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13

Schon von weitem sah Mister Beckers Frau Hellas lichtes Kleid. Sie saß auf einer einsamen Bank unter einem Ahornbaum, und ein sieghaftes Lächeln naher Besitzergreifung glitt über sein Gesicht.

»Wie soll ich dir danken?« sagte er leise, indem er ihre Hand küßte.

Aber die sonnenwarme, leicht gebräunte Hand machte sich schmal und entglitt zögernd seinen Fingern. »Ich habe Sie hierher gebeten, um Ihnen etwas zu sagen!«

»Das hoffe ich,« antwortete er, indem er die freie, zärtliche Heiterkeit beibehielt, von deren berückender Wirkung er überzeugt und in deren Anwendung er genugsam erfahren war. Er spürte freilich einen gewissen Widerstand, der ihm entgegengesetzt wurde, aber er war gewohnt, solche Einschaltungen nur als verzögernde Momente zu behandeln und ihre Überwindung als einen Anreiz zu empfinden. »Was du mir aber auch zu sagen haben magst ... nicht diese Töne, Hella: ›Sie‹ und ›Ihnen‹. Gib mir das Du, das du mir schuldig bist.«

Er fuhr auf, durch eine naßkalte Berührung seiner herabhängenden Hand erschreckt. Seiner heftigen Bewegung antwortete ein tiefes Knurren, es war Rex, der neben ihm stand und mit gesenktem Kopf und gesträubten Nackenhaaren Beckers Schuhe zu betrachten schien, als ob sich augenblicklich in ihnen der Inbegriff alles ihm Feindlichen gesammelt habe.

»Mußt du denn immer den Hund mitbringen?« sagte Beckers ärgerlich. »Ich habe dich doch gebeten, ihn zu Haus zu lassen. Du weißt doch, daß er mich nicht leiden kann.«

»Er hat so gebettelt, mitkommen zu dürfen.« Frau Hella war über die plötzliche Wendung aus dem Süßen und Zärtlichen ins Ergrimmte etwas betreten und überhauchte ihre Worte mit einem Flaum von Entschuldigung.

Entschlossen, den Vorteil, der sich ihm aus diesem Anflug von Schuldbewußtsein bot, wahrzunehmen, fuhr Mister Beckers in seinem vorwurfsvollen Ton fort: »Und du mußt ihm natürlich den Willen tun. So ein Hund hat eine Nase, die sich anfühlt wie eine Schlange.«

»Sie wissen doch, welche Verdienste er sich um uns erworben hat,« fuhr Hella begütigend fort.

»Ja, weiß Gott, er hat deinen Mann gerettet. Dafür soll ich ihm vielleicht noch dankbar sein.« Jetzt spürte er deutlich, daß er das Heft in den Händen hatte und sein Herrengefühl schwoll an; er glaubte des Ausgangs sicher zu sein.

Frau Hella aber fühlte, daß es Zeit war, abzulenken: »Sehen Sie nur das prachtvolle Gebiß, das er hat ... es wird verständlich, daß selbst ein g'schliffener Ferdl klein beigibt, wenn er diese Zähne spürt,« und sie griff in Rexens Rachen und zog ihm die Lefzen hoch. Was da zum Vorschein kam, war allerdings furchterregend, eine funkelnde, elfenbeinweiße Wehr ohne jede Karies und Plombe und Beißzähne, die wie gekrümmte, malaiische Dolche stoßfertig blinkten.

Rex ließ sich die Vorführung ruhig gefallen, dann schüttelte er den Kopf und zog ihn zurück, als dürfe er seine Waffe nicht allzu lange außer Bereitschaft stellen.

»Ja ... es ist prachtvoll! Wie ein Krokodil,« sagte Beckers erbost, »aber ich bitte ... ist es das, was du mir zu sagen hast? Du machst eine feierliche Einleitung und dann erzählst du mir vom Hund.« Es war ungerecht, er wußte es, aber er wußte auch, daß Frauen nichts stärker fesselt als eine Ungerechtigkeit, die sie aus einer ungezügelten Leidenschaft losgebrochen glauben. Wie er aber dabei im Eifer einen Schritt zur Seite trat, schwoll das Knurren des Hundes an, die Haare standen wie der Nackenkamm einer Hyäne und das eben gezeigte Gebiß senkte sich noch tiefer auf seine Schuhe.

