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21

Bubi war krank gewesen und wieder genesen, das Haus, das auf dem Kopf gestanden hatte, fand langsam wieder auf die Füße und ins Gleichgewicht zurück. Es hatte sich bloß um eine kleine Magenverstimmung gehandelt, aber Mama Tröger, die auf dieser weiten Gotteswelt nichts mehr war als Großmutter, hatte für die Errettung aus der Gefahr ein Gelöbnis gemacht. Sie fuhr in die Stadt, stiftete zwei dicke Kerzen auf den Altar ihrer Namens- und Schutzpatronin, der heiligen Anna, und nahm auf dem Rückweg einen Wurstel und einen Teddybären mit. Der Wurstel war aus dem Geschlecht der Tschin von Tschinellen, hatte wie alle seines Stammes zwei kleine Messingbecken in den Händen, die er, wenn man ihn hinten drückte, klirrend gegeneinanderschlug, wozu er vergnügt über das ganze Gesicht grinste. Der Teddybär war ein weichwolliger, dickpelziger Kerl von unglaublicher Gelenkigkeit, so daß man seinen Gliedmaßen die naturwidrigsten Verdrehungen geben konnte, ohne daß er sich das mindeste darausmachte. Es kam hinzu, daß er von überaus sanftem Gemüt war, ein gänzlich harmloses Geschöpf ohne Falsch und Tücke, geduldig und langmütig, und daß er mit allem zufrieden war und sitzen blieb, wo und wie man ihn hinsetzte.

Trotzdem fand er nicht den Beifall des jungen Wolfgang Amadeus. Den Wurstel begrüßte der Kleine mit Gestrampel und Gekrähe und sagte: »Ha ... ha ... balla ... halla« zu ihm, worüber Mama Tröger vor Entzücken außer sich geriet. Als man ihm aber dann den Teddybären brachte, verzog er das Gesicht und begann mit allen Anzeichen des Entsetzens zu heulen, und daran war nur Mama Tröger selber schuld, weil sie dem jungen Mann vor Rex ein solches Grauen eingeflößt hatte, daß sich Bubi jetzt vor allem Vierfüßigen, ob lebendig oder nicht, fürchtete.

»Er wird sich schon später an ihn gewöhnen,« tröstete sich Mama Tröger über den Mißerfolg. Vorläufig indessen wurde der Bär dem Jüngling aus den Augen geschafft und in das Speisezimmer verbannt, wo man ihm einen Platz in der Sofaecke anwies.

Hier fand ihn Rex auf einer seiner Hausdurchstreifungen, zu denen er von seiner ständigen Unruhe getrieben wurde.

»Was bist du für einer?« schnupperte er den Fremdling an.

Teddy gab keine Antwort, er saß da, die Beine von sich streckend und sah Rex mit seinen runden, schwarzen Knopfaugen unentwegt an. »Ich weiß schon,« dachte Rex weiter, »du gehörst dem dort drinnen, dem Schreihals, dem Prachtbuben!« Auch jetzt entgegnete Teddy nichts, behielt seine Bärenruhe bei und glotzte sanftmütig drein. Rex betrachtete ihn mit Bitterkeit, er verstand schon, daß damit wieder nur eine neue Beleidigung und Kränkung gegen ihn gemeint war. Da würde man dem da drinnen dieses leblose, alberne Vieh geben, und es würde immer um Frau Hella sein dürfen, ohne je hinausgeworfen zu werden, wie er, bei dessen Erscheinen im Bereich des Prachtbuben sich immer sogleich ein Geschrei erhob. Wie hatte man ihn in den letzten Tagen während Bubis Krankheit wieder vernachlässigt; man hatte ihn immer nur aus dem Weg gepufft, und wenn auch sein Herr ab und zu ein freundliches Wort für ihn hatte, seinem armen Herzen fehlte doch die Sonne der Huld seiner Herrin.

»Sie liebt mich nicht mehr,« dachte er unaufhörlich, wenn das inbrünstige Betteln seiner Blicke unbeachtet blieb.

Ingrimmig stieß er den Bären mit der Nase an: »He du, was hast du hier zu suchen?« Und obwohl er genau wußte, daß er von diesem dicken Pelzkerl keine Antwort zu erwarten hatte, tat er doch so vor sich selbst, als habe er ein Recht, über diese Unverschämtheit erbittert zu fein: »Glaubst du vielleicht auch schon, daß du mit mir umspringen kannst, wie es dir beliebt?« sagte er, »aber Gott sei Dank, so weit sind wir noch nicht.«

In seinen glücklichen Zeiten wäre es ihm nicht eingefallen, sich über diesen unbedeutenden neuen Hausgenossen zu erbosen, jetzt aber war es wirklich, als wäre sein Denken durch das viele Leid etwas in Verwirrung geraten. »Von dir brauche ich mir noch lange nicht alles gefallen zu lassen,« sagte er erbittert, »wir wollen doch sehen, wer der Stärkere ist.« Und damit packte er den Bären mit den Zähnen, schüttelte ihn und warf ihn zu Boden. Teddy fiel auf alle Viere und blieb in dieser Stellung, mit aufgerecktem Hinterteil und gesenktem Kopf. Es war von dem Biß in Rex' Kiefern und Zahnfleisch eine sehr angenehme Empfindung geblieben, die Zähne waren so prächtig in das dicke Fell gedrungen. Er schnappte noch einmal zu, schüttelte den Bären und warf ihn wieder hin. Jetzt lag Teddy auf der Seite, streckte die Beine von sich und veränderte keine Miene.

