ist sie, auf dem nämlichen Boden, auf der nämlichen Fläche, wie ich, hinter dieser Mauer, die kaum so stark wie mein Arm ist, und ich höre nichts! und ich sehe nichts! –« Das war ein schrecklicher Augenblick. –
Da fiel ein Strahl der Hoffnung in Perez's Seele. Ein Stein glitt neben ihm nieder, die Leiter ward längs der Mauer zurückgezogen und wieder straff.
Er nahm seine vorige Stellung wieder ein.
Fünf Minuten darauf erschien Rita in Mannskleidern auf dem schwindlich hohen Forst der Mauer, und stieg vorsichtig herab.
Bald war die Herzogin frei, und Perez lag ihr zu Füßen und küßte ihre Hände; doch sprechen konnte er nicht, sein Herz war zu voll.
»Perez, Perez!« rief Rita, »Du gute, treue Seele, wie soll ich Dir jemals vergelten –«
Da ward sie schwach, wankte und sank ohnmächtig nieder. –
Der Regen strömte noch immer, der Wind verdoppelte seine Heftigkeit. Perez befand sich in einer peinlichen Angst: denn wie leicht konnte ihn nicht eine Polizei-Patrouille überraschen! Deshalb wandte er alle Mittel an, Rita wieder zum Bewußtsein zu bringen. Da ihm dies nicht gelang, entschloß er sich, sie fortzutragen, nahm sie auf seine Arme, und ging so einige Schritte.
Bald brachte die Kälte der durchnäßten Kleider und der ihr in's Gesicht schlagende Regen die Herzogin zu sich. Sie öffnete die Augen und fragte Perez: »Wo bin ich?«
Perez blieb stehen. –
»Laß mich ein wenig mich sammeln, Perez,« sprach sie, »lehne mich an diese Mauer; denn ich fühle mich schwach, sehr schwach. Der Fall war mir sehr schmerzhaft, meine Hände triefen von Blut – und der Kopf auch – ach, ich glaubte, niemals wieder aufstehen zu können. – Doch wohlan, Perez, Muth! – Du siehst, die Hölle selbst steht mir bei, und das Unwetter ist uns günstig; wohlan, Perez! Hoffnung, Muth! – ich sagte Dir es wohl, daß noch nichts ganz verloren –«
Und in dieser festen Ueberzeugung fand das unglückliche Weib alle ihre Kräfte, alle ihre Geistesgegenwart wieder, und schritt nunmehr festen Trittes fort, gestützt auf Perez's Arm, zerquetscht, beschmutzt, triefend von Wasser und Blut, und erreichte so unter dem Geleite ihres Stallmeisters die Straße der Vorstadt St. Antoine; denn Perez hatte aus Vorsicht keinen Wagen in die Nähe des Spitalgäßchens bringen wollen, um nicht Verdacht zu erregen. Er hoffte, einen Wagen in der Vorstadt St. Antoine zu finden, wo man deren gewöhnlich traf, da in diesem Viertel petites-maisons großer Herren lagen; denn klug genug bediente man sich damals der Fiaker, um sich in jene geheimnißvollen Stätten zu begeben, indem man in so prunklosen Wagen, auf welche Niemand achtete, das Incognito besser bewahren konnte.
Schon gaben Perez und die Herzogin die Hoffnung auf, einen zu treffen, als sie kaum 20 Schritte weit einen bemerkten, der in das St. Marcell-Gäßchen fuhr.
»Rasch, gnädige Frau,« rief Perez, »vielleicht ist jener Fiaker leer.«
Bald waren sie dem Wagen so nahe, daß ihr Rufen ihn erreichen konnte.
»Halt an!« rief Perez im vollen Laufe.
Der Kutscher gab keine Antwort.
»Halt an! wenn Dein Wagen leer ist,« rief Perez noch ein Mal, und hatte bereits den Fiaker erreicht.
Auf Perez's Ruf flog das Fenster eines der Wagenschläge zurück.
»Mein Wagen ist voll,« rief der Kutscher, und hieb auf die Pferde, welche Perez am Zaume hielt.