»Das ist ein niederträchtiges Vieh,« zischte Beckers und sah wutentbrannt auf den Bösewicht herab, »der sollte nicht ohne Beißkorb ausgehen dürfen.«

»Rex, da herein,« gebot Frau Hella, zog Rex am Halsband zu sich und zwang ihn zu ihren Füßen nieder, »da leg dich!«

»Sind wir endlich so weit,« höhnte Beckers, »daß er dir gestattet, zu sprechen?«

Frau Hella schwieg eine Weile und sammelte sich: dann begann sie, aber recht klein und gedemütigt und ohne besondere Zuversicht: »Ich habe Ihnen nämlich zu sagen ...«

»Halt,« unterbrach Beckers, herrlich überlegen, »wollen wir hier sitzen bleiben, wo man uns von allen Seiten zusehen kann? Dein Kleid leuchtet über die Wiesen hin, ich stehe nicht gern in einem Glashaus.«

»Ich wußte nicht, warum ...« sagte Frau Hella, aber sie erhob sich gehorsam und nun gingen sie nebeneinander her zwischen Weinbergen dem Wald zu, der ihnen, am Rand mit weißen Weinhüterhäuschen besetzt, über die Hänge entgegenkam.

Beckers war ganz in eine gebietende Männlichkeit gepanzert. »Und ehe du weiter sprichst, noch eins. Ich möchte dich an etwas erinnern. Du hast mir einmal den Wunsch ausgesprochen, zu fliegen, und wie alle deine Wünsche, war mir auch dieser Befehl. Es hat einige Schwierigkeiten gemacht, aber, du weißt, daß ich um deinetwillen alles tue. Es war ein wundervoller Frühlingstag, du trugst ein braunes Seidenkleid und einen goldgelben Autoschleier, du siehst, daß ich mir auch solche Nebendinge merke. Wir stiegen an und bald lag die Landschaft tief unter uns, der Strom, die große Stadt, und in der Ferne die weißen Berge. Ich sagte: ›Gnädige Frau, wissen Sie auch, daß es von Ihnen sehr unvorsichtig war, mit mir in ein Flugzeug zu steigen?‹ Du lächeltest und fragtest: ›Warum? Sind Sie ein so ungeschickter Pilot?‹ ›Nein,‹ sagte ich, ›aber Sie wissen, daß ich Sie liebe und daß mich diese Liebe zerstört und vernichtet. Zwischen Himmel und Erde wiederhole ich Ihnen dies und sage Ihnen, daß mein Leben an dieser Liebe hängt. Sie sind in meiner Gewalt und werden sich jetzt zu entscheiden haben, ob Sie mir gehören wollen.‹ Ich bemerkte wohl, wie du erblaßtest, denn du fühltest, wie ernst es mir damit war. Aber du beherrschtest deine Angst und gabst mir die Antwort, die einer Dame von so starkem Selbstbewußtsein würdig war: ›Phrasen, lieber Freund, gehören in den Ballsaal und nicht in das Flugzeug.‹ Da sagte ich – die Schalldämpfung meines Motors gestattete unser Gespräch –: ›Ich spaße durchaus nicht, gnädige Frau, sehen Sie, ich brauche bloß diese beiden Hebel gegeneinander zu stellen und wir stürzen ab. Der Benzinbehälter explodiert und wir fallen als lebende Fackeln zur Erde, man findet uns als verkohlte Leichen unter den Trümmern der Maschine. Und bei Gott ich bin dazu entschlossen, wenn Sie mir nicht jetzt versprechen, daß Sie sich von Ihrem Mann scheiden lassen.‹ Nun konntest du nicht mehr zweifeln, lasest wohl in meinen Augen den unumstößlichen Entschluß, aber du hieltest dich tapfer und sagtest, es sei meiner nicht würdig, etwas, was aus freiem Willen entspringen müsse, durch Drohungen zu erzwingen. Es halte dich nichts bei deinem Mann und du seiest von deiner Ehe enttäuscht, aber noch seien die Dinge nicht bis zu diesem Punkt gediehen. Ich merkte wohl, was in dir vorging, denn es liegt auf dem Grunde deines Wesens eine Art Angst vor dem Urteil der öffentlichen Meinung. Was du auch sonst tun magst, um dich von ihr unabhängig zu erweisen, du willst nicht als geschiedene Frau herumlaufen. Als ich erkannte, daß die Liebe zu mir nicht groß genug sei, mir dieses Opfer zu bringen, geriet ich in Verzweiflung und hatte die Hand schon erhoben, um den Absturz herbeizuführen. Da erfaßte mich Mitleid mit dir, mit deinem jungen Leben, mit deiner Schönheit, die der Vernichtung preisgegeben sein sollten. Ich sagte: ›Gut, dann will ich warten. Aber Sie sollen mich nicht länger von der Sehnsucht nach Ihnen quälen lassen. Sie müssen mir versprechen, daß Sie zu mir kommen.‹ Da sahst du mich an und sagtest, ich solle das jetzt nicht von dir verlangen, du würdest kommen, gewiß, aber auch dafür solle der Tag von dir, nicht von mir festgesetzt werden, dein Wesen könne sich sonst nicht entfalten, und ich würde von dir enttäuscht sein. Umsonst waren meine Bemühungen, dich umzustimmen, ich glaubte zu sehen, daß du mit mir gespielt hattest und daß deine Gedanken vor der Tat zurückschreckten. Es überkam mich wieder das dringende Verlangen, jetzt, in diesem Augenblick meine Pein zu beenden. Ich überwand mich abermals und lenkte unseren Flug zurück. Als wir uns dem Flugfeld näherten, sagte ich: ›So will ich wenigstens dein Du zur Erinnerung an diese Stunde!‹ Da konntest du wieder lächeln, legtest deine Hand auf die meine und sagtest: ›Du!‹ Dieses Du ist alles, was ich mir von unserem Flug auf die Erde mitgebracht habe.«