Rex begann zu knurren. »Willst du mich zum Narren halten?« fragte er, »was denkst du denn eigentlich von mir?« Teddy hätte jetzt plötzlich eine Stimme bekommen und Rex um Verzeihung bitten oder auf die rührendste Weise um sein Leben flehen können, es wäre zu spät gewesen, denn Rex' Zorn war nun schon zu sehr entflammt, um sich noch besänftigen zu lassen. In einer plötzlichen Aufwallung von Wut griff er an, als habe er einen lebenden Feind vor sich und grub seine Zähne ernstlich in Teddys Kehle. Das Fell zerriß und aus der Wunde strömten die Sägespäne, mit denen Teddys Leib gefüllt war, bei einem zweiten Biß zerplatzte der Bauch, und nun stürzte sich Rex, dem alle Besinnung abhanden gekommen war, erst recht auf den Bären, mit einem röchelnden Knurren äußerster Raserei.

Als Frau Hella eine Weile später ins Speisezimmer kam, fand sie Sägespäne und Fellfetzen über den Boden gestreut, und inmitten der Walstatt lag Rex und zerriß Teddys letztes Bein.

»Na, was ist denn da geschehen?« fragte sie verblüfft.

Rex erhob sich und schlich geduckt in den äußersten Winkel des Zimmers zwischen Speiseschrank und Fenster, wo er sich niedersetzte und mit aller Kraft gegen die Wand drückte. Eine fürchterliche Angst hatte ihn befallen, ein plötzlicher Einbruch von Schuldbewußtsein machte ihn erbeben.

Jetzt hatte Frau Hella Teddys irdische Überreste erkannt. »Du bist doch ein niederträchtiges Vieh,« sagte sie erzürnt, »was fällt dir denn ein? Als kleiner Hund hast du keinen Schaden gemacht und jetzt, wo du erwachsen bist, benimmst du dich so wie ein gewöhnlicher Köter.«

Rex zuckte zusammen, es war das Schimpfwort, das er von Mama Tröger kannte und das ihn immer am meisten verletzte. Aus seiner Herrin Mund traf es ihn ärger als ein Peitschenhieb, es schmerzte schlimmer als ein Schlag mit einer glühenden Stange. Es versengte ihn mit unauslöschlicher Schande.

»Da komm herein!« sagte Frau Hella streng.

Elend gedemütigt, zerknirscht kroch er zu ihr hin, sie aber fasste ihn am Halsband. »Was hast du denn da gemacht,« fuhr sie ihn an und schlug ihn zweimal, dreimal über die Schnauze.

Da geschah etwas Schreckliches.

Rex verlor alle Besinnung; seine ganze Verzweiflung, sein Gram, das Bewußtsein seiner Verfehlung, der Kammer seiner unglücklichen Liebe, die Angst, seine Herrin nun völlig und für immer verloren zu haben, stürzten betäubend über ihn herein, außer sich, nicht wissend, was er tat, biß er zu und grub seine Zähne in die strafende Hand.

Im selben Augenblick aber durchfuhr ihn auch schon das Entsetzen über das Geschehene. Er warf sich zu Boden, wimmernd, mit dem brechenden Blick eines Frevlers am Allerheiligsten, den seine Verworfenheit niedergeschmettert hat.

»Was hast du getan, Rex?« sagte die Herrin traurig. Sie schritt zur Tür, öffnete, und die blutende Hand wies Rex den Weg: »Hinaus!« Und Rex wankte hinaus mit schlagenden Flanken, eingezogenem Hintergestell, gebrochen, vernichtet, ein verurteilter Verbrecher.

»Denke dir!« sagte Frau Hella, in ihres Mannes Sprechzimmer tretend, »Rex hat mich gebissen.« Er wandte sich um, das Röhrchen, in dem er eine Harnprobe über der Spiritusflamme untersuchte, sank ihm fast aus den Fingern. »Gebissen? ... Rex hat dich ... gebissen?«

Sie wies ihm die verletzte Hand, erzählte, wie es gekommen war. Es war keine arge Wunde, nur je zwei blutige Male auf der Außen- und der Innenseite der Hand, die bald gereinigt und verbunden waren. Aber schlimmer war die Tat selbst als ihre Folgen.

»Es scheint, daß er böse wird,« sagte der Doktor zögernd.

Was war in dem Tier vorgegangen, daß dies hatte geschehen können? Es war nicht viel Zeit, mit Hella darüber zu sprechen, denn noch saßen Leute im Wartezimmer. Aber als alle gegangen waren, blieb der Doktor allein und ein tiefes Weh breitete sich in ihm aus.