»Ha, das muß ich sehen!« rief die Herzogin, und stürzte sich auf den Wagenschlag, dessen Fenster offen waren.
Da streckte plötzlich ein Mensch den Kopf durch dieses Fenster, und rief: »Höll' und Teufel, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, mein Herr, so gehen Sie Ihrer Wege.«
Die unglückliche Herzogin stieß einen Schrei des Entsetzens aus, und sank zusammen.
Jener Mann, er war es – es war Heinrich mit einem dicht verhüllten weiblichen Wesen.
Auf den Schrei der Herzogin ließ Perez den Zügel der Pferde fahren, und sprang ihr zu Hülfe.
Der Kutscher schwang die Peitsche; der Fiaker rollte dahin, und Perez konnte noch folgende Worte Heinrichs vernehmen: »Beruhige Dich, süßer Engel, beruhige Dich, Cäcilie, es war ein Betrunkener, der sich verspätet hat.«
Das Kabinet einer petite maison im St. Marcell-Gäßchen.
Eine verborgene Ampel ergoß von der Höhe der gewölbten Decke ein geheimnißvolles Licht über das kostbare Zimmer. Hell und lodernd knisterte in dem granitenen, mit Goldsimsen verzierten Kamine ein großes Feuer. Die eng verschlossenen Fenster waren mit dichten Atlasvorhängen verhüllt. Die Luft war geschwängert mit den Wohlgerüchen der Blumen, die in einem anstoßenden Gartenhause standen. Die Wände des Kabinets waren mit weißem, blau- und silberblumigen Sammt ausgeschlagen. Das Heulen des Unwetters drang durch die doppelten Fenster und dichten Vorhänge nur schwach und wie aus weiter Ferne herein.
Das heulende Rauschen erhöhte durch seinen Contrast die Harmonie dieser Scene des Entzückens; denn, wie man sagt und ich auch gern glaube, es ist ein unaussprechlicher Genuß, draußen den Wind heulen, den Regen rauschen zu hören, während man in einem niedlichen, wohlverschlossenen Kabinet, beim hellen Feuer des Kamins, halb liegend bei der Frau eines Andern, den Kopf in ihrem Schoße, von Liebe kos't, indem man noch ein köstliches Mahl und eine lange Nacht der glühenden und verbotenen Lust zu erwarten hat.
In jenem überschwenglichen Entzücken nun schwelgte Heinrich in dem Kabinet seiner petite maison, das wir so eben beschrieben haben.
Heinrich saß schmachtend zu Cäciliens Füßen, ihre Hände verschlangen sich, und lüstern ruhte sein Blick auf ihr.
»Ha! noch zittre ich, Heinrich,« sprach Frau von Cernan. »Jener Mensch war entsetzlich.«
»Aber, theurer Engel, denkst Du denn, daß Leute, die um diese Zeit auf den Gassen herumlaufen, holde und feine Leutchen sind?«
»Scherzen Sie nicht so, Heinrich, ich bin nur allzusehr erschrocken.«
»Aber über was, holder Engel? Ein Betrunkener hält unsern Wagen auf, das ist was Gewöhnliches. Dieser Mensch ist ein Grobian, das ist auch sehr natürlich. – Darum sei ohne Furcht, ich liebe Dich ja so sehr, ja, ich liebe Dich, Cäcilie, innig, ach so innig! Uns umschlang das Band der Liebe so schnell und wunderbar, daß es kein gewöhnliches und gemeines sein kann.«
»Heinrich, Heinrich! – Wie viel solcher Liebesschwüre haben diese Wände schon gehört?«
