Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XX

Auf kahlen Höhen, etwas abseits vom Hotel, liegt am Fuße des Matterhorns der Schwarzsee. Ein kleiner, finsterer Teich, der schwarzgrün in seinem Felsenkessel brütet. Die vorbeikommenden Führer weisen ihn ihren Herren und berichten, daß einer ihrer Genossen vor einiger Zeit in diesem Tümpel ums Leben gekommen sei. Ein Bergführer, der im Angesicht des Matterhorns ertrinkt, das erscheint ihnen so seltsam und erstaunlich, daß sie es kaum begreifen, wie der Fremde dazu nur gleichgültig nicken und nach dem lockenden Gasthaus spähen kann.

Heute hatten sie noch einen besonderen Grund, den reglosen Wasserspiegel, den selbst das leuchtende Himmelsblau des Sommertags nicht zu erhellen vermochte, ihren Touristen zu zeigen. Der Herr, der da einsam auf den von der Sonne durchwärmten Felsblöcken halb lag, halb saß – jawohl ... dieser bärtige Herr, mit der schwarzen Binde um das Haupt ... das war ja derselbe, der vor einigen Tagen da oben im Schneesturm abgestürzt und wie durch ein Wunder davongekommen war. Seinen Gefährten hatten sie schon gestern unten in Zermatt begraben. Ihm aber ging es ganz gut. Er habe sich schon so weit wieder erholt. Nur spreche er noch kein Wort und sitze den ganzen Tag hier irgendwo im Freien, um ins Tal hinunterzuschauen, wie wenn er etwas von dort sehnlich erwartete. Freilich ... wenn man sich den Kopf derart an den Steinen aufgeschlagen, da sei es ja kein Wunder, wenn man noch eine Zeit lang ein bißchen absonderlich bleibt. Das gibt sich wieder.

Die fernen Stimmen verhallten. Führer und Reisende stiegen zu dem Hotel hinab. Er war wieder allein mit sich und seinen Gedanken.

Oder vielmehr: er hatte nur einen Gedanken. Er wartete. Seit zwei endlos langen Tagen und Nächten.

Rings um ihn standen in schimmerndem Kreise die Alpen. Noch lag der Tag hell auf ihren Höhen, während im Tale schon der Abend graute. Aber heute sagten ihm die wohlbekannten Kolosse nichts. Gleichgültig sah er nach rechts zum wolkenstürmenden Gewimmel der Monte-Rosa-Gipfel und dem runden weißen Breithornrücken, gleichgültig nach links zum schlimmen Zinnal-Rothorn, zu den zerklüfteten Gabelhörnern, der frostgepanzerten Dent-Blanche und hinüber zum häßlichen, ungeschlachten Dom, zum Rimpfieschhorn mit seinen keck aus Schneehängen aufschießenden Felsenzacken. Ja selbst der böse Feind dicht hinter ihm, das unermeßlich sich zum Himmel auftürmende Matterhorn, war ihm heute so fremd, als hätte er nie mit dem Gewaltigen auf Tod und Leben gerungen.

Er wartete und wartete. Langsam stieg das Dämmern aus dem Tal herauf.

Heute kam sie wohl nicht mehr. Er erhob sich fröstelnd und beschattete zweifelnd mit der Hand die Augen.

Eine Gestalt wurde auf der Trümmerhalde vor ihm sichtbar, eine schlanke hohe Frauengestalt, die sich einen Augenblick suchend umsah und dann rasch auf ihn zuschritt.

Ein Seufzer der Erlösung entrang sich seiner Brust. Er ging ihr entgegen. Sie reichten sich schweigend die Hände. Eine unbestimmte Angst erfaßte ihn dabei, als er in ihr Gesicht sah. Es war so blaß, trotz des herben Bergwinds, der mit ihrem Goldhaar spielte, um die Lippen lag so ein harter, fester Zug ... er wagte es nicht, zu ihr von dem zu beginnen, was zwischen ihnen jetzt ausgesprochen werden mußte.

Auch sie schwieg lange Zeit. Sie gingen nebeneinander am Rand des Sees hin, über dessen schwarzgrüne Fläche der Wind in weißen Schaumspritzern hinlief. Eintönig klang das leise Plätschern am Ufer durch das Wehen der Berge.

Da blieb sie stehen. »Es ist gut, daß ich Sie hier getroffen habe« – ihre Stimme klang ruhig wie sonst – »hier können wir uns ungestört alles sagen!«

»Und was haben Sie mir zu sagen?«

Ein kurzer, banger Augenblick. Dann faßte sie plötzlich seine beiden Hände, sie zog sie an sich und schaute ihm voll ins Gesicht.