Sie standen neben einem Winzerhäuschen, dessen weißgetünchte Wände in der Sonne brannten, und sahen in die Weite, die im herbstnahen Duft silbern dahinglitt. Im Gras lag ein Mann mit blauer Schürze, ein Gewehr neben sich, und hob den Kopf, um über die Rebenhänge hinzuschauen, ob nicht jemand den reifenden Trauben zu Leibe gehe.

»Ein Jahr! Fast ein Jahr,« hörte Frau Hella Beckers murmeln.

Dann gingen sie einen schmalen Waldpfad hin, durch Gebüsch, das bisweilen so dicht war, daß Beckers die Zweige zurückbiegen und halten mußte, damit sie nicht auf Hella zurückschnellten. Rex lief klingelnd nebenher durchs Unterholz.

»Und jetzt, bitte, sag' mir,« fragte Beckers, als der Weg breiter wurde, »was du mir zu sagen hast!«

Frau Hellas Vornehmen war völlig ins Wanken gekommen. Sie wußte kaum mehr, was sie eigentlich gewollt hatte. Vielleicht war es dies gewesen, daß sie Beckers nur hatte in Schrecken versetzen und an seinem Grad auch die Größe seiner Liebe ermessen wollen? Oder hatte sie wirklich Bedenken gehabt, sich zur Abwehr gerüstet, jetzt, da sie sich nach der Abreise ihrer Mama in ihrem Widerstand schwächer fühlte? Sie wußte nichts mehr davon, nur die Worte Beckers schwebten noch verhallend in ihr, diese sengenden heißen Worte seiner Erzählung; nie noch hatte er so gesprochen, es war, als sei er durch seine Liebe zum Dichter geworden.