»Dann, Cäcilie, hättest Du schon ein Mal mein sein müssen; dann hätten diese Fenster diese holden Augen, diesen rosigen Mund, diesen üppigen Wuchs gewiß schon ein Mal abgespiegelt. Aber nein, heut' ward ihnen zum ersten Mal dieses Glück, und sieh, deshalb beneide ich dieses Glas; doch nein, nein, im Gegentheil, ich liebe es, ich liebe es, so wie ich das Echo lieben würde, das mir den süßen Hall Deiner Stimme vielfältig wiedertönte.«
»In der That, Heinrich, es ist ein Traum,« lispelte Cäcilie, und ihre Augen schlossen sich allmälig, »und doch kann ich kaum für einen Traum es halten.«
»Ja, Cäcilie, ja, mein Engel, es ist ein Traum, ein goldener Traum, glaube mir es. Ja, wenn Du Dich einst dieses Tages des Glücks und der Liebe erinnern wirst, möge Dein Herz Dir sagen: Dieses Glück war flüchtig, jene Liebe leidenschaftlich, jene Gluth berauschend, ja, es war ein Traum.« Und dann fuhr Heinrich lächelnd fort: »Sei überzeugt, Cäcilie, daß eine so wirkliche Wirklichkeit einem Traume nur selten so gleicht.«
»Ach, schweig –«
»Nun denn, ja, ich will schweigen, holder Engel, ich will schweigen, meine Küsse werden für mich sprechen. Ein langer Kuß, von den Spitzen Deiner zarten, sammtenen Finger aufsteigend durch diesen vollen Lilienarm, wird er Dir nicht deutlicher, als ich es kann, zuflüstern: Diese schöne Hand, diesen göttlichen Arm, ich liebe sie! – Ich will schweigen, und wenn meine Lippen Deine Wimpern schließen, wird dieser liebeglühende Druck deutlicher, als meine Stimme es vermag, Dir zuflüstern: Ach, diese reizenden Augen mit jenen herztreffenden Blicken, ich liebe sie, ich liebe sie! – Ich will schweigen –«
»Ach nein, rede, Heinrich, rede! Ach, wie tönt Deine Stimme mir so süß und hold! Doch sage mir, Heinrich, warum jedes Wort aus Deinem Munde, dem Ohre längst verklungen, so lange in meinem Herzen noch nachhallt? Woher das Wohlgefühl und die Schwäche, die mich ergreift? Warum ich mich nicht vor dem Tode fürchte, und käme er morgen oder heute schon? Nie, ach nie, fühlte ich ein solches Glück. Woher kommt jenes Wohlbehagen, das mich durchglüht, woher jene stürmische und glühende Regung, die mir das Blut durch die Adern treibt und mit jedem Deiner Küsse magisch steigt? Ja, wenn Du meine Augen küssest, das ist Wonne; wenn Du meine Hände küssest, das ist Wonne, Wonne zum Sterben, Wonne, Götter neidisch zu machen. Woher dies? sprich, Heinrich!«
»Woher, meine Cäcilie?« rief Heinrich, und umschlang mit seinen Armen Cäciliens Leib, und sein Haupt sank an ihren Busen. »Woher dies? – Sieh', Du folgst dem Rufe Deines Herzens, das Dir zuflüstert: ›Er liebt Dich!‹ – weil zwei Herzen, die ein Gott für einander schuf, sich gegenseitig entfalten, weil –«
Heinrich vollendete seine Rede nicht; denn eben knarrten die Doppelthüren des Kabinets in ihren Angeln, öffneten sich, ohne daß Jemand sich zeigte, und boten den herrlichen Anblick auf einen niedlichen Speisesaal dar, dessen Wände von Gold und Scharlachbildern strahlten. Ein großes Feuer brannte in einem Marmorkamine, welches Blumen umblühten, die ihre bunten Farben mit dem Schein der Wachskerzen vermählten, die in Krystall-Kandelabern strahlten.
Die Tafel war auf einem beweglichen Boden, wie sonst gewöhnlich, errichtet, und zwei kleine Seitentischchen, die das zur Besetzung der Tafel Nöthige trugen, machten jede lästige Bedienung unnöthig.
