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11

Mirzl, die weiland tränenfeuchte Jungfrau aus Oberösterreich, war schon längst gründlich ausgetrocknet und in die neuen Verhältnisse eingewurzelt, fester als es je zu erwarten gewesen war. Wie es sich mit ihren anderen einstigen, aus der Heimat mitgebrachten Eigenschaften verhielt, war so von außen nicht ohneweiters unzweideutig festzustellen; es sprach indessen der Augenschein und das, was der Jurist Indizienbeweis nennt, dafür, daß auch sie bei der Wandlung ihres inneren Menschen gegen eine großzügigere Auffassung der Dinge eingetauscht worden seien.

So weit sich diese innere Wandlung nach außen bekundete, war nämlich festzustellen, daß Mirzl ihre anfängliche Abneigung gegen das Wasser als Schönheitsmittel aufgegeben hatte. Sie wandte es nicht mehr bloß flüchtig an, um den ausgesetztesten Teil ihres Gesichtes, einen ziemlich engbegrenzten Umkreis von Nase, Mund und Augen ins Helle zu heben, während von den Wangen an nach hinten und unten hin alles in einem schattenhaften Grau verblieb. Sie griff mit Seife und Wogenschwall im Fortschreiten ihrer inneren Entwicklung immer weiter in diese einst unangetasteten Regionen hinein, und mit der Zeit schwand die früher vorhanden gewesene Möglichkeit, auf ihrem Hals Kartoffel anzubauen, völlig dahin; sie schien auch die geniale Unordnung ihres Haarwuchses, diese ländliche Ursprünglichkeit einer verfilzten Wildnis auf ihrem Haupte als unangebracht zu empfinden und setzte den dünnen aschblonden Strähnen mit Kamm und Bürste zu, also daß sich jetzt ein gebranntes und geschneckeltes Gebäude auf ihrem Scheitel erhob, für das die Frisur der Frau Doktor ein allerdings nicht erreichtes Vorbild abgegeben hatte.

Wenn man mit diesen Neuerungen wohl zufrieden sein konnte, so erstreckte sich die Umgruppierung ihrer Wesenheit aber auch auf Gebiete, wohin man ihr nicht mit vollem Einverständnis zu folgen vermochte. Es stellte sich nämlich auch eine Steigerung des Selbstbewußtseins ein, die man mit Verwunderung wahrnahm und die dahin führte, daß sie Widerspruch oder Zurechtweisung nur sehr ungern duldete und alles nach ihrem eigenen Kopf durchzusetzen sich vermaß. Da indessen ihre Ausbildung in den Dingen der Hauswirtschaft noch keineswegs auf die Höhe dieses Selbstbewußtseins gerückt war, mußte der Doktor bisweilen mahnend einschreiten, während Frau Hella der Ansicht war, es sei besser schweigend zu dulden, weil Mirzl sonst am Ende in offene Empörung ausbrechen könnte. Die Lage der Dinge schien Frau Hella Recht zu geben und der Doktor mußte sich, so vorsichtig er auch in seiner Kritik war, bald überzeugen, daß sich Mirzl zu allem anderen noch etwas angeschafft hatte, was ihr von Haus aus ganz gewiß nicht mitgegeben war: nämlich Nerven. Wenn sie etwas nicht nach ihrem Gutdünken und in völliger Freiheit machen konnte, und wenn ihr etwa zugemutet wurde, sich einer von ihr nicht gebilligten Anordnung zu unterwerfen, so bekam sie Zustände. Sie äußerten sich in übler Laune, Magenverstimmung, Kopfschmerzen und an besonders empfindlichen Tagen in Rückfällen in die alte tränenfeuchte Verfassung schrecklichen Angedenkens.