»Wozu viele Worte? ... 's ist auch mit wenigen gesagt: Leben Sie wohl, mein lieber, lieber Freund ...«

Er empfand einen bitteren, das Herz zusammenkrampfenden Schmerz. Aber überraschend kam es ihm nicht.

»Ich hab' es gefürchtet ...« sprach er dumpf, »... und doch ... und doch ...«

Sie hielt noch immer seine Hände. Er fühlte, wie ihre schlanken Finger sich an die seinen preßten, während sie ihre bleichen stolzen Züge mit aller Kraft beherrschte.

»Wir wollen uns nicht unnütz quälen« – sie schüttelte den Kopf – »und lange darüber reden. Es ist beschlossen. Es muß sein!«

»Und reiflich beschlossen?«

Ein trauriges Lächeln glitt einen Augenblick über ihr Gesicht.

»Das fragen Sie mich? ... mein guter Freund ... jetzt ... in diesem Augenblick, wo wir uns zum letztenmal auf der Welt sehen ... da können wir's uns ja sagen, daß wir uns liebhaben ... von Herzen lieb! Das wollen wir mit uns nehmen, wenn wir jetzt auseinandergehen ... Das bleibt unser Schatz und Heiligtum, und kein andrer Mensch braucht zu wissen, was uns das kostet ...«

Er konnte nicht anders. Die Tränen, seit langen Jahren die ersten Tränen, traten ihm, die Stimme erstickend, ins Auge.

»Wir sollen uns nie wiedersehen, Elisabeth?«

Sie schüttelte wieder das schöne Haupt.

»Vielleicht in langen Jahren einmal, wenn wir alt und grau sind. Aber jetzt ... was hilft es denn, wenn wir uns noch einmal zusammensetzen und uns noch einmal erzählen, daß wir unglücklich sind. Davon wird nichts besser ... Wir wollen uns ja hier keine Komödie vorspielen und uns weismachen, daß wir uns vergessen wollen. Das wissen wir beide, daß das nicht so bald geschehen wird. Ich wenigstens ... ich werd' Sie nie vergessen. Aber mit der Zeit werden wir anders aneinander denken wie jetzt ... nicht in Not und Schmerzen, sondern ruhig, wie an einen lieben Verstorbenen ...«

Und wieder preßte er verzweifelt ihre Hand. »Und kein Lebenszeichen, Elisabeth? ... nichts ... gar nichts?«

»Gar nichts«, sagte sie mit ruhiger heller Stimme, »... und nun, mein Freund, ist's geschehen, und das Schwerste in meinem Leben liegt hinter mir. Nun bleibt mir noch eins übrig: Ihnen zu danken. Jawohl ... ich danke Ihnen von Herzen! Sie haben das Beste in mir aufgeweckt. Ich werd' in Zukunft vielleicht unglücklich sein, aber ruhig und klar mit mir selbst, weil ich an Sie denken darf ... und weil ich an mich denken darf, ohne die Augen niederzuschlagen ... das war's, was ich in den Bergen gesucht hab' ... was mich da hinauftrieb. ... Sie wissen ... ich sagt' es Ihnen damals in der Schutzhütte ... ich suchte die Achtung vor mir selbst ... und Gott sei Dank ... ich hab' sie gefunden durch Sie ... und dafür dank' ich Ihnen ...«

Es war halbdunkel um sie geworden. In grauen Fledermausflügeln strich die Dämmerung über Stein und See. Der Himmel erlosch, und ferne Lichter blinkten scheu aus der verblassenden Wölbung hervor.

Da flammte es über die schneeigen Riesengipfel ringsum auf, wie das Leuchten einer andern Welt. Längst war die Sonne geschwunden. Graue Nebel hingen über der Stelle, wo sie sank. Und doch war die Helle da, eine geheimnisvolle, rosenfarbene Glut, in der die ragenden Hochzinnen sich badeten. Warme, freundliche Lichtquellen ergossen sich über die weiten, in märchenhaftem Scheine durch Nacht und Grauen winkenden Schneefelder. Aus dem gemeinen alltäglichen Schatten, der den Fuß der Berge umspann und gierig höher kroch, stiegen die feuergetränkten Gipfel freudig empor, in rosigem, durchsichtigem Glanz das Blaßblau des Abendhimmels begrenzend.

