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Der Amtsdiener Kotzmann hatte in einer ländlichen Vorstadt von Linz einen kleinen Besitz, ein Häuschen mit Garten und Feldern, und da er rührig und geschäftsklug war, hatte er sich auch auf Tierzucht verlegt und zog aus seinen Brieftauben und Hunden ein nicht unansehnliches Nebeneinkommen.

Er war durch den Besuch des Doktors, den er von dessen früherer Dienststellung bei der Bezirkshauptmannschaft kannte, erfreut und geehrt. Schittelhelm hatte das langentbehrte Erlebnis eines rosigen Hausselchfleisches in schwarzer Räucherkruste, goldiger Butter und eines Milchkaffees. Was die Hundefrage anlangte, so wurde ihm allerdings eine gewisse Enttäuschung. Kotzmann hatte sich nämlich, in seinen züchterischen Grundsätzen mehr durch geschäftliche als durch ästhetische Erwägungen bestimmt, auf Zwergrattler geworfen, die augenblicklich stark gefragt waren. Es wimmelte eine Zucht häßlicher, nackter, winziger Kläffer in Haus und Garten, mit dünnen Spanbeinchen, aufgetriebenen Bäuchen und Embryoköpfchen, aus denen übergroße Augen quollen. Sie zitterten mit eingebogenem Hinterteil vor Kälte, und es war Kotzmanns Stolz, daß die kleinsten von ihnen auf der flachen Hand Platz halten.

Der Doktor aber hatte an einen deutschen Schäferhund gedacht, ein großes, edles, stolzes Tier, und sah mißvergnügt auf das Getümmel der haarlosen Mißgeburten herab. Ja, Schäferhund habe er jetzt keinen, sagte Kotzmann, aber, setzte er nach einigem Nachdenken hinzu, wenn der Herr Doktor mit einem Dobermann zufrieden sei, den könne er ihm verschaffen. Da sei eine Nachbarin, die habe vom Wurf ihrer Hündin noch zwei Junge, und über eines dürfe er verfügen, weil er seinerzeit den Vater beigestellt habe.

Von Dobermännern wußte Schittelhelm wenig, aber sie schienen ihm immer noch begehrenswerter, als so ein Zwergrattler oder ein gemeiner Zentral-, Dorf- und Wiesenköter im Sinne seiner Frau. Zudem ermunterte ihn Kotzmann durch eine begeisterte Lobpreisung der dobermännischen Anlagen zum Polizeihund, zeigte ihm auch in einer kynologischen Zeitschrift das Bild jenes Tasso von der Traun, der eine Berühmtheit seiner Rasse war, so daß sich Schittelhelm mit der Fügung auszusöhnen begann.

Sie fanden die Mutter mit ihren zwei letzten Söhnlein im Zwinger der Nachbarin. Zu dritt standen sie an den Holzstäben des Gitters und schnupperten dem Besuch entgegen, ein großes, mageres, quadratisch gebautes Tier mit schwarzem, durch die Mutterschaft verwahrlostem Fell und zwei nichtssagende drollige Knirpse. Als sie ins Freie gelassen wurden, verkroch sich der eine winselnd und wehleidig unter dem Bauch der Mutter, der andere ließ sich von seiner Herrin aufnehmen und begann sogleich an ihrem Halstuch zu zausen. Dann strebte er zu Boden, indem er die Beine gegen die Brust der Trägerin stemmte und sich rückwärts bäumte. Ein Papierschnitzel wirbelte im Wind vorbei, das Hündchen sprang ihm mit dünnem Bellen nach.

»Diesen hier!« sagte Schittelhelm, der aus der Munterkeit des Kleinen auf Mut und Klugheit schloß.

