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6

Der Herbst brachte noch einige goldige Tage, in denen die Trauben am Südspalier völlig ausreiften.

An einem von diesen Tagen waren alle im Garten, der wundervoll aufgeschlossen und schlicht mit seinen entlaubten Bäumen unter der Sonne lag. Die Wege schimmerten hell und das Gras schien aller Weltordnung zum Trotz noch einmal grün werden zu wollen. Hinten auf den Gemüsebeeten sah man den Doktor in Hemdärmeln die Erde umstechen, mit gleichmäßigen Bewegungen den Spaten eintreten und die glänzenden Schollen wenden. Rex war bei ihm und half nach seiner Art redlich mit, indem er mit nach vorn gestellten Ohren aufmerksam zusah und sich bisweilen auf eine Scholle stürzte, um sie mit den Vorderpfoten zu zerwühlen. Amseln, die durch das Laub schlüpften, forderten ihn heraus, sie zu verfolgen, bis sie vor seiner Nase auf einen Baum flogen und ihn mit frechem Gemecker verhöhnten, während er unten, am Stamm hochgestellt, ein wütendes Gebell vollführte. Dann schoß er wieder als Polizeimann mit auskratzenden Hinterbeinen am Zaun entlang, weil außen auf der Straße ein Schubkarren vorbei kam oder eine Ziege getrieben wurde. Zuletzt machte er sich selbständig und begann hinten beim Mistbeet ein Loch zu graben, denn er verspürte irgendwo in den Tiefen der Erde etwas Lebendes. Seine Vorderpfoten arbeiteten mit einer Eile, als wären es ihrer nicht zwei, sondern sechsundzwanzig, es war ein ununterscheidbares Geflatter von Pfoten und im Nu hatte er das Loch so tief, daß er seinen ganzen Kopf darin versenken konnte. Er stieß die Schnauze vor, blies hinein, sog die Luft in die Nase und dann wirbelte und spritzte die Erde wieder unter seinen Pfoten nach hinten.

Plötzlich entdeckte er bei einem kurzen Verschnaufen auf dem Weg vom Hause her die geliebte Herrin und die Mama Tröger. Sein getreues Herz jubelte auf; vom plötzlichen Ansturm seiner Freude hingerissen, raste er ungestüm auf Frau Hella los, sprang ihr, da sie sich mit ausgebreiteten Armen hingekauert hatte, ihn zu empfangen, auf ihren Schoß und schnappte liebkosend nach ihrem Gesicht.

Sie schrie halblaut auf.

Ein jäher, greller, kleiner Schmerz hatte ihr Ohr durchzuckt, und nun, als sie mit der Hand hinfuhr, hing ein heller Tropfen Blut am Finger. Hatte sie ...? fiel ihr plötzlich ein ... noch einmal griff sie rasch mit beiden Händen nach den Ohren, links fühlte sie leise baumelnd Gold und Stein des Ohrgehänges ... das rechte, blutige Läppchen war leer.

»Mein Ohrgehänge ist fort,« keuchte sie schreckensbleich, indem sie sich verzweifelt auf die Knie warf. »Bleib stehen, Mama, daß du es nicht zertrittst.« Frau Hella begann Kies und Sand des Weges mit den Händen zu durchwühlen. Aufrecht wie ein schwarzer Pfahl stand Mama Tröger daneben und hatte ein bitteres, aber siegreiches Lächeln auf dem Gesicht, als sei sie nicht im mindesten verwundert, daß eine längst schon gehegte Überzeugung nun durch das Verhängnis ausdrücklich bestätigt werde.

»Na, natürlich,« sagte sie, »natürlich!«

»Franz, ich bitte dich, komm her,« rief Frau Hella, »der Hund hat mir das Ohrgehänge ausgerissen.« Der Doktor warf den Spaten hin und kam angerannt.