Und völlig verwirrt stammelte sie, indem sie an ihm vorbei durch die Zweige der Bäume in das Sonnenflimmern draußen starrte: »Ich ... ich habe dir sagen wollen ... daß du nicht mehr kommen darfst ...«

Er war stehen geblieben: »Hella!«

»Nein,« fuhr sie eifrig fort, »mein Mann weiß ... oder ahnt doch etwas ...«

»Das ist nicht wahr.«

Sie wußte nicht ein noch aus, das Flimmern der Sonne drang in sie und verstrickte ihre Seele in einen glitzernden Glanz, der sie betäubte, »Sein Benehmen ist so eigentümlich ...«

»Oder, wenn es wahr ist ... gut, laß es wahr sein! Laß es zum Bruch kommen! Dann machst du dich frei. Dann ist das Doppelspiel endlich erledigt. Ich weiß doch, daß du es nicht bei ihm aushalten kannst, bei diesem Menschen, der nichts von deiner Seele ahnt ...«

Jetzt öffnete sich der Wald auf einem Vorsprung des Höhenzuges zu einem Ausblick. Auf drei Seiten von grünen Wänden umgeben, stand ein Tisch da und eine Bank, in den Moosboden gerammt, die vierte Seite war sonnenerfüllte weite Herrlichkeit, man war überwältigt von dem Gefühl, als könne man sich hier mit einem einzigen Abstoß zum Schwung ins Unendliche, in die Freiheit erheben. Frau Hella stand da, die Hand auf die rauhe Tischplatte gestemmt, von Beckers abgewendet. Aber seinen heißen Atem fühlte sie hinter sich, über ihre Schulter durch das dünne Kleid flutend, an ihrem Ohr hin.

»Hella! Hella! Ich weiß, daß du zu mir strebst. Wir wollen reisen. Fort von hier. Los aus dieser Enge. Heute ... heute entscheidest du dich.«

Und plötzlich war sie in eine Umarmung hineingerissen, die wie eine Glutwelle über ihr zusammenschlug. Von hinten her umschlungen, spürte sie den Andrang des in allen Muskeln gespannten Manneskörpers, ihr Kopf, mit der Gewalttätigkeit der Leidenschaft nach hinten gerissen, lag wehrlos, halb geöffnet unter seinen Küssen. In ihre Lippen verwühlt, keuchte er: »Du ... du ... heute.« Und Frau Hella waren alle Waffen entfallen, Spott, Stolz, Eitelkeit und Verspieltheit, ihr Leib schwamm aufgelöst und hingegeben in einer Betäubung aller Sinne dahin. Vergangenheit und Zukunft ausgelöscht, das ganze Dasein in den Feuerbrunnen dieses einzigen brausenden Augenblicks zerstäubt.

Der fremde Mann war der Herr der Stunde.

Sie fühlte nur: Mag jetzt kommen was will.

Ein Schrei stieß gell in ihr Ohr hinein, ein Stoß traf ihren Rücken und warf sie vorwärts, daß sie taumelte und erst an einem rauh umrindeten Baumstamme Halt fand. Die Borke der Föhre, die sie da umklammerte, war wie das etwas kratzbürstige Ufer der Wirklichkeit, an das sie da aus einem schwülen Meer von Seligkeit geschleudert worden war. Sie wandte sich, noch immer mit bebenden Knien, um und sah Mister Beckers, der auf den Tisch gesprungen war und sich mit Fußstößen gegen Rex verteidigte, während der Hund, besinnungslos vor Wut, ihm mit den Zähnen beizukommen suchte.