»Ich will Dir ein schweres Geständniß thun,« rief Heinrich mit schamvollen Blicken, und setzte sich hart neben Cäcilien an die Tafel, – »nämlich, ich habe erschrecklichen Appetit.« –
»Und ich,« erwiederte Cäcilie mit noch schamvollerem Blick, »wage es kaum, Dir zu sagen, daß ich fast vor Hunger sterbe.«
»Ei, wie schön, Cäcilie, setze Dich dort hin, neben mich. – Bei Gott, die Liebe ist ein schönes Ding, aber ein köstliches Mahl und die Liebe sind zwei schöne Dinge.«
Darauf speisten sie, und mit Erröthen muß ich's gestehen, sie aßen tüchtig. – Auch darf ich nicht verschweigen, daß durch jene verwünschte Obergewalt der Natur über das Gefühl ihre Augen immer funkelnder, ihre Wangen immer rosiger wurden, Cäciliens Lippen in dunklerm Karmin brannten, und ihre Perlenzähne in der Farbe der Lilien glänzten.
Da wich der leise Anklang süßer Schwermuth, der anfangs die Herzen fesselte, vor einem ungezwungenen Lächeln der Liebe, bis endlich eine Spieluhr in harmonischen Tönen die Mitternacht verkündete, und Heinrich ausrief: »Schon Mitternacht, Cäcilie!«
Kaum war dies Wort über seine Lippen, da schlossen sich hinter ihnen die Doppelthüren des Kabinets, und leer und öde war es im Speisesaal.
Fast zur nämlichen Stunde und in derselben Nacht ereignete sich eine andere Scene in Nevers in einem Zimmer des Herrn von St. Cyr.
Herr von St. Cyr war 30 Jahre alt; er hatte blondes Haar, lebensfrische Farbe und einen eleganten Wuchs; schön, sehr schön waren seine Gesichtszüge, seine Augen ruhig, sein Kopf nicht niedergebeugt, sein Antlitz edel und ausdrucksvoll, seine Reden ernst und kalt und voll von einer Majestät, die sich sogar bei jeder Prise Schnupftabak im glänzendsten Lichte zeigte.
Es ist Mitternacht. Herr von St. Cyr, noch im Schlafrock, hat so eben durch seinen Bedienten sich die Haare toupiren lassen. Er entläßt ihn, setzt sich zum Kamin, ergreift ein Portefeuille von grünem, mit einer Guirlande von Sinnblumen und Immortellen gestickten Atlas, zieht daraus ein Packet Briefe hervor, breitet sie auf der Tafel aus, und liest sie mit Nachdenken.
Es sind Cäciliens Briefe.
»Und immer noch keine Antwort auf meine beiden letzten Briefe!« rief Herr von St. Cyr, nachdem er seine Liebescorrespondenz wohl zehn Mal durchgelesen hatte. – »Ein sonderbares Weib, ja sonderbar, denn mitten unter jener Leichtfertigkeit der Sitten, die jetzt einreißt, ist sie eine von den Wenigen, welche rein bleibt, und so, meiner Ansicht nach, mehr Achtung verdient, als ein durchaus tugendhaftes Weib. – Wenigstens kämpft meine Cäcilie; – ja, ich kann sagen: meine Cäcilie,– wenigstens kämpft und ringt meine Cäcilie – ach, wie viel Wohl und Wehe liegt in dem Gedanken: sie liebt mich, doch noch mehr liebt sie die Tugend. Ach, dies ist einer von jenen Vorzügen, die entzücken und dennoch zur Verzweiflung bringen können. – Bald sechs Monate sind's, seit sie meine Liebe billigt, und noch habe ich kein anderes Zeichen von Gegenliebe als ihre Briefe. Was sage ich? Keinen andern Beweis! O, ich Unglücklicher! Ha! und ist es nicht genug, mein Gott, die aufrichtige Zuneigung, dieses hehren und göttlichen Weibes zu besitzen? Keinen andern Beweis – und welchen könnte ich noch wünschen? Ha! ich Verruchter, sollte ich wünschen, sie zu entehren, sie in ihren Augen zu erniedrigen, ihr vor den Blicken ihres Gemahls eine bange Schamröthe abzwingen, sie schrecklichen Gewissensbissen preisgeben; und warum? – weil ich mir das Recht genommen hätte, das ein thierischer Besitz uns bietet, während ich jetzt schuldlos des höchsten Genusses mich erfreue, und mir sagen kann: sie ist rein, sie ist tugendhaft, sie ist würdig ihres Gemahls und meiner. Solche Liebe, die uns umschlingt, ist frei von dem Unheil dieser Welt; denn sie ist nicht von dieser Welt; ist eine keusche Liebe, eine edle und erhabene Liebe, die nicht das stolze Lächeln der Tugend verscheucht, weil man ihr die niedrigen und erbärmlichen Lüste der Sinne geopfert hat. O Liebe!« –
Unglücklicherweise ward dieser rührende Monolog durch das Rollen eines Postwagens, der vor der Thür des Hauses anhielt, und durch den hereinstürzenden Diener des Herrn von St. Cyr unterbrochen, der blaß, wie der Tod, ihm kaum schnell genug zurufen konnte: »Der Herr Baron von Cernan ist da, er folgt mir auf den Fersen.«
Da spazierten denn, wie durch einen mächtigen Zauber, die Briefe wieder in das grüne Portefeuille, und als Herr von Cernan in's Zimmer trat, fand er Herrn von St. Cyr kalt und ruhig vor seinem Kamin stehen.
