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19

Beim Frühstück hatte Frau Hella einen seltsamen Traum zu berichten.

Sie wartete ab, bis Mama Tröger hinausgegangen war und sagte dann zu ihrem Mann: »Ich muß dir doch erzählen, was mir heute geträumt hat.«

»Dir hat etwas geträumt?« verwunderte er sich, indem er ein Löffelchen Milch in seinen Tee träufelte, »du träumst doch sonst nie, soviel ich weiß ...«

»Ja, nicht wahr ... es ist sonderbar. Vielleicht träume ich auch gleich allen anderen Menschen, aber wenn ich erwacht bin, habe ich es vergessen. Heute aber weiß ich alles so genau, als hätte ich es wachend erlebt. Rex hat mir erzählt, wie er zu uns heimgefunden hat.«

Und wie sie der Doktor befremdet ansah, fuhr sie fort: »Es war so. Wir hatten das Kind noch nicht und ich war allein im Haus. Plötzlich wurde mir sehr unheimlich und ich ging, um Rex zu suchen. Aber ich fand ihn nirgends und zu rufen getraute ich mich nicht, weil mir war, als müsse es dann plötzlich auf mich losspringen, das Gräßliche, das auf mich lauerte. In der Küche fand ich Rex' Halsband und im ganzen Haus waren eine Menge Spuren von Hundepfoten, rote, blutige Tapper, als habe sich das Tier mit irgend welchen Verletzungen herumgeschleppt. Endlich fand ich Rex in deinem Sprechzimmer. Dein Bücherschrank stand offen und eine Menge Bücher waren herausgezogen und mitten unter ihnen saß Rex und blätterte mit den Pfoten in ihnen herum.

›Was machst du da?‹ fragte ich erstaunt.

›Ich lerne lesen!‹ antwortete er. Ich verwunderte mich gar nicht sehr darüber, daß er sprechen konnte, wie man denn im Traum das Seltsamste als selbstverständlich hinnehmen mag.

›Warum willst du lesen lernen?‹ fragte ich weiter.

›Ich möchte ein Buch finden, in dem die Wahrheit über uns geschrieben steht.‹

›Über euch Hunde?‹

›Über uns Hunde und über euch Menschen, über uns alle.‹

Plötzlich fiel mir auf, wie vernünftig man heute mit ihm sprechen konnte und ich sagte, indem ich seinen Kopf streichelte: ›Höre du, Rex, da du heute so verständig bist, möchtest du mir nicht erzählen, wie du zu uns wieder zurückgefunden hast. Du weißt doch, es ist ein Brief von dem Herrn gekommen, dem wir dich übergeben haben, und darin schreibt er, er könne sich durchaus nicht erklären, wie du dich hast freimachen können. Du warst doch in einem Zimmer neben dem Atelier eingesperrt und das lag hoch oben unter dem Dach. Er ging abends fort und wie er morgens heimkam, war das Fenster zerschlagen und der Rex verschwunden. Er kann es ganz und gar nicht begreifen, wie du entkommen bist, außer, daß du etwa plötzlich Flügel bekommen hast. Da das nicht anzunehmen war, glaubte er bestimmt, daß du dich beim Sprung aus dem Fenster erschlagen hast und suchte dich überall in den Nachbarhöfen. Aber deine Leiche war nirgends zu finden.‹

Es war mir, als verziehe Rex seine Schnauze zu einem Schmunzeln, da er antwortete: ›Ach, weißt du, das war gar nicht einmal so schwer, wie es sich der Herr vorstellt. Unter dem Fenster lief ein breiter Sims hin, auf dem ging ich bis zur Ecke des Hauses, da war ein Stück unter mir ein niedrigeres Dach, auf das sprang ich hinab.‹

›Du hättest dir dabei den Hals brechen können, Rex! Aber dieses Dach war wohl noch immer hoch genug über dem Boden ... ‹

›Gewiß. Aber zu meinem Glück stand eine Leiter da, auf der konnte ich in einen Hof hinunterklettern. In dem war ein Holzstoß an der Mauer aufgeschichtet, so daß ich leicht hinauf und hinüber kommen konnte und da war ich frei.‹

›Na, höre einmal,‹ sagte ich, ›das war doch eher der Weg einer Katze als eines Hundes.‹