Dann mußte Frau Hella als Versöhnungsengel in die Küche gehen und der verwundeten Seele allerlei heilsame Pflaster in Gestalt von guten Worten, Geld und erneuerten und erweiterten Zugeständnissen auflegen. So errang sich Mirzl nach und nach eine magna charta libertatum, die der englischen insoferne völlig glich, als sie wie ein richtiges Unterhaus über alle wirtschaftlichen Angelegenheiten in unumschränkter Selbstherrlichkeit waltete, während dem Doktor und Frau Hella nur eine Art Scheinkönigtum verblieb.

Frau Hella hatte gute Gründe, um eine freundliche Gemütslage ihrer Mirzl bemüht zu sein: außer dem allgemeinen, daß man doch niemand anderen bekomme, auch noch ihre besonderen.

Das erregende Moment dieser inneren und äußeren Wandlungen und Neuerungen, der Ausgangspunkt für die Erringung der magna charta libertatum, die treibende Kraft, die aus der ländlichen Jungfrau, die als Dienstbote angekommen war, eine stark rötlich gefärbte Hausgehilfin gemacht hatte, hieß Ferdinand Kehraus, der »g'schliffene Ferdl« genannt. Er gehörte zum Verband der Kopfschüßler, einem weit und breit angesehenen Verein derer, die aus einer im Krieg erhaltenen Kopfwunde die Berechtigung ableiteten, sich über die zwar erschütterte, aber noch nicht ganz abgetane Gesellschaftsordnung völlig hinwegzusetzen. Wenn er wegen einer Messerstecherei beim Heurigen, wegen nächtlichen Spektakels, verbunden mit Sachbeschädigung oder wegen sonstiger abweichender Ansichten über den Begriff des Eigentums mit den Vertretern jener Ordnung in Mißverständnisse geriet, pflegte er sich darauf zu berufen, er sei im Krieg blöd geworden und es dürfe ihm nichts geschehen. Wirklich fand sich auch selten genug ein Richter, der ihn wegen solcher Kleinigkeiten ernstlich verurteilt hätte, einesteils, weil die Gefängnisse »eh' alle überfüllt waren«, und andernteils, weil der »g'schliffene Ferdl« an passender Stelle seiner Unterredungen mit der Obrigkeit zu bemerken pflegte, wenn er in Wut komme, so kenne er sich nicht. Wurde er dann trotzdem von einem tapferen Vertreter der Obrigkeit mit Aufgebot alles Mannesmutes doch an die Unmöglichkeit solch tumultuarischen Sichauslebens gemahnt, so geschah es im Tone herzlichen Zuredens und christlich-brüderlicher Warnung.

Nur ein einzigesmal im Verlauf seines Heldenlebens hatte der g'schliffene Ferdl eine Niederlage erlitten. Das war damals, als eine tollkühne Zeitung sich einige abfällige Bemerkungen über den Verband der Kopfschüßler erlaubt hatte. Daraufhin war der »g'schliffene Ferdl« als Sprecher des Verbandes auf der Redaktion erschienen, hatte mit düsterer Miene den Verfasser der Notiz erfragt, und als dieser sich meldete, erklärt, er habe einen Kopfschuß und dürfe nicht gereizt werden, denn wenn er in Wut komme, so kenne er sich nicht, und wenn die Notiz nicht widerrufen werde, so mache er aus der Redaktion einen Kriegsschauplatz. Der Redakteur aber hatte bedauernd genickt und ihm entgegnet, wie das mit den Kopfschüßlern sei, wisse niemand besser als er, denn er selbst habe auch einen Kopfschuß, übrigens habe auch der Redaktionsdiener einen Kopfschuß und der Hausbesorger unten auch. Und da sich der Redakteur nach diesen Worten erhoben hatte und Ferdinand Kehraus bemerkte, daß jener um nichts kleiner und mindestens ebenso breitschultrig war wie er selber, hatte er sich ohne weitere Zumutungen an das Preßgesetz empfohlen.

Von diesem Feldzug gegen die Journalistik sprach der g'schliffene Ferdl nur wenig, sagte den Kollegen nur, er habe es dem Kerl gegeben, und so blieb ihm seine führende Rolle im Verband unbestritten.