Sie wurden handelseins und am nächsten Morgen stand der Doktor mit zwei völlig unmündigen Lebewesen auf dem Bahnhof: einem heulenden Dorfmägdlein, das in den tropfbar-flüssigen Zustand überzugehen drohte und einem schlafenden Hund, der in Decken gewickelt auf des Doktors Armen ruhte. Sie wollten beide mit Vorsicht und Sanftmut behandelt sein: die Maid Mirzl, daß sie nicht noch im letzten Augenblick den Rückzug antrete und das Hündlein Namenlos, daß es nicht erwache. Es gelang, die Weinende vor Eintritt der Auflösung in den Zug zu bringen und zwischen zwei breithüftigen Bäuerinnen zu verstauen, denen der Doktor die schmerzhafte Jungfrau vertrauensvoll bis auf weiteres in Obhut gab. Sie rochen so gut, die gütigen Feen, nach saurem Brot und ungelüfteten Kleidern, daß der Doktor annahm, Mirzl würde in ihnen ein Stück Heimat erblicken, das sie auf ihrem Weg in die Fremde geleitete.

Der Doktor selbst stieg, nach vorläufig besten Gewissens wohl vollbrachten Dingen, mit seinem Hundewickelkind nicht in denselben Zug, sondern in den etliche Zeit später abgehenden Schnellzug. Nicht etwa aus Hochmut und übertriebenem Standesbewußtsein, Herrengefühl oder sonstigen sozialen Überheblichkeiten, sondern weil er, eben seines Wickelkindes wegen, vor einer allzulangen Fahrzeit berechtigte Ängste hatte. Es haben nämlich sowohl menschliche als hündische Wickelkinder Eigenschaften, die, bei länger dauerndem Aufenthalt unter Erwachsenen in Erscheinung tretend, unter minder Gutmütigen unangenehmes Aufsehen und Entrüstung erregen.

Vorläufig indessen schlief das Hündlein, in Decken gewickelt, auf Schittelhelms Arm einen tiefen Kinderschlaf. Der Doktor betete zu Gott, daß es so bis ans Ende der Fahrt bleiben möge. Er wagte sich nicht zu rühren und suchte seinen Schützling möglichst vor allem Gerüttel zu behüten, um Gott ein wenig nachzuhelfen. Aber der Herr erhörte ihn dennoch nicht. Die Hundemutter hatte, durch irgend welche verdächtige Geräusche in der Nachbarschaft aufgeregt, einige Stunden lang mit wütendem Gebell ihre Kleinen um die Ruhe gebracht. Zeitig am Morgen war dann das Hündlein aus dem Zwinger geholt und auf die Bahn befördert worden. Müde wie es war, ließ es im Schlafzustand alles mit sich geschehen. Um zehn Uhr vormittags aber hatte es das Versäumte nachgeholt, erwachte, schaute um sich und riß gähnend den rosigen Rachen auf. Dann begann es sogleich heftig strampelnd sich gegen seine Umhüllung zu wehren und strebte zur Erde. Der Doktor, dem kalter Angstschweiß die Stirne überdeckte, versuchte das Hündlein festzuhalten, aber während er das eine Ende der Deckenrolle krampfhaft zuquetschte, rutschte es ihm an der andern heraus und erlas nach kurzem Suchen ein Fleckchen des Bodens zu seiner dringendsten Verrichtung. Ihr Schauplatz lag zwischen den Hosenbügelfalten eines Geschäftsreisenden und den durchbrochenen Seidenstrümpfen einer jungen Dame. Dem Doktor war es noch gerade im letzten Augenblicke gelungen, ein Papier unterzuschieben und so das Äußerste zu verhüten. Er stammelte Entschuldigungen, während er die vier Ecken des Papieres zusammennahm, als sei eine erlesene und wohl zu behütende Kostbarkeit darin enthalten.

Man lächelte. Und Schittelhelm war glücklich darüber, daß man bloß dies tat und daß er also auf außergewöhnlich duldsame Zeitgenossen getroffen war. Nachdem das Papier samt Inhalt durch das Fenster den Weg ins Freie genommen hatte, lächelte auch der Doktor und wischte den Schweiß von seiner Stirne. Das Lächeln verging ihm aber, als er seine Uhr zog. Er sah mit Entsetzen, daß er noch eine Stunde Fahrt vor sich hatte.