»Unsühnbar!« murmelte er vor sich hin, »unsühnbar!« Er legte die Arme über den Schreibtisch und faßte die Wanduhr über dem großen Bild ins Auge, das ihn im Kreise seines Korps beim fünfzigsten Stiftungsfest darstellte. Noch eine Viertelstunde! dachte er, noch eine Viertelstunde. So saß er und härtete den grausamen, unwiderruflichen Entschluß in sich. Das Pendel schwang in seinem Glasgehäuse hin und her, der große Zeiger rückte der Zwölf entgegen, dann schlug es silbern und von allen Schicksalen unberührt vier Uhr.

Schittelhelm zog die Schreibtischlade auf und nahm das schwarzläufige Ding hervor, in dessen Kammern der Tod saß.

Rex war ganz hinten in seine Hütte verkrochen, ins Heu eingewühlt, und als er die Stimme seines Herrn hörte, versuchte er sich noch tiefer zu verstecken. »Komm!« sagte der Doktor, und obwohl der Ton seiner Stimme mild und freundlich war, mußte er den Befehl noch einige Male wiederholen, ehe Rex zum Vorschein kam. Endlich rührten sich die Heubüschel und Rex zeigte sich, in seinem Fell saßen einzelne Halme, verstört und am ganzen Leib zitternd stand er da.

Der Doktor legte die Leine an das Halsband und sie gingen.

Der Schnee war gewichen und ein laues Frühlingsahnen lag über den Hügeln, der Himmel war von einem ausgewaschenen Blau, Spatzen machten sich auf den Wegen und in den Baumkronen breit.

»Wohin gehen wir?« dachte Rex.

Er zottelte mit gesenktem Kopf hinter dem linken Bein seines Herrn her, nie war er so musterhaft nach den Regeln für Polizeihunde gegangen, von allen den Dingen, die er einst mit so froher Aufmerksamkeit beachtet hatte, war keines für ihn vorhanden. Alles voller Trauer, bedrückend und beängstigend, und am quälendsten war, daß sein Herr kein Wort sprach, kein Wort der Strafe und keines der Verzeihung.

Einmal, mitten aus dem Wege, setzte sich Rex plötzlich nieder. Es war, als breche etwas in ihm aus, ein Schrei, als müßte sich jetzt etwas aus ihm lösen, der Laut des Menschentums, der von einem zum andern Wesen Brücke ist. Aber wieder zerflatterte sich dieser heiße Drang an den Mauern der Stummheit, wie ein armer Vogel, der sich in ein Zimmer verflogen hat und an unbegreiflichen Hindernissen den Kopf zerstößt.

Sein Herr, durch den jähen Ruck ungehalten, wandte sich um, sah Rex sitzen mit einem flehenden Blick, der fast unerträglich war. Da wandte der Doktor den Kopf: »Komm!« sagte er gütig, und Rex erhob sich gehorsam und schlich wieder hinter dem Herrn her.

Er merkte jetzt endlich, wo hinaus es ging. Sie waren auf die Heide gekommen und näherten sich dem Steinbruch. Es war Rex, als verlangsame sich der Schritt seines Herrn. Jetzt blieb er ganz stehen und Rex erkannte den Ort, er lag unweit der Stelle, wo er damals abgestürzt war.

»Setz dich,« sagte der Doktor und Rex gehorchte, indem er bei sich bemerkte, daß etwas Eigentümliches im Klang der Worte war, etwas weich Schwingendes, wie ein Zittern. »Mein armer Hund!« sagte der Doktor, indem er die Hand liebkosend auf Rex' Kopf legte, »mein armer Hund! Du hast dich heute selbst gerichtet. Verstündest du doch meine Worte und wie weh es mir tut, von dir Abschied nehmen zu müssen. Warum ist es denn so, daß fast alle Tiere an uns unglücklich werden müssen? Was für ein lieber, guter, getreuer und lustiger Gefährte du warst! Aber vor Wichtigerem mußt du weichen, mein armer Freund. Soll ich dich wieder verschenken? Du kämst ja doch wieder zurück oder du gingest im Jammer zugrund. Ich kann es nicht. Du bist einer von denen, die an ihrer Treue sterben müssen. Du kannst dich nicht in das Neue finden, so mußt du gehen, ehe ein größeres Unheil geschieht. Wir Menschen ...«

Er unterbrach sich und Rex, dem eine Kälte von den Gliedern ins Herz gekrochen war, regte ganz leise den Schwanz, als er seinen Herrn unfähig sah, weiter zu sprechen.

»Es muß sein,« sagte der Doktor nach einer Weile und zog etwas aus der Tasche hervor, das er in der Hand verbarg. »Lieber, guter, mein armer Hund – es muß sein!«

Er hob die Hand und setzte etwas Hartes fest an die Schläfe des Hundes.

Rex rührte sich nicht und sah seinem Herrn immer nur in die Augen ...


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