Wie die Mirzl an diesen zeitgemäßen Recken geraten war, blieb dem Ehepaar Schittelhelm unbekannt. Es merkte bloß die Ausstrahlungen seines Wirkens. Sie erstreckten sich, wie zu sehen, nicht nur auf Mirzls liebegeweckte Eitelkeit, sondern auch auf ihren Verstand.

Und wenn der Ferdl sagte: »Laß' dir nur nix g'fallen von die kapitalistischen Ausbeuter. Wann ihnen was net recht is, so haust d' 's G'schirr z'amm und nachher gehst d',« so nickte sie und prägte sich die goldenen Worte fest ein.

»Übrigens,« pflegte er hinzuzusetzen, »wann mer so viel Butter am Kopf hat, wie dei' Gnädige, dann muß mer's Maul halten. Wann du zum reden anfangst, so is g'fehlt für sie.«

Was Mirzl von der Butter auf Frau Hellas Kopf wußte, war nicht viel, nur, was man eben so aus der Küchenperspektive zu sehen bekommt: gelegentliche Briefbotschaften, Geschenkpaketchen, Spaziergänge mit Mama Tröger und dem Amerikaner, von denen der Doktor nichts erfahren sollte, immerhin genug, Mirzls Überlegenheit zu stärken und ihr das Bewußtsein ihrer Unentbehrlichkeit aus dem Quell jener Geheimwissenschaft zu nähren.

Eines Tages meinte der g'schliffene Ferdl, er habe es satt, sich mit der Mirzl auf der Straße herumzudrücken, und sein Verlangen gehe darnach, sie bei nachtschlafender Zeit im verschwiegenen Kämmerlein aufzusuchen. Dabei steckte er dem Mädchen ein Wachskügelchen in die Hand und sagte, sie brauche bloß mit Hilfe dieses Kügelchens einen Abdruck des Haustürenschlosses zu machen und das übrige sei seine Sache. Als Mirzl daraufhin trotz aller Benommenheit, die über ihren Kopf von ihrem Herzen aus gekommen war, Bedenken trug, dem Wunsch ihres Ferdl zu willfahren, erklärte er, das sei sehr traurig und solches habe er nicht von ihr erwartet, übrigens, wenn solche Dinge nötig wären, so sei niemand schuld daran als der saubere Herr Doktor selber, der, anstatt Mirzl wie früher den Hausschlüssel zu überlassen, ihn jetzt allabendlich selber abzog und verwahrte. Damit hatte es seine Richtigkeit, denn, da man jetzt um Mirzls eben nicht völlig einwandfreien Umgang wußte und, sobald man nur den Namen des g'schliffenen Ferdl nannte, von allen Ortsbekannten entsetzte Mienen zu sehen bekam, schien einige Vorsicht geboten.

Die Mirzl, erschüttert durch ihres Herzensschatzes Vorwürfe und gereizt durch den Hinweis auf jenes offensichtlich bekundete Mißtrauen, willigte schließlich ein. Zwei Tage später hatte der Ferdl den Abdruck und wieder zwei Tage später konnte er der Mirzl mitteilen, daß er sie in einer der nächsten Nächte besuchen werde, worauf aus Mirzl ein tiefer, banger Glücksseufzer hervorbrach.

Es war bei all diesem Plänen nur einer außer Anschlag geblieben: Rex. Er führte neben Mirzl ein von ihr völlig unbeachtetes Dasein und hielt sie seinerseits nicht für wichtig genug, um ihr besondere Beachtung zu schenken. Wohl war ihm auch an ihr nicht entgangen, daß sie abends immer mit einem widrigen fremden Geruch behaftet heimkam, aber da sein Herz nicht an ihrem Wohl und Wehe beteiligt war, fand er es nicht für nötig, sich darüber aufzuregen. Er schnupperte flüchtig hin und wandte sich dann anderen bedeutsameren Angelegenheiten zu.