›Wir Dobermänner,‹ antwortete er und es war ihm ein gewisser Stolz anzuhören, ›wir Dobermänner können von allen Hunden am besten klettern. Darum haben auch die Verbrecher am meisten Angst vor uns.‹

›Gut, du hast also alles das zustande gebracht und warst frei. Aber nun kommt erst recht das Unerklärliche. Du hast vielleicht gehört, was dein Herr aus der Zeitung vorgelesen hat. Ja, sogar die Zeitungen haben über dich geschrieben, was für eine wunderbare Leistung das für einen Hund sei, aus einer solchen Entfernung heimzutreffen. Über Berge, durch Wälder und auf fremden Straßen, die du nie in deinem Leben gesehen hast. Du bist doch mit der Eisenbahn hingefahren und hast keiner Spur folgen können. Die Brieftauben machen ja ähnliches, aber bei denen nimmt man an, daß sie sich in große Höhen erheben und von da ein gewaltiges Stück der Erde übersehen und daß sie Landmarken haben, nach denen sie sich richten. Aber du läufst mit der Nase auf dem Boden und nur deinem Geruch nach, und der hat dir doch in diesem Fall gar nichts sagen können. Das ist ein Geheimnis, das du mir erklären mußt.‹

›Ich kann es mir selbst nicht erklären,‹ sagte Rex nachdenklich, ›aber es ist so gewesen, daß ich, sobald ich in Freiheit war, keinen Augenblick daran gezweifelt habe, wohin ich mich wenden müsse. Ich habe meinen Weg schnurgerade genommen, die Sonne war morgens zu meiner Rechten und abends zu meiner Linken. Aber auch nachts habe ich immer genau gewußt, wie ich zu laufen habe.‹

›Du bist also auch nachts auf dem Weg gewesen?‹

›Zuerst bin ich Tag und Nacht gelaufen, aber dann habe ich mich bei Tag verstecken müssen und habe nur bei Nacht wandern dürfen. Denn ich habe bemerkt, daß ich sonst nicht heimkommen würde. Ich bin einmal in einen Hof gelaufen und da hat der Bauer rasch ein Gitter zugemacht, so daß ich gefangen war. Aber wie er dann aufgemacht hat, habe ich ihn in die Hand gebissen und bin davon. Da sind mir die Menschen mit Steinen und Knütteln nachgelaufen und haben mich erschlagen wollen. Und im nächsten Dorf haben sie schon mit Schlingen auf mich gewartet und sie nach mir geworfen und ein Mann mit einem Gewehr hat nach mir geschossen, aber er hat mich nicht getroffen.‹

›Sie werden dich für toll gehalten haben,‹ sagte ich.

›Es ist möglich. Denn mein Halsband ist beim Klettern über die Mauer zerrissen und ich hatte es sehr eilig, heimzukommen. Da habe ich mich dann immer versteckt, so lang es licht war, und bin erst hervorgekommen, wenn es dunkel wurde.‹

›Du Armer,‹ sagte ich und konnte nicht anders, als ihm einen Kuß auf seinen Kopf zu drücken, ›und der Hunger ... du wirst keinen schlechten Hunger gehabt haben!‹

›Ja ... der Hunger war freilich arg. Ich wäre sonst ja auch nicht in den Hof gelaufen, wo mich der Bauer gefangen hat. Später habe ich dann besser aufgepaßt und mir in den Misthaufen etwas hervorgesucht. Einmal hat mich dabei ein großer Hund überrascht, dem der Misthaufen gehört hat. Ich wäre mit ihm allein schon fertig geworden, aber er hat die anderen Dorfhunde gerufen, und da wäre ich beinahe zerrissen worden. Du wirst die Wunden in meinem Fell doch gesehen haben.‹

›Ich habe sie gesehen,‹ sagte ich gerührt. ›Was du alles gelitten haben magst? Du hast wohl ein Dutzendmal dein Leben aufs Spiel gesetzt. Du hast so viele Meilen Weges gemacht, du hast Hunger ertragen müssen, du wärest beinahe von Menschen erschlagen und von Hunden erbissen worden, du warst ohne Lager in Regen und Kälte. Und warum das alles? Hast du es bei deinem neuen Herrn so schlecht gehabt?‹