Woher kam dies überirdische Licht? Wohin ging es? Es war nicht zu erkennen. Rasch tiefer sich färbendes Dunkel ringsumher und über ihm, zwischen dem grauenden Himmel, der dämmernden Erde die rätselhaft lohende Rosenpracht, die wie der Widerschein unbekannter, dem Menschenauge ewig verschlossener Welten in ahnungsvollem, heiligem Schweigen über die Hochwelt flammte.

Lange schauten die beiden hinaus in das Alpenglühen.

»Das ist der Abschied von den Bergen«, sagte Elisabeth endlich leise »ich komme nicht wieder zurück. Nie wieder. Aber in meinem Herzen bleiben sie stehen. Ich, hab' Schweres und Hartes in ihnen erlebt, aber ich grolle ihnen nicht. Viel ist da oben in mir aufgeblüht und wieder verdorrt ... viel, das ich früher nicht ahnte. Mag es da oben im Schnee begraben bleiben, wo es die Menschen nicht sehen ... unter der weißen Totendecke ...«

Immer noch grüßten sich flammend die Bergzinnen über das Tal. Aber höher und höher stieg, die Glut in grauen Nebelfluten ertränkend, die Nacht.

Elisabeth sah ihrem Begleiter ins Auge. Ein schmerzvoll stolzes Lächeln zuckte um ihre blassen Lippen.

»Ich bin froh, daß wir hier voneinander Abschied nehmen dürfen ... im Angesicht der Hochwelt, die uns zusammengeführt hat. Die Welt da oben ist über das Gemeine und Häßliche erhaben ... die ist rein und weiß ... und wenn wir künftig füreinander tot sind, weiß und rein ist's auch zwischen uns geblieben ...«

»... Und jetzt möcht' ich Ihnen nur noch eins sagen, lieber Freund: ich will, daß Sie glücklich werden. Und glücklich wird man nur durch die Liebe. Sie hassen die Menschen, weil Sie verraten wurden. Aber glauben Sie mir: die Liebe ist nicht tot. Die Liebe lebt und ist überall, wo man sie sucht. Und darum bitt' ich Sie: bleiben Sie nicht mehr allein, gehen Sie hinunter zu den Menschen, und bringen Sie ihnen nur ein bißchen von dem mit, was zwischen uns plötzlich und gewaltig aufgeblüht ist. Sie werden sehen ... man nimmt es gern ... man gibt es Ihnen reichlich wieder ... und Sie werden ein andrer, froher Mensch ...«

Er neigte das Haupt. »Ich will es tun!« sagte er mit erstickter Stimme.

Da faßte sie zum letztenmal seine Hand.

»Leben Sie wohl!« stieß sie leise und atemlos hervor und wandte sich von ihm ab.

Sie ging.

Er sah der schlanken Gestalt nach, wie sie über das Geröll zum Hotel hinabstieg, wo ihrer das Saumtier harrte, um sie nach Zermatt zu tragen. Er wußte, sie weinte nicht. Den Kopf hochmütig in den Nacken geworfen, schritt sie dahin ... weiter ... immer weiter ... noch konnte sein Auge sie erkennen ... noch glaubte es sie zu erkennen ... sie war verschwunden.

Verschwunden für immer! Morgen früh reisten sie wohl ab! Wenn wieder um diese Zeit die Sonne sank, war sie schon fern von hier, in Glut und Lärm der Bahnhöfe ... in flachem Lande unter flachen Menschen, und nie mehr würde er das schöne kluge Antlitz wieder sehen, nie mehr die ruhige klare Stimme hören.

Eine heilige Trauer war in ihm – etwas, was nichts mehr mit Grimm und Zorn gemein hatte. Sie war ihm gestorben. Ihm blieb nichts mehr zu tun, als ihr Vermächtnis zu erfüllen und mit den Menschen wieder Mensch zu sein.

Er blickte zum Himmel auf, an dem die letzte Glut sich langsam löste und im Frieden der Nacht sich schwindend barg; und während er schweren Schrittes über das Geröll dahinging, da regte sich in ihm jener unerklärliche Schauer, der als unbestimmtes, aus unbegreiflichen Fernen heranwehendes Ahnen uns zuweilen erfaßt ... ein Ahnen, daß dies alles ... die Welt, die Menschen ... wir selbst ... etwas andres, etwas Höheres sind, als wir glauben ... etwas Geheimnisvolles, das nur zum Schein, auf kurze Frist, die bunte Maske dieser Erde trägt.

Er war der letzte, der heute da hinabstieg. Vor dem Gasthaus sah er noch einmal um sich und nahm Abschied von der Vergangenheit. Dann trat er ein. Es ward völlig dunkel draußen, und über den Schneefeldern hoch oben klagte der Sturmwind sein ewiges Lied.


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