An einem dunkeln, wolkenschweren Abend bereicherte sich sein Weltbild durch die Entdeckung eines seltsamen Tierwesens, das er bisher nicht gekannt hatte. Er schnüffelte im Garten so vor sich hin, als ihm plötzlich eine Fährte aufstieß, die ihn ungemein fesselte. Mit einem kurzen jagdlustigen Geheul setzte er sich in Trab und folgte ihr kreuz und quer, wie sie sich durch Gras und Gebüsch zog, bis er im trockenen Laub etwas rascheln hörte und etwas Lebendiges vor sich sah, das ganz gewiß hier nichts zu suchen hatte. Er stürzte sich darauf los, aber im gleichen Augenblick fuhr er mit einem Schmerzensschrei zurück. Das Tier hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt, die nach allen Richtungen Stacheln von sich streckte, an denen er sich die Nase gründlich zerstochen hatte. Nach einem Augenblick tiefer Bestürzung geriet er in um so größere Wut und ging der stacheligen Kugel abermals zu Leibe. Aber er hätte, um sie zu packen, nicht eine so feine, empfindliche Nase haben dürfen. Er merkte bald, daß dem Tier auf dem gewöhnlichen Weg nicht beizukommen war und wandte es mit den Pfoten hin und her, um irgendwo einen Zugang zu finden. Heulend und kläffend wälzte er den Igel durch das Gras, aber die stachelbewehrte Kugel blieb sich rundherum vollkommen gleich, schien sich, je mehr er sich bemühte, nur noch immer fester und dichter zusammenzuschließen.

In seinem Eifer merkte er nicht, daß ein Mann draußen am Zaun stehen geblieben war und den mörderischen Spektakel anhörte.

Er trieb es so lange, bis der Doktor im Haus aufmerksam wurde und in den Garten kam, um die Ursache des die nächtliche Ruhe störenden Getöses zu erkunden. Trotzdem er in längerer Rede erklärte, daß der Igel ein nützliches Tier sei, das sich bescheidentlich von Schnecken und sonstigem schädlichen Geziefer nähre, ein Biedermann wie nur einer, und daß man einem solchen Gast die Anwesenheit nicht verleiden dürfe, war Rex nicht zur Vernunft zu bringen. Er umsprang das Stachelwesen in besinnungsloser Entrüstung, verbellte es schäumend, bis er schließlich am Kragen gefaßt und abgeführt werden mußte, trotz seiner heftig schnaubenden Gegenwehr.

»Dös Mistviech wird mich verraten,« sagte der Ferdl nachher, da Rex so überaus lärmvoll an sein Dasein erinnert hatte. Die Mirzl aber, durch die Aussicht auf die heute nacht in Aussicht gestellte Glückseligkeit im innersten bewegt, wollte keinen Einwand gelten lassen und beruhigte den geliebten Mann. Der Hund schlafe immer in der Küche, schlafe wie erschlagen, und überdies werde sie heute zur vollen Sicherheit die Tür absperren. Und wenn der Ferdl vor dem Haus die Schuhe ausziehe, werde ihn der Hund bestimmt nicht hören.

Gegen Mitternacht entstand in einem sanften Traumweben des Doktors ein schrecklicher Aufruhr. Es wurden Türen geschlagen, Kanonenschüsse brüllten auf, Glocken läuteten, und er sagte sich, jetzt sei die Revolution endgültig ausgebrochen. Dann verbesserte er sich selbst dahin, es sei Rex, der wieder den Igel in der Arbeit habe. Das Stacheltier war so groß und dick wie ein Weinfaß, und Rex rollte es polternd die Stiegen hinab. Endlich erweckt, hörte er, daß Rex unten in der Küche tobte und bellte, was nur aus dem Hals wollte.