Indessen hatte das Hündlein, nach nunmehr auch seinerseits wohl vollbrachten Dingen, die unbekannte Welt, in die es sich versetzt sah, zu untersuchen begonnen. Es wackelte schnuppernd zwischen den Beinen seiner Reisegefährten hin und nach kurzer Zeit hatte ihm seine Nase einen märchenhaften Fund gezeigt. Zwischen das Heizrohr und die Wagenwand war ein zusammengeknüllter Papierballen gestopft, aus dem es wundersam verlockend duftete. Aus Leibeskräften ziehend, gelang es dem Hündlein, den Knäuel hervorzubringen und nachdem die Hülle zerzupft war, wies sich der Inhalt als Wursthaut, Käserinde und ein Rippenknochen von Selchfleisch; für Menschenmägen ungenießbare Überreste, für ein Hündlein von sechs Wochen ein seliges, erstmaliges Erlebnis.

Es stürzte sich heißhungrig auf Wursthaut und Käserinde, und als die verschlungen waren, machte es sich an den Knochen. Sein Herr sah mit einer Mischung von Rührung, Besorgnis und Befriedigung auf die kindlichen Raubtierbemühungen herab. Seine erzieherischen Grundsätze waren gegen eine allzufrühe Beschäftigung mit Knochen, dabei aber wünschte er sich Glück, daß dieses unverantwortliche Lebewesen auf längere Zeit von Schlimmerem abgelenkt war.

Dankbar über die Duldung, die man ihm gewährte, ließ er sich von seinen menschlichen Reisegenossen in jedes Gespräch verfangen, das ihnen beliebte, und war so unterhaltsam und liebenswürdig, wie es nur ein Mensch schlechten Gewissens sein kann, der verhüten möchte, daß die Rede auf seine schwachen Punkte komme.

Was dem Geistesmenschen ein philosophisches Problem, etwa das der inneren Freiheit oder des Dinges an sich ist, das ist einem Hündlein von sechs Wochen eine Rippe vom Selchfleisch. Man nagt daran und kann damit nicht fertig werden. So lag also das Hündlein, da man im Bahnhof einfuhr, noch immer inmitten der Papierfetzen, die es erzeugt hatte und kaute an seinem Knochen. Und Schittelhelm dankte inbrünstig dem Lenker der Welten, der sich schließlich doch noch gnädig erwiesen hatte.

Ein wenig später lief auch der Personenzug ein und der Doktor empfing aus den Händen der breithüftigen Feen aus Oberösterreich den anvertrauten Schatz zurück. Die Maid sah ganz getröstet aus, kaum aber waren die Bäuerinnen im Gewühl verschwunden und der letzte Heimatzipfel entflattert, als die Tränenströme neuerlich hervorbrachen. Ein Glück war nur, daß das Hündlein, ermattet von dem Kampf mit dem Knochen, neuerlich in einen tiefen Schlaf versunken war, so daß sich der Doktor gänzlich der unseligen Wassermaid widmen konnte.

Eine Schwierigkeit war indessen noch zu überwinden. Denn die Straßenbahn, die jetzt zur Fahrt auf den anderen Bahnhof bestiegen wurde, ist nur für Menschen ein Verkehrsmittel, versagt aber für Hunde.

»Der Hund derf net mitfahren,« sagte der Schaffner streng.

»Das ist kein Hund!« wandte der Doktor ein.

»Was denn?« staunte der Schaffner.

»Das wird erst einer werden,« sagte der Doktor; es fiel ihm bei Gott nichts Besseres ein. Der Schaffner aber hatte keinen Sinn für die Rätsel der Biologie, und es blieb dem Doktor nichts anderes übrig, als auszusteigen. Die halb schon getrocknete Mirzl schien diesen Zwischenfall für ein wesenhaftes und schreckliches Unheil anzusehen, in dem die rauhe Ungastlichkeit des Lebens sich grauenhaft offenbare, und brach in ein herzergreifendes Schluchzen aus. Bei alledem war der Doktor nicht ohne Hoffnung; er setzte sie auf die besonderen Eigenschaften der österreichischen Volksseele. Nirgends unter Gottes weitem Himmel hat sich nämlich der Mensch in der Auslegung der Gesetze und Vorschriften so viel persönliche Eigenart als in Wien bewahrt und das allgemein Verbindliche wird hier je nach der Auffassung des Einzelnen frei und anmutig abgewandelt. Schittelhelm sollte nicht enttäuscht werden.