»Gib acht, daß du es nicht zertrittst,« wehrte Frau Hella. Da stand er nun, drei Schritte von der Unglücksstelle, unschlüssig zwischen Näherkommen und Wegbleiben und stammelte bestürzt: »Ja, wie ist es denn geschehen?«

»Er ist hinaufgesprungen und hat es mir ausgerissen.«

»Die Feder muß aufgegangen sein,« sagte er, indem er aus der Entfernung das blutige Ohrläppchen betrachtete, »er ist vielleicht mit einem Zahn hängen geblieben und hat es aufgerissen.«

»Das letzte Andenken an deine verstorbene Großmutter,« fand Mama Tröger passend, hier anzumerken, »du wirst dich erinnern, daß es Herr Förster immer bewundert hat. Und er versteht etwas davon. So geschmackvolle Arbeiten werden heute gar nicht mehr gemacht. Das hätte sich die arme Großmutter nicht gedacht, daß man das letzte Andenken an sie so wenig achten wird.«

Der Doktor, der sich vorsichtig auf die Knie niedergelassen hatte und nun auf allen Vieren suchend über den Kies kroch, warf einen kurzen Blick zu ihr empor, etwa des Inhalts: »Es wäre besser, wenn du suchen und nicht predigen wolltest!«

Rex, der ahnungslose Anstifter des Unheils, hatte sich sogleich nach Ausbruch des Jammers seitwärts in die Büsche geschlagen und saß nun mit angelegten Ohren da, denn es schwante ihm jetzt doch dumpf Betrübliches, das irgendwie mit ihm im Zusammenhang stand.

»Und es war ein Brillant von seltener Reinheit,« fügte Mama Tröger hinzu, als ob das Elend noch immer nicht groß genug sei und noch zermalmender werden müßte, »solche Steine gibt's heute gar nicht mehr.«

Indessen krochen Frau Hella und der Doktor suchend über den Sand. »Man muß es systematisch machen,« meinte Schittelhelm. »Wo bist du gestanden?« Und dann nahmen sie, er die linke, Frau Hella die rechte Seite, und achteten der scharfen Steinchen nicht, die ihnen die Hände und Knie zerstachen.

»So ein Brillant funkelt doch in der Sonne!« sagte der Doktor und beugte sich herab, als sei er zum Erdfresser erniedrigt. Er brachte sein Gesicht ganz auf den Weg, auf daß er den Blitz auffange, den die Sonne in dem Diamanten entzünden sollte. Jeden Augenblick dachte er, jetzt und jetzt werde das Licht ihm den Flüchtling verraten. Es sah aus, als wolle er Kopf stehen und das hintere Ende seines Körpers ragte angestrengt und gespannt in die Luft.

Aber es entzündete sich nichts und es funkelte nichts.

»Vielleicht ist es ins Gras gefallen,« sagte er nach einer Weile keuchend. Sie setzten ihre vierfüßigen Bemühungen zu zweit fort, zwischen den Rosenbüschen, die Böschung zur Blaufichte hinab, in immer weiteren Kreisen um die Stätte des Verlustes. Das blonde Haar Frau Hellas hing ihr wirr in die Stirne, ihr lichtes Kleid schmückte sich in der Kniegegend mit fröhlich grünen Grasflecken, es begann eine stille Wut in ihr aufzusteigen; der Doktor fuhr unversehens, einem verlockenden Blinken folgend, mit dem Kopf zwischen die dornbewehrten Rosenzweige. Was geblinkt hatte, war ein Stück Glas gewesen, aber die Dornen hakten sich in Rockkragen und Haut und hielten ihn fest, und als er mit Verlust von Fäden und Haut wieder zum Vorschein kam, sah er aus, als hätte er mit dem Kater Hidigeigei gerauft.

Plötzlich verspürte Frau Hella eine nasse, kalte Berührung an ihrem Hals. Rex hatte sich nach längerem Zögern ermannt und versuchte die seltsame, furchteinflößende Kriecherei zu begreifen. Er war gekommen, seine Teilnahme zu bezeigen und seine Hilfe anzutragen, er stieß seine Nase an die Herrin.

»Geh weg, du Rabenvieh,« sagte Frau Hella erbost.

