Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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III

Mitten in der Nacht wachte sie plötzlich auf. Ein unbestimmtes Geräusch hatte sie geweckt.

Sie fuhr in die Höhe und starrte schlaftrunken in die Finsternis. Wo war sie denn eigentlich? Rings um sie undurchdringliches, beinahe mit Händen zu greifendes Dunkel, eine kalte feuchte Luft, knisterndes Stroh, eine grobe Pferdedecke ... und über dem Haupte – es mußte auf dem niedern Dache der Klubhütte sein – ein betäubendes Trommeln und Prasseln, in das sich das Knirschen der festgeschlossenen Holzläden und draußen das Stöhnen des Sturmes mengte.

»Was gibt's denn?« rief sie angstvoll vor sich hin.

Da merkte sie, daß auch ihr Hüttengenosse nicht schlief.

»Unwetter gibt's«, antwortete seine tiefe Stimme herüber, »Hagelschlag und Wind und Regen. Das Hochgebirge ist nun einmal ungalant. Das nimmt auf die schönsten Damen keine Rücksicht!«

Sie wickelte sich fester in ihren Woilach. »Eigentlich hab' ich ein bißchen Angst!« sagte sie zweifelnd.

Im Dunkel neben ihr lachte es dröhnend auf. »Angst? ... Sie? ... Ja ... wovor denn?« »Das weiß ich nicht!«

»Sie haben keine Angst!« entschied die Baßstimme jenseits der trennenden Decke. »Sie bilden sich das bloß ein. Und wenn Sie wieder eine Anwandlung bekommen, so denken Sie daran, daß ich bei Ihnen bin und Ihnen also gar nichts passieren kann!«

Sie atmete erleichtert auf. Ja, das war richtig. Sie befand sich hier in guter Hut. Der starke, unverzagte Mann da drüben würde sie schon schützen gegen die Berge, denen er selbst so seltsam glich in seiner Ruhe und Kraft und Einsamkeit.

Rasch, wie er gekommen, zog der Hagelstrich weiter. Das Erbsenschütteln auf den Dachschindeln verstummte, und statt seiner begann draußen einlullend das eintönige Rauschen des Regens ... Sie seufzte noch einmal tief auf. Dann schlief sie wieder ein.

Es ist, als ob solch eine Regennacht in der Alpenwelt kein Ende nehmen will. Stunde auf Stunde verrinnt. Die Uhr zeigt auf sieben, sie zeigt auf acht, und immer noch dringt kaum ein fahler Tagesschein durch die vom Holzladen befreiten Scheiben in das dämmernde Gemach. Und zuweilen ist es, als ob auch das bißchen Schimmer wieder verlöschen und gleich der nächsten Nacht Platz machen würde.

Er war längst aufgestanden, hatte seinen Anzug in Ordnung gebracht und sich eine Zigarre angezündet. Nun saß er am Tische und sah aufmerksam und unbeweglich auf eine Stelle, wo der im Laufe der Nacht etwas vom Seile herabgeglittene Woilach eine Lücke freiließ.

Und hinter dieser Lücke lag ein blasser, schöner, von losem Goldhaar umrahmter Kopf. Mit geschlossenen Augen in das Stroh gebettet, hätte er einer Toten gehören können. Aber ab und zu zuckte es im Traume um ihre roten halb geöffneten Lippen, und er hörte ihre leisen ruhigen Atemzüge.

Seit einer Stunde hielt er den Blick mit tiefem Interesse auf dies merkwürdige Schauspiel gerichtet.

Der alte Christen in seiner Ecke war auch schon munter. Mit gekreuzten Beinen saß er, an seiner Stummelpfeife saugend, im Stroh, blinzelte ab und zu nach dem Herrn herüber und greinte dann rätselhaft vor sich hin. Da machte sie eine Bewegung und streckte den Arm aus, wie um zu erwachen. Ihr Gegenüber sprang auf, winkte dem alten Zum Brunnen, und beide verließen die Hütte.

Als Elisabeth aufstand, sich die Schuhe zuschnürte und das Stroh aus den Kleidern klopfte, empfand sie ein seltsames Mißbehagen, eine Art »Katerstimmung«.

Diese schmutzige, eiskalte Hütte, das zerwühlte, auch nicht ganz einwandfreie Strohlager, der beißende Tabaksqualm, der sich in Wolken an der Decke hinzog, die schmutzigen Teller und Schüsseln mit ihren Käserinden und Wurstschalen, die, mit Asche überstaubt, neben dem Ofen aufgeschichtet standen, die Stricke, die Pickel und all das sonstige Gerät in den Ecken, und nun gar da oben der Verbandkasten – ihr wurde ganz flau zumute, während sie sich vor dem erblindeten Spiegelchen notdürftig die Haare zurechtmachte.

Dann öffnete sie die Tür und trat hinaus.

Eine Winterlandschaft umfing sie! Alles ringsum weiß, so weit der Blick durch den dick flutenden Nebel drang. Bis zu den Hüttenwänden hin lagen die Schneereste und dazwischen in kleinen Mulden und Furchen des Gerölls die vom Wind zusammengefegten Graupenkörner des nächtlichen Hagelschlages.

Auch jetzt hörte man das Pfeifen des Sturmes im Nebelgetriebe. Vereinzelte weiße Flocken senkten sich ununterbrochen, mit seinem Sprühregen untermischt, hernieder. Es war bitter kalt.

Die beiden Männer, die vor der Hütte standen und über die Wetteraussichten verhandelten, hatten sich fest in ihren Mantel gewickelt. Als sie herankam, reichte ihr der greise Bergführer schweigend die Hand; ein hornartig braunes Riesengebilde, in dem ihre zarten weißen Finger rettungslos verschwanden. Sein Gefährte aber lachte laut auf. »Guten Morgen!« rief er, »heute scheint es mit der Abenteuerlust nicht mehr so weit her zu sein!«

»O doch!« Sie stockte. »Nur vorher ... sagen Sie mal ... ist denn gar kein Waschwasser aufzutreiben?«

»Nein!« sagte er streng, »wer sich vor einer Gletschertour wäscht, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er aufgesprungene Lippen und Risse in der Haut bekommt. Und wollen Sie für den Rest Ihrer Tage mit einer roten Nasenspitze umherlaufen?« ...

»Lieber tot!« sagte sie schaudernd.

»Also gehen S' wieder in die Hütten!« entschied er. »Haben Sie Eau de Cologne bei sich? ... schön ... damit kann man sich vortrefflich waschen.«

Das tat sie also. Dann klopften die Männer an die Scheibe und erhielten die Erlaubnis, einzutreten.

Sie hatte sich, des Frostes wegen, in eine Decke gewickelt und sah, auf einem Schemel kauernd, gähnend und verschlafen zu, wie der Morgenkaffee bereitet wurde.

Eigentlich war es doch ganz spaßhaft. Und der Gedanke, bald etwas Warmes in den Leib zu bekommen, erfüllte sie mit neuem Wagemut.

Vor den Fenstern huschte etwas geschäftig hin und her. Ein kleines rostbraunes Wiesel, das in zierlichen Sprüngen über Gestein und Schnee flog und sich an den weggeworfenen Pouletknochen gütlich tat.

»Das Viehchen haust schon zwei Jahre hier!« sagte vom Ofen her ihr finsterer Freund, »ich seh's jedesmal, wenn ich in die Hütte komm. Aber wovon's außerhalb der Saison lebt, das mag der Himmel wissen.«

Der alte Christen hatte seinen Kaffee geschlürft und sah aufmerksam in das Hundewetter draußen hinaus, das nur ab und zu ein Windstoß von oben erhellte. Dann krochen wie eine Herde gescheuchter Gespenster die Nebelschwaden über den Gletscher zurück, ein, zwei eilig im Sturm treibende graue Fetzen als Nachzügler hinterher, und man konnte einen Augenblick die Berge auf der andern Seite erkennen.

Endlich ging Zum Brunnen hinaus, um sich durch ein wunderliches Schnuppern in der Luft über die Chancen der Witterung zu unterrichten.

Inzwischen hatte der andre einen primitiven Frühstückstisch bestellt.

Sehr behaglich fühlte sie sich nicht, als sie in dem grämlichen Morgenlicht ihm gegenüber Platz nahm. Mit blassem, übernächtigem Gesicht und Strohfetzchen im Haar, mangelhaft gewaschen und zur Not frisiert, mußte sie recht wie eine Zigeunerin aussehen.

Und überhaupt war es doch eine eigentümliche und beklemmende Situation, besonders nachdem sie gestern so schnell miteinander vertraut geworden waren.

Auch er schien etwas mißmutig. Er schwieg und rauchte.

»Sind Sie denn den ganzen Sommer so in den Bergen«, fragte sie ihn endlich, um irgendwie das Gespräch zu beginnen. Er nickte. »Sowie die Ernte herein ist; bis tief in den Herbst bin ich ein Stammgast aller Schweizer Klubhütten. In die Tiroler gehe ich nicht mehr. Das werden bald Hotels mit Kellnern, Lift und elektrischer Beleuchtung. Und ich will allein sein ...«

»Und wenn Sie nicht mehr auf die Berge können ... was machen Sie die übrige Zeit im Jahr ... ?«

»Oh«, sprach er und paffte die Zigarrenwolken vor sich hin, »im Winter hab' ich die Jagd ... schöne Jagd auf Hochwild und Sauen ... Und im Frühjahr und Frühsommer ... da hab' ich als Landwirt genug auf dem Felde draußen zu tun. Da wird mir die Zeit nicht lang!«

Sie blickte ihn fest an. »Mir würde die Zeit doch lang werden«, sagte sie mit klarer Stimme, »wenn ich mich gar nicht um meine Mitmenschen kümmerte. Ich finde, das muß man! Nicht des Amüsements wegen ... das ist gewiß oft zweifelhaft ... aber es ist unsre Pflicht, auch andern Menschen etwas zu sein!«

»Wenn die uns was sind ... .« Er füllte sich bedächtig seine Tasse mit Milchkaffee und brockte Brot hinein. »Aber da steckt's eben. Es gibt nun einmal Dinge auf der Welt ... wenn man die einmal hinter sich hat, so begreift man die Menschen nicht mehr und will mit ihnen nichts mehr zu tun haben, nicht im Guten und nicht im Bösen ...«

Seine Ruhe verdroß sie ... »Und wenn nun jeder ein solcher Menschenfeind wäre«, fragte sie erregt ... »wie würde es dann wohl auf der Welt aussehen? Denken Sie einmal selbst nach, was ...«

Er schüttelte den Kopf und sah ihr ins Gesicht. »Glauben Sie mir«, sagte er langsam, »den Menschenfeinden tut man unrecht. Das sind zumeist Leute, die nicht zu schlecht, sondern zu gut von der Menschheit gedacht haben, die sie zu ernst und zu tief genommen haben. Das verdient sie nicht ... Die Menschenfeindschaft kommt aus der Menschenliebe! ... oder sogar ... sie ist ein und dasselbe ... es ist Liebe, die nichts findet, was ihrer wert wäre.«

Er sah gleichmütig zum Fenster hinaus in das Geriesel von Regen und Schnee und hüllte sein buschiges Haupt in eine Wolke von Zigarrenqualm. Elisabeth wußte nicht recht, was sie ihm erwidern sollte.

»Ein so einsamer Mensch muß doch sehr unglücklich sein«, sagte sie leise. »Man gewöhnt sich dran!« erwiderte er kurz, »und dann ist einem wohl dabei. Und außerdem ... kein Mensch ist unglücklich, der die Natur noch hat. Die Berge da ... die bleiben mir immer treu. Die lügen und trügen nicht. Die schmeicheln nicht. Die haben meine volle Hochachtung! ...«

»Das begreif' ich wohl« – sie stockte – »und daß ein Mann von den Frauen nichts mehr wissen will, das kommt ja auch vor. Aber dann hat er doch andre Männer ... ich meine, wenigstens einen guten Freund, der ...« Sie erschrak und brach ab. So unheimlich war das grimmige Leuchten, das blitzschnell über sein Gesicht fuhr und wie in wütendem Haß aus seinen Augen sprühte. Er sah furchtbar aus in diesem Moment. Aber schon nahmen seine Züge den gewohnten ruhigen Ausdruck wieder an.

»Freundschaft?« sagte er, »glaubt man bei Ihnen wirklich noch an das Fabeltier!? ... Das ist ja ein Kindermärchen! Aber freilich ... es gab 'ne Zeit ... da war ich auch nicht klüger. Da hatt' ich auch einen Freund ... einen Herzensfreund ... 's ist jetzt fünf Jahre her ... Und ... seitdem sag' ich mir: Verflucht, wer auf Menschen baut! ...«

Elisabeth senkte das Haupt. Jetzt konnte sie sich wohl denken, was dem Manne da vor ihr die Lebensfreude geraubt hatte.

Der war inzwischen aufgestanden und ans Fenster getreten. »So geht's«, meinte er nach einer Pause, halb lachend, halb ärgerlich, »wenn ein schweigsamer Mensch wie ich, der seit Wochen kaum ein Wort gesprochen, ins Schwatzen kommt. Da erzählt man Dinge, die Sie gar nicht interessieren können und die auch gar nicht für Ihre Schönheit und Jugend passen.«

»Ich hab' Ihnen gern zugehört«, sagte Elisabeth; »hier in den Bergen kommt ein Mensch dem andern nahe. Denken Sie nur, wenn wir uns unten im ›Bär‹ an der Table d'hote getroffen hätten! Was hätten wir da für unnützes Zeug über das Wetter und das Essen und Gott weiß was gesprochen ...«

»Es wäre doch besser gewesen!« Er trat auf sie zu und sah, ihre Hand fassend, aus seinen grauen Augen auf sie herab ... »Vergessen Sie das alles, was ich gesagt hab' ... 's ist Unsinn! Und Ihnen wünsch' ich eines von Herzen: einen rechten ordentlichen Mann, dem Sie kein Spielzeug, sondern ein treuer Freund sind ... Dann werden Sie eines Tages über mich armen Menschenfeind lachen und recht daran tun ...«

Sie zögerte einen Augenblick. Dann öffnete sie mit raschem Entschluß die Lippen, wie um ihm etwas zu gestehen. Da trat der alte Christen wieder ein.

»Besser wär's schon«, knurrte er, »wenn man ginge. Das Wetter würde doch nur noch schlechter. Und wenn's zum