Herr von St. Cyr. Welchem glücklichen Zufalle verdanke ich den Besuch des Herrn von Cernan?
Der Baron von Cernan. Mein Herr, ich bitte, wollten Sie wohl gütigst Ihre Leute entfernen?
( Der Bediente geht ab.)
Herr von St. Cyr. Sie kommen in einer schrecklichen Nacht, mein Herr. Sie müssen einen wichtigen Beweggrund haben.
Der Baron von Cernan. Allerdings sehr wichtig, mein Herr; doch ohne alle Umstände und deutsch gesprochen, mein Herr; Sie haben an meine Frau geschrieben, diese hat Ihnen geantwortet, – ich weiß Alles.
Herr von St. Cyr. Mein Herr –
Der Baron von Cernan. ( zeigt ihm ein Packet.) Alles Läugnen ist unnütz, mein Herr; hier sind Ihre Briefe.
Herr von St. Cyr. Ich begreife jetzt den Zweck Ihres Besuchs, mein Herr, und stehe Ihnen zu Diensten, wenn's beliebt.
Der Baron von Cernan. Hören Sie mich, mein Herr. Als gestern meine Frau hörte, daß ich bald nach Amerika reisen würde, warf sie sich mir zu Füßen, und weinte zwar nicht, doch das Verlegene in ihrer Miene, ihre Blässe, ihre Bewegung ließen mich leicht ahnen, daß sie mir ein wichtiges Geheimniß entdecken wolle; – in der That, mein Herr, sie hat mir Alles gesagt, ihre Reue und ihre Angst gestanden, Alles gestanden, mein Herr; sie hat mir Ihre Briefe gegeben, und mich fußfällig beschworen, augenblicklich abzureisen, um sie Ihnen wiederzugeben, die ihrigen von Ihnen mir auszubitten, und sie so der Gefahr zu entreißen, die ihr während meiner Abreise drohte, mit der Bitte, es ihr zu erlauben, daß sie während meines Aufenthalts in Amerika sich in ein Kloster flüchten dürfe. Ihre Briefe, mein Herr, habe ich gelesen, und wie bitter auch solch' eine Entdeckung einem Ehemanne sein muß, fand ich doch große Beruhigung darin, daß ich sah, mein Weib sei noch rein, und Sie hätten, weit entfernt, diesem verhängnißvollen Glücksstern blind zu folgen, im Gegentheile Cäcilien in der Liebe zu ihrer Pflicht ermahnt, und sich mit einer reinen und uneigennützigen Neigung begnügt. Mit einem andern Manne, als Sie, mein Herr, wäre kurzer Prozeß gewesen; ich wäre hierher gekommen, hätte Ihnen Vorwürfe gemacht, Ihnen den Hals gebrochen, oder mir ihn von Ihnen brechen lassen. Mit Ihnen, Herr von St. Cyr, verfahre ich anders, mit Ihren Briefen so – ( der Baron wirft sie in's Feuer) – und nun hoffe ich von Ihrer Rechtlichkeit ein gleiches Opfer.