Er hatte während seiner Walddurchstreifungen wohl darauf geachtet, seine Herrin und den verdächtigen Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade als die beiden aber auf die Blöße hinausgetreten waren, hatte er etwas ungemein Fesselndes gefunden, einen Gang, der unter Laub verborgen seinen Anfang nahm und sich unter den Wurzeln eines Baumes im Boden verlor. Rex hatte sich so in seine Untersuchung vertieft, daß er nicht wahrnahm, was sich da nebenan, durch ein kleines Dickicht von ihm getrennt, zutrug. Als er aber aus seinem Eifer heraus wieder einen kurzen Blick nach seiner Herrin warf, sah er sie von dem Menschen angepackt und bedroht. Ohne einen Laut der Warnung brach er durch das Buschwerk und sprang den Mann von hinten an, wahllos nach dem Körperteil schnappend, der sich ihm darbot. Seine Zähne gruben sich in Stoff und Fleisch, er spürte den Geschmack von Blut auf seiner Zunge und dadurch noch mehr erhitzt, bedrängte er ihn mit all der wilden Kühnheit, die ihm seinen Heldenruhm verschafft hatte.

Es war ein vergebliches Bemühen von Mister Beckers, ihn mit den Füßen treffen zu wollen und es wurde um nichts imposanter dadurch, daß er dazu aus seiner Ohnmacht heraus mit überschnappender Stimme unaufhörlich schrie: »Ich schlag den Köter tot!« Und da er bald mit dem einen, bald mit dem andern Bein nach Rex stieß, nahm sich diese Art von Verteidigung oben auf dem Tisch wie eine Art grotesken Negertanzes aus. Dazu kam, daß Rex beständig seine Angriffspunkte wechselte und, unter dem Tisch hindurchfahrend, bald diese, bald jene Seite seines Feindes bestürmte, wobei Beckers, wenn er Frau Hella die hintere Hälfte seines äußeren Wesens zukehren mußte, genötigt war, mit seinen Händen die Bresche zu bedecken, die Rex im ersten Ansturm geschlagen hatte. Es sah dort hintenherum allerdings übel aus und was da zwischen den Fetzen des Hosenbodens hindurchschimmerte, gehörte eben zu jenen Gegenden, die selbst bei den Naturvölkern meist bedeckt zu bleiben pflegen.

In der ersten Bestürzung hatte Frau Hella das Kampfspiel ungehemmt weitergehen lassen; ja es war ihr durch eine seltsame Gedankenverschiebung für einige Sekunden gewesen, als sehe sie keine wirkliche Begebenheit, sondern – filmverseucht, wie ihre Vorstellungen gleich denen der meisten Zeitgenossinnen waren, – die Fortsetzung eines unlängst genossenen Monumentaldramas, in dem die Christenverfolgungen durch Tierhetzen im Circus maximus zu Rom grauenvoll schreckhaft ins Flimmerleben getreten waren; nur daß sich diese Vorführung von jener leinwandenen durch einige Züge unterschied, die sie aus der Sphäre des Tragischen ins Vergnügliche entrückten. Dann aber, sobald sie die jammervolle Bedrängnis ihres Freundes in vollem Umfang überblickte, griff sie ein und brachte Rex durch gütliches Zureden zu einem Waffenstillstand.

»Legen Sie das Vieh an die Leine!« schrie Mister Beckers, und erst als dies geschehen war, kletterte er von seinem Zufluchtsort herab.

»Haben Sie eine Sicherheitsnadel?« fragte er finster.

Frau Hella fand nach längerem Suchen das Begehrte und Mister Beckers verschwand mit dem rettenden Ding hinter einem undurchsichtigen Gebüsch. Sie hörte ihn dort hinten sich schnaufend plagen und je länger es dauerte, desto weniger konnte Frau Hella der Versuchung widerstehen, sich auszumalen, was dort im Waldesdüster vorgehen mochte, so daß sich ihr die ganze Begebenheit immer mehr nach der heiteren Seite hin aufklärte.

Als aber Mister Beckers zum Vorschein kam, war er durchaus in schwärzeste Galle getaucht, er sah aus, als habe er sich soeben mit dem Teufel zur Absetzung Gottes verschworen und sinne künftighin auf nichts als Sengen und Brennen.

»Verzeih!« sagte Hella, jetzt wieder völlig zur Herrschaft über sich selbst zurückgekehrt.