Auch Frau Hella war erwacht und saß aufrecht im Bett. »Was hat denn der Hund?«, sagte sie schaudernd, »man könnte sich beinahe fürchten.«

Der Doktor erhob sich, nahm das Licht und bewaffnete sich mit seiner Browningpistole, die in der Nachttischlade lag. »Ich will einmal nachsehen,« sagte er und lauschte in das Haus hinaus, aus dem das Toben des Hundes wie aus einem Höllenkrater hinausdrang. An der Tür des Mädchenzimmers regte es sich, es war, als werde ein Spalt leise wieder geschlossen.

»Mirzl, sind Sie wach?« fragte der Doktor. Und da niemand antwortete, stieß er die Tür auf. Da stand Mirzl im Hemd, zitternd und bleich wie die Wand, und sprang, als sie sich in ihrer jungfräulichen Blöße beleuchtet sah, mit einem Quietschen ins Bett zurück. Auch an der Tür, hinter der Mama Tröger ihre Nachtruhe pflegte, wehte es weiß. Ohne sich weiter aufzuhalten, lief Schittelhelm die Stiegen hinab, riß an der Küchentür und fand sie zu seiner Verwunderung von außen verschlossen. Mit einem Ruck drehte er den Schlüssel herum, da schoß Rex mit einem Knurren an ihm vorbei, über den Flur und geradenwegs die Kellerstufen hinab.

Ins Jagdgebell des Hundes klang ein unterdrückter Schrei.

Es schien dem Doktor später, als sei er auf unbegreifliche Weise dem Hund nach über die Kellertreppe geflogen. Er sah einen Mann in einer Nische des Vorkellers gedrückt, der mit einem Messer in der Hand nach dem Hunde stach. Rex wich aus, sprang zurück, griff wieder an, fuhr dem Menschen an die Beine, von denen die Wickelgamaschen schon in Fetzen herabhingen.

»Das Messer weg!« schrie Schittelhelm.

»Rufen S' dös Viech z'ruck,« brüllte der Gestellte.

»Das Messer weg!«

Die Klinge klirrte zu Boden und der Doktor bückte sich, um sie aufzuheben. Da war es ihm, als stürze etwas Schweres auf seinen Kopf, aber im selben Augenblick gurgelte ein Entsetzensschrei über ihm, der in ein Wimmern auslief. Als sich Schittelhelm von dem Faustschlag, den er erhalten hatte, noch taumelnd und halb betäubt erhob, sah er, daß der Eindringling niedergerissen war und daß Rex' Zähne an seiner Gurgel saßen.

Er griff in das Halsband des Hundes und zog ihn weg: »Machen Sie keine Umstände!« sagte er, indem er den Revolver erhob. Der Mann raffte sich auf, lag eine Weile auf den Knien und blinzelte verstört ins Kerzenlicht. »Was suchen Sie hier im Haus?«

Jetzt stand der Besiegte völlig auf, strich die Haare aus der Stirn und grinste.

Es war nicht schwer zu erraten, was der Mann gesucht hatte, hinter ihm im Winkel des Vorkellers lag ein Bündel Kleider, wie er sie im Vorzimmer hängend gefunden hatte. Frau Hella war, flüchtig angekleidet, nachgekommen und Zeugin der entscheidenden Wendung des Kampfes gewesen. »Kommen Sie!« sagte der Doktor. »Ich bitte dich, Hella, ruf die Mirzl. Sie soll sich anziehen und die Polizei holen.«

Im Ordinationszimmer fanden sich weitere Spuren des nächtlichen Besuchers, der Schreibtisch war erbrochen, Papiere herausgezerrt, die geleerte Brieftasche lag auf dem Boden.

»Sie sind der Ferdinand Kehraus?« sagte der Doktor. Er hatte sich gesetzt, den Browning vor sich aus den Tisch, den Hund neben sich, der kein Auge von dem Fremden ließ, bereit, sich wieder auf ihn zu stürzen.