Herr von St. Cyr. Sie handeln als Biedermann, mein Herr, und ich bedaure nur, daß ich nicht auf eine so schmeichelhafte als rechtliche Weise es Ihnen vergelten kann; dies sind die Briefe der Frau von Cernan. –
( Herr von St. Cyr wirft Cäciliens Briefe in's Feuer.)
Der Baron von Cernan. Jetzt, mein Herr, danke ich Ihnen für Ihr edles Verfahren, das ich wohl zu schätzen weiß; denn Männer, wie Sie, mein Herr, sind jetzt selten.
Herr von St. Cyr. Mein Herr, es ist um Lebens und Sterbens willen ( er reicht dem Baron die Hand), schlagen Sie ein, lassen Sie uns Freunde sein, ich bin dessen werth, und hoffe, mich dessen noch werther zu zeigen.
( Der Liebhaber und der Ehemann umarmen sich mit Extase.)
Der Baron von Cernan. Jetzt, mein Herr, leben Sie wohl.
Herr von St. Cyr. In diesem mörderischen Unwetter, – was fällt Ihnen ein? Sie kommen morgen früh genug.
Der Baron von Cernan. Morgen, mein Herr, morgen, – und mein Weib und meine Cäcilie, die auf mich wartet, – morgen – und ihre Angst – morgen – und in dieser Stunde wird sie die Haare sich raufen, trostlos, jammernd, denkend an die Folgen unsrer Zusammenkunft, wähnend, daß wir vielleicht schon im Begriff sind, uns gegenseitig die Hälse zu brechen? Ach, die Unglückliche!
Herr von St. Cyr. Jetzt verstehe ich Ihre Hast, mein Herr. Eben höre ich den Wagen rollen, darum noch ein Mal, Gott befohlen, Gott befohlen!
Der Baron von Cernan. Gott befohlen, Herr von St. Cyr; doch ehe ich gehe, will ich Ihnen noch etwas mittheilen, was ein so kluger Mann, wie Sie, nicht mißdeuten wird. – Morgen werden Sie nach Paris kommen, allda will ich Sie der Frau von Cernan vorstellen; denn ich bin überzeugt, daß sie während meiner Abwesenheit keinen bessern Mentor finden wird, als den Freund, der meines Vertrauens und meiner Achtung so würdig ist.
Herr von St. Cyr ( mit bewundernswerthem Ausdruck von Besonnenheit und Würde). Darauf hatte ich gerechnet, mein Herr!
Der Baron von Cernan ( ihn umarmend). Ihr ganzes Benehmen entspricht Ihrem Namen, dem Namen St. Cyr.
Herr von St. Cyr ( ihn noch ein Mal umarmend). Sie haben mich verstanden, Cernan.
( Der Baron geht, und die Postkutsche rollt die Pariser Straße dahin.)
Herr von St. Cyr ( allein). Siehe, so hat durch ein redliches und rechtliches Benehmen ein Band, das drei Personen in Tod und Verzweiflung stürzen konnte, die Bande der Ehre und der Tugend, die sie umschlingen, nur noch enger geknüpft. Doch ganz anders ist's mit einer verbrecherischen Liebe; – was man auch immer sagen mag, die Tugend ist ein schönes, schätzenswerthes Ding und hat sich so eben als solches bewährt.
Herr von St. Cyr schlief den ruhigen Schlaf eines Biedermannes.
Als diese Nacht, die so verschiedenartig benutzt worden war, dem grauenden Morgen wich, da öffnete sich geheimnißvoll mit dem Schlage der sechsten Stunde die Thür der petite maison des Grafen von Vaudrey, und Cäcilie, tief verschleiert, schlüpfte in einen Fiacre.
Schon früh um 11 Uhr kam auch der Baron von Nevers zurück, und umarmte freudig sein Weib, das er blaß und kraftlos fand, wie er es wohl erwartet hatte.