›Nein,‹ sagte er, ›ich habe es bei ihm sehr gut gehabt.‹

›Warum hast du es dann getan?‹

Da richtete er seinen Blick auf mich, und es war ein solcher Blick, wie ich wünschen möchte, daß ihn alle Menschen hätten, damit es auf dieser Welt anders aussähe! ›Warum ich es getan habe?‹ sagte er, ›weil ich bei dir sein wollte!‹ –

Frau Hella schwieg und der Doktor sagte, nachdenklich zurückgelehnt und mit einem ergriffenen Schwanken der Stimme: »Das ist freilich ein eigentümlicher Traum.«

»Er ist noch nicht ganz zu Ende,« setzte Frau Hella hinzu: »Wie Rex das gesprochen hatte, geschah eine merkwürdige Verwandlung mit ihm. Ich weiß nicht, wie sie im einzelnen vor sich ging, aber sie geschah, wenn ich meinen Eindruck einigermaßen deutlich wiedergeben soll, von den Augen aus. Ihr menschenhafter Blick erweiterte sich, erfaßte und umhüllte sozusagen den ganzen Hund und veränderte seine Gestalt, ohne daß ich sagen kann, in welchem Sinn. Es war, als wüchsen ihm außerhalb des Bereiches meines Blickkreises Glieder und seltsame Bildungen an, so daß er einem Mischwesen zu vergleichen war, am ehesten vielleicht einem assyrischen Flügelstier oder einem Geschöpf der Apokalypse, in dem die Symbolik der vier Evangelisten vereinigt ist. Jedenfalls trug er ein Menschenhaupt, und in diesem Augenblick erst wurde es mir bewußt, was mich die ganze Zeit über so geheimnisvoll angerührt hatte. Es war die tiefe, unendliche Traurigkeit, die in dem Wesen lag und die nun auch in meine Seele drang und sie mit Schmerz erfüllte.

›Warum bist du so traurig?‹ fragte ich voll Mitleid.

›Wir sind traurig, weil wir nicht sprechen können,‹ antwortete er.

›Warum könnt ihr nicht sprechen?‹

Er gab eine Antwort, die ich nicht verstand: ›Die das Wort mißbraucht haben, sollen es verlieren!‹

Mama Tröger kam wieder ins Zimmer und berief Frau Hella zu Bubi, der erwacht war und heftig bemerkbar wurde. Auch der Doktor erhob sich und machte sich zu seinen Morgengängen bereit. »Ist der Traum zu Ende?« fragte er.

»Hier ist er zu Ende!«

Zögerndes Dämmerdunkel von Gedanken überwölkte des Doktors Stirn: »Es ist,« sagte er langsam, »als ob dein Unbewußtes, das im Traum frei wird, sich mit dem seinen unterredet hätte.«

Aber Mama Trögers laute Geschäftigkeit schwoll so ungestüm empor, daß der feine Faden zerriß, und so machte sich der Doktor ein wenig seufzend auf den Weg, während Frau Hella der Großmama zu Bubi folgte.

Der Traum war jedoch dort, wo seine Erzählung abgebrochen worden war, noch nicht zu Ende gewesen; es stand indessen keineswegs fest, daß Frau Hella den Schluß berichtet hätte, auch wenn sie mit ihrem Mann ungestört geblieben wäre. Denn was nun kam, war so, daß sie es auch dem nächsten Gefährten ihres Lebens nicht hätte sagen mögen. Es war ihr nämlich gewesen, als greife sie nach dem gewandelten Wesen vor ihr und was sie zu fassen bekam, war eine warme Menschenhand. Und sie sagte: »Hast du mich nicht gerettet? Ich weiß, daß ich dir dankbar zu sein habe!«

Und das geheimnisvolle Wesen antwortete: »Hast du mir nicht eine Seele gegeben? Was ist die Seele anderes als Liebe und Sehnsucht, Schmerz und Glück?«

Und damit zerfloß die Gestalt vor ihren Augen, zugleich aber quoll ein Nebel um Frau Hella empor, der war von so weicher Süße, daß sie fast verging, und wie er betäubend die Grenzen ihres eigenen Seins überschritt und sie in einem silbern wogenden Wirbel zu versinken begann, sagte sie zu sich: »Es ist vielleicht das Geheimnis, das uns beiden gemeinsam ist, aus dem wir kommen und in das wir wieder eingehen.«

Damit war sie erwacht.

Und das war das eigentliche Ende von Frau Hellas Traum gewesen.


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