Mister Beckers sah sie an und da er die Summe der Ereignisse als Lächeln um ihren Mund und in ihren Augen sah, verfinsterte er sich noch mehr. Er hatte einen etwas steifen Gang und hinkte ein wenig, einmal, weil er bei dem ersten Anprall des Hundes auch eine Beule davongetragen hatte, dann aber auch deshalb, weil ihm die gegenwärtige Verfassung seiner rückwärtigen Front Vorsicht auferlegte. Es machte ihm Mühe, den steilen glatten Weg ins Tal hinabzuklimmen, und als Frau Hella, die jetzt vorangehen mußte, sich einmal plötzlich umwandte, sah sie seinen Blick mit Gehässigkeit auf sich gerichtet.

»Ich kann doch nichts dafür!« sagte sie, als sie im Tal angelangt waren, um einen Ausgleich bemüht, der die Lage noch irgendwie bessern könnte.

»Schon gut!« brummte er, und Frau Hella fand, daß sein Betragen recht wenig überlegen und, genau genommen, eigentlich ungezogen war.

»Wohin gehen wir?« fragte sie.

»Wohin? Sie können ja gehen, wohin Sie wollen. Ich gehe nach Haus ... zum Arzt und zum Schneider.«

Welch ein Ton das war, wie so ganz anders als sonst, pöbelhaft in seiner Hingabe an eine Mißstimmung, nicht mehr vom liebenswürdig edlen Leuchten des in seiner Liebe Verklärten. Da wandte er sich kurz um und schlug den Weg nach Hause ein, einen Hohlweg hin, an dessen Rändern überhängende Wildrosen eine Fülle von brennroten Früchten hinabsenkten. Dann schritten sie stumm und verdrossen eine leichte Steigung hinan, die schon in die gewellte Hochfläche der Heide ausklang.

Wie sie so nebeneinander hingingen, schien es Frau Hella, als falle mit jedem Schritt Stück um Stück einer zerschlagenen Welt hinter ihr ab; sie konnte ihr aber nicht mit Betrübnis nachsehen, sondern hörte die Scherben mit einer heiteren Befriedigung hinter sich klingeln. Welche Art von Mensch war das doch, dem sie da so viel von ihrem Leben gegeben hatte? Verwundert schaute sie den plötzlich fremd Gewordenen an, der, kleinlich genug, sie ein Mißgeschick entgelten ließ, das aus der übergroßen Anhänglichkeit dieses prächtigen Hundewesens entstanden war. Und mit erneuter Rührung ließ sie ihre Hand auf den Kopf des Hundes spielen, der, nun wieder von seiner Leine gelöst, knapp an ihren Fersen ging und nur bisweilen nach dem Fremden zurückgewendet leise knurrte.

Mitten in die Hochfläche war der Steinbruch eingegraben. Seit Jahrzehnten waren da aus der Tiefe Bausteine und Schotter gehoben worden, Schichte um Schichte, Sprengungen hatten den Felsen zerrissen, Höhlen waren entstanden und Pfeiler wertlosen Gesteines waren stehen geblieben; von oben besehen, war das Ganze ein schwindelerregender, grausiger Abgrund, auf dessen Sohle man die Arbeiter wie winzige Püppchen Steine klopfen und mit Schiebkarren fahren sah, während andere in den Wänden hingen und die Sprenglöcher einmeißelten. An manchen Stellen war das Erdreich so stark unterwühlt, daß es überhing, und hier, wie an den gefährlichsten Rändern des Absturzes, war ein hölzernes Geländer um den Schlund gezogen.

Ihr Weg führte daran hin, schmal und von einem Steinwall, der ein Feld säumte, stark gegen die Tiefe gedrängt. Eine Biegung, wo von vorangegangenem Regen die mürbe Scholle abgewaschen war, erforderte Vorsicht. Hella stieg zögernd hinüber. Hinter ihr kam der Hund, der, da in diesem Augenblick der Ruf eines Arbeiters, durch ein Echo verstärkt, heraufschwoll, neugierig stehen blieb und hinab schaute. Dadurch wurde Mister Beckers zum Anhalten gezwungen.

»Bestie!« murmelte er.