»Fragen S' net so blöd,« grinste der Mann, »wenn S' mi eh' kennen.«

Es war eine seltsame Viertelstunde, die sie so verbrachten. Der g'schliffene Ferdl versuchte einen höhnischen Gleichmut zur Schau zu tragen, pfiff vor sich hin und wich den Blicken des Doktors aus, indem er die seinen über Wände und Decke wandern ließ. Im Haus gingen Türen, erregtes Sprechen und Weinen schwoll an und ab. Dann kam Frau Hella mit Mirzl, die ein großes dunkles Umschlagtuch über die Schultern geworfen hatte und sich beim Anblick Ferdls mit einem neuen Ausbruch von Jammer schluchzend gegen den Türpfosten lehnte.

»Holen Sie die Polizei,« sagte der Doktor.

Ohne hinzusehen zischte der g'schliffene Ferdl aus dem Mundwinkel: »Da bleibst d'!« und so groß war noch immer seine Macht über sie, daß sie sogleich zusammenbrach und unfähig, sich zu bewegen, mit einem Gewinsel in die Knie sank und nur die gerungenen Hände bittend vorstrecken konnte.

In Frau Hella befanden sich alle Gedanken in einem sonderbaren Zustand schwebender, halber Gelöstheit. Wie sie da aus dem Bett gesprungen und ihrem Mann in aller Hast nachgeeilt war, hatte sie kaum gewußt, daß sie sich eigentlich mutig benahm. Es war ihr alles nur etwa wie die Fortsetzung eines Traumes gewesen, in dem man sich zu Dingen auf- und mitgerissen fühlt, deren man sich wachend kaum für fähig gehalten hätte und in dem Gefühle da sind, von denen man sonst kaum etwas wußte. Wie sie durch diese düsteren, von Gefahr erfüllten Szenen gejagt worden war, wie sie das Ringen im Keller, den Hinsturz ihres Mannes und den letzten Ansprung des Hundes gesehen hatte, war etwas Verschüttetes in ihr wieder frei geworden und erstanden: eine liebende Angst um den Mann und, auf sonderbare Weise damit verbunden, ein jähes Glücksempfinden. Sie wußte ihm keinen anderen Grund, wenn nicht den, daß es ihr plötzlich hellseherisch klar geworden war, welche Kraft auf dem Grund seines Wesens lag und sich behütend für sie im weitesten Umkreis ihres Lebens einsetzte.

Aus diesem scheuen Gefühl von Verbundenheit heraus trat sie zu ihm und legte ihm die Hand leise auf die Schulter: »Ich will die Polizei holen!«

»Ich danke dir, Hella!« sagte er, indem er zu ihr aufschaute.

Nun war er wieder mit dem g'schliffenen Ferdl allein. »Setzen Sie sich,« sagte er, indem er eine Zigarette anzündete, und als der blaue Rauch aufstieg, fügte er zögernd hinzu: »Wissen Sie ... Kehraus ... Sie tun mir eigentlich leid.«

Der g'schliffene Ferdl fuhr zu pfeifen fort, er konnte sich aber nicht enthalten, zwischendurch einen verwunderten Blick auf den Doktor zu werfen. Endlich sagte er fast wider seinen Willen: »Ich hab' an Kopfschuß ...«

»Ich weiß ... ich weiß ... und drum tun Sie mir ja leid. Aber darauf werden Sie sich nicht lang mehr ausreden können. Solche Kopfschüsse, wie Sie einen haben, hat's schon lang vor dem Krieg gegeben. Ich glaube überhaupt, daß alle, die sich so gegen die Welt stellen wie Sie, eine Art Kopfschuß haben. Aber schließlich werden die Leute ohne Kopfschuß in der Mehrzahl sein, und zuletzt muß die Welt doch nach den gesunden Köpfen gehen und nicht nach den kranken. Traurig genug, daß es Menschen gibt, die den Kranken einreden, sie dürfen machen was sie wollen.«