Und Mama Tröger, die sich inzwischen herbeigelassen hatte, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes im Sand zu stochern, sagte: »Er wird das Ohrgehänge gefressen haben.«

Frau Hella und der Doktor erhoben sich und sahen einander kniend an, wie zwei Beter, die ihre Inbrunst vereinigen möchten. Es war nicht ganz unmöglich, daß Rex das Geschmeide verschlungen hatte; denn, da kein Fußbreit des Bodens undurchsucht geblieben war und das Gehänge nicht gut durch die Luft davongeflogen sein konnte, so war es nicht ausgeschlossen, daß es diesen Weg genommen hatte. Es war an den Ring des Polykrates zu denken, als welcher durch eine Fügung der Götter ja auch im Bauch eines Fisches gefunden worden war, und an jene Anekdote vom Juden, der den Diamanten verschluckt, und aus der Hebbel sein Lustspiel gemacht hat.

Als Mama Tröger sah, daß ihre Vermutung als begründet angesehen wurde, setzte sie grimmig hinzu: »Jetzt würde ich dem Mistvieh den Bauch aufschneiden.«

Aber da es immerhin nicht völlig gewiß war, ob diese Ansicht das Richtige getroffen hatte, entschloß man sich für eine menschlichere Behandlung des Falles. Rex wurde bis auf weiteres gefangengesetzt und jener sorgfältigen Beobachtung unterzogen, die seine nunmehrige Eigenschaft als lebendiges Futteral einer Kostbarkeit von Rang erforderte. Wenn ihn sein Bedürfnis in den Garten führte, dann stand immer eine Wache neben ihm und was er auf natürlichem Wege zutage förderte, wurde durch sorgfältiges Umrühren mittels eines Stäbchens aufs genaueste untersucht. Man gab ihm auch Mittel ein, die jene natürlichen Vorgänge beschleunigen und möglichst gründlich machen sollten, aber was auch dabei zum Vorschein kam, es fand sich kein Diamant darunter.

»Das ist ein niederträchtiges Mistvieh!« sagte Mama Tröger, als ob es einer besonders niederträchtigen Heimtücke und böswilligen Zurückhaltung zuzuschreiben sei, daß sich das Ohrgehänge nicht zeigen wollte: »Es wird sich in seinen Magen eingehakt haben.«

Rex, dem unfaßbar blieb, was man eigentlich von ihm verlangte, litt unter seiner Gefangenschaft und den Mitteln, mit denen man seine Verdauung beschleunigte und verdünnte. Zwischendurch aber setzte man bei Tag das Suchen stundenlang fort und bei Nacht boten sich der verwunderten Nachbarschaft seltsame Lichtspiele. Es huschte durch die Büsche in Schittelhelms Garten ein Fackeltanz, ein Reigen von Irrlichtern, ein gespenstisches Geflacker, als seien dort etliche Dutzend ungetaufter Kinderleichen begraben. Es war aber nur der Doktor und Frau Hella, die mit Laternen und Lichtern bewaffnet durch das Gesträuch krochen, weil sie hofften, daß in der nächtlichen Finsternis sich der Edelstein leichter durch das Blinken aufgefangener Strahlen verraten werde.

Nach fünf Tagen fiel der erste Schnee, und da in dieser Frist auch das hartnäckigste Ohrgehänge sich wieder hätte ans Licht begeben müssen, blieb nichts übrig, als auf ein Wiedersehen zu verzichten. Rex ging aus seiner Gefangenschaft ein wenig geschwächt hervor, mit eingefallenen Flanken und zitternden Beinen und einem übergroßen Schädel, in dem sich eine Menge von Fragen umwälzten, was dies eigentlich zu bedeuten gehabt habe.

Mama Tröger aber sagte: »Jetzt bin ich neugierig, ob er dir ein Paar andere Ohrgehänge kaufen wird.« Und »er«, das war nicht etwa Rex, sondern Hellas Gatte, denn wenn Mama Tröger »er« sagte, so meinte sie immer den Doktor Franz Schittelhelm.


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