In ihm lag die Wut wie eine schleimige, zähe Glut. Die Mühe fast eines ganzen Jahres umsonst, die umschmeichelte, umworbene, verwöhnte Frau, die man schon sicher zu haben glaubte, gerade in dem Augenblick entrückt, der über den Erfolg entschied! Mister Beckers besaß Erfahrung genug, um sich zu sagen, daß bei Frauen nichts schwieriger auszulöschen ist als das Mal der Lächerlichkeit. Im Zucken ihres Mundes, im heiteren Strahl ihres Blickes hatte er die Gewißheit gelesen, daß ihr künftig bei jedem noch so geschickt angestellten neuen Versuch, sie zu gewinnen, die Erinnerung an die heutige Niederlage wiederkehren würde. Und es war ihm völlig klar, daß er keineswegs mehr so viel Zeit haben würde, um von neuem zu beginnen.

»Bestie!« zischte er noch einmal, in einem plötzlichen Aufflammen seines Ingrimmes.

Und er zog sich einen Schritt zurück und trat dem nichtsahnenden Hund seinen Fuß mit aller Wucht so in die Rippen, daß Rex den Halt verlor und rücklings über den Rand des Abgrundes in die Tiefe kollerte.

»Rex!« schrie Frau Hella auf und warf sich ohne Rücksicht auf die Gefahr hart am Wegsturz auf die Knie. Erdreich bröckelte neben ihr und polterte dem Hund nach, und langsam, wie ein Warnungssignal auf einer Bahnstrecke ohne sichtbaren Antrieb seine Richtung ändert, legte sich einer der Pfosten des Geländers um und blieb in einer unmöglichen Haltung vornübergeneigt stecken.

Die Arbeiter unten auf dem Grund der Felswildnis riefen etwas und deuteten hinauf. Einer legte sogar die Hände als Schalltrichter um den Mund, aber man vernahm ihn trotzdem nicht.

Es war kein Zweifel, daß der Hund irgendwo in den Klippen lag, zerschmettert, zu Brei zermalmt. Und gefoltert von dieser Vorstellung seines blutenden, von den zersplitterten Knochen zerstochenen Felles, seiner brechenden Augen, die so maßlos verwundert dreinsahen, bedrängt von dem plötzlich aufdringenden Gefühl, diesen einzigen echten und unbedingten Gefährten verloren zu haben, sah Frau Hella zu dem Mann auf, der neben ihr stand, und sagte, so aus dem tiefsten Herzensgrund heraus: »Du roher ... du roher Mensch!«

Sie erschrak. Denn wie sie ihm so ins Gesicht sah, da war es ihr, als erhelle sich mit einem Schlage eine entsetzliche Ähnlichkeit. Genau so, halb verlegen und halb höhnisch, hatte der g'schliffene Ferdl ausgesehen, als er von Rex niedergerissen worden war, genau so verzog sich dieses Mannes Mund wie bei jenem, genau so höhlten sich die Schläfen aus, als wären die beiden Menschen brüderlich aus derselben Wesenswurzel erstanden.

Mister Beckers aber, um zu zeigen, wie sehr er sich den Umständen gewachsen fühlte, nahm eine Zigarette, ließ sein silbernes Feuerzeug sprühen und paffte mit gerundetem Mund blaue Rauchwölkchen aus. »Ach was!« sagte er starkmütig, »so ein Luder.«

»Gehen Sie,« befahl Frau Hella mit einem hellen Schwingen in der Stimme, wie von einer zum Reißen gespannten Saite, »gehen Sie mir aus den Augen.«

Mister Beckers lachte kurz auf, sah seine Zigarette aufmerksam an, blies die Asche fort und pfiff durch die Zähne, genau so, wie es der g'schliffene Ferdl getan hatte. Dann schwenkte er seinen Strohhut mit einer spöttisch übertriebenen Höflichkeit und sagte: »Na schön!«; drehte sich auf dem Absatz herum und ging, ohne auf seine demolierte Kehrseite Bedacht zu nehmen.


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