Sie schwiegen wieder, aber der g'schliffene Ferdl hatte zu pfeifen aufgehört und hielt seinen Blick auf eines der glänzenden Instrumente geheftet, die auf dem Schreibtisch des Doktors lagen, eine Zange oder was es sein mochte, die mit einem Widerschein des Lichtes spielte und manchmal grausam aufblinkte, als träume sie mitten in der Nacht von Zupacken oder Schneiden. Und wie der Ferdl dieses blitzende Ding da so fest ins Auge gefaßt hatte, da wurde ihm, als vergingen ihm die Sinne und er sinke mit dem Sessel, auf dem er saß, in den Boden hinein; zugleich griff das Instrument mit einem schneidenden, aber beinahe wohltätigen Schmerz in sein Gehirn hinein, und es war, als packe es dort ein Geschwür. Er konnte nur noch murmeln: »An Kopfschuß ... an Kopfschuß,« lallend wie aus tiefem Schlaf.

Der Doktor sah den g'schliffenen Ferdl erstarren und in einer Haltung auf seinem Sessel kleben, als ob er im nächsten Augenblick zu Boden fallen müßte. Da legte er die Browningpistole aus der Hand, denn er wußte jetzt, daß er sie nicht mehr brauchen würde, und es war etwas wie ein zufriedenes Lächeln, das ihm aus der Tiefe seiner Seele auf das Gesicht stieg.

Weit weniger einverstanden mit dem friedfertigen Abklingen der Ereignisse war der dritte Anwesende, Rex, der, neben seinem Herrn sitzend, nach wie vor den Feind nicht aus den Augen ließ. Er konnte in seinem Hundeverstand einen solchen Verlauf der Begebenheiten nicht zusammenreimen, und wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätte er seine Zähne überhaupt nicht von der Gurgel des Fremden genommen. Auch zog er jetzt lehrreiche Vergleiche zwischen einem Menschen und einem Igel und kam zum Schluß, daß es doch mit dem Menschen insofern günstig eingerichtet sei, als sich der Mensch nicht zusammenrollen und Stacheln von sich strecken konnte. Da es überdies mit seinen Zähnen nicht weit her war, so blieb eigentlich unverständlich, worauf sich die Macht des Menschen gründete, wenn nicht auf diese wunderliche Eigenschaft, daß er Töne bildete und mit ihnen von einem zum andern seinen Willen kündete. Sein Herr und die Herrin freilich waren von solchen Gedanken ausgenommen, die waren irgendwie über alles gesetzt und ihm selbst so tief verbunden, daß er auch, ohne daß sie ein Wort sprachen, von allem wußte, was in ihnen geschah, wenn es auch nicht immer verständlich war, wie eben jetzt, dies, daß aller Groll gegen den fremden Mann aus seinem Herrn gewichen schien.

Während Rex diesen Gedanken nachging, hörte er das Haustor gehen und eine fragende Männerstimme auf den Stufen zum Flur. Der g'schliffene Ferdl schien dadurch in sich selbst zurückgerufen, die Starrheit seiner Glieder löste sich, und er wischte mit der Hand über die Stirne und Augen, über denen es ihm noch wie ein Schleier hing.

»Schauen Sie, Kehraus,« hörte er den Doktor wie in das nachwehende Ende eines Traumes sagen und es war ihm, als fielen diese Worte in eine leere Stelle seines Gehirnes, wo sie sich festsetzten, »ich kann es nicht verhindern, daß Sie jetzt eingesperrt werden. Aber wenn Sie wieder draußen sind, so kommen Sie zu mir ... ich will mir Mühe geben, Sie irgendwo unterzubringen.«

Der Polizeiinspektor und der Wachmann, die gekommen waren, den g'schliffenen Ferdl zu holen, konnten sich nicht genug darüber wundern, daß er sich diesmal ganz gutwillig abführen ließ und nicht ein einzigesmal den Versuch machte, auszureißen, ja daß er nicht einmal in jene wüsten, unflätigen Schimpfreden ausbrach, mit denen er sich sonst bei gleichen Anlässen Luft zu machen pflegte.


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