»Wickeln S' dös Hunderl ein, damit 's niemand siecht,« sagte der Schaffner des nächsten Wagens, der damit das Gesetz erfüllt zu halten schien.

Der Doktor stand auf der vorderen Plattform, um möglichst wenig Blicken ausgesetzt zu sein, während Mirzl im Innern des Wagens, ihr Bündel auf dem Schoß, dasaß und ihre Tränen strömen ließ. Hingegen schlief das Hündlein in seiner Decke gehüllt auf Schittelhelms Arm.

»An was is denn der Hund g'storb'n?« fragte plötzlich ein Mann, der mit einer Trage Glas neben dem Doktor stand. Er war also ein Glaser und glaubte offenbar von Berufs wegen an die Zerbrechlichkeit alles Irdischen.

Bestürzt bemerkte der Doktor, daß die Hülle an einem Ende aufgegangen war und daß der Kopf des tief schlafenden Hundes baumelnd über seinen Arm herabhing.

»Der schläft nur!« sagte er, indem er den verräterischen Hundeschädel wieder sorgsam einwickelte. Aber es war ihm, als gäbe ihm die besorgte Frage des Mannes ein Recht, etwas besser von den Menschen zu denken als seit langem.

Es war nur noch eine kurze Bahnfahrt zu machen, dann standen sie vor dem kleinen Stationsgebäude und aufatmend entließ Schittelhelm das Hündlein aus seinen Decken. Es schüttelte sich ein wenig, streckte sich, machte einen Buckel wie eine Katze und begann dann seinem Herrn hart auf den Absätzen nachzulaufen.

Vor dem Gartentor angelangt, fand der Doktor eine belangvolle Neuerung, die er nicht ohne Schmunzeln zur Kenntnis nahm. Auf der Innenseite war nämlich ein Brett angebracht, auf dem in den kräftigen Zügen seiner Frau mit schwarzer Farbe, offenbar nicht ohne einen gewissen Stolz, warnend bemerkt war: »Achtung! Bissiger Hund!« Auf des Doktors kräftiges Läuten kam Frau Hella aus dem Haus.

»Das ist die Mirzl!« sagte der Doktor, frohgelaunt, durchströmt von dem Glücksgefühl des Odysseus, nach so viel bestandenen Abenteuern und Gefahren. Die Mirzl aber zog beim Anblick der Frau ein tiefes Röcheln aus der Brust und brach, als sei ihr Untergang nunmehr unabwendbar besiegelt, in ein fürchterliches Heulen aus.

»Hast du den Hund?« fragte Frau Hella, das Tor öffnend.

Der Doktor deutete an seinen Beinen hinab. Da stand, nicht, wie Frau Hella gewünscht und erwartet hatte, ein grimmiger, furchteinflößender, großer Köter, sondern eine vierfüßige Winzigkeit mit großem Schädel und Ohren, die noch von der Beschneidung her blutverkrustet waren, demütig und unschlüssig und ergeben mit einem kurzen Schwanzstummel wedelnd. Kein reißender Wächter des Hauses, sondern ein selbst noch pflegebedürftiger Knirps, den jeder Einbrecher bequem in der Rocktasche mitnehmen konnte.

»Das ist alles?« fragte sie halb ärgerlich, halb gerührt. »Ich will doch einen Köter haben.«

»Es ist ein Dobermann,« sagte der Doktor stolz.

»Und so was soll unser Haus bewachen? Ich hab dir doch gesagt, einen Rassehund schmeiße ich hinaus!«

»Schmeiß ihn hinaus!« sagte der Doktor. »Und Sie, Mirzl, ich bitt' Sie, hören Sie doch endlich auf zu weinen.«

Frau Hella bückte sich und das Hündlein lief auf sie zu, verbog sich förmlich in heftigen schmeichlerischen Bemühungen, strebte an ihren Knien empor und versuchte, mit dem roten Zünglein ihr Gesicht zu erreichen.

Da nahm sie es auf den Arm und trug es ins Haus.

Allerdings verschwand am nächsten Tag die Warnungstafel: »Achtung! Bissiger Hund!«, denn so weit war man noch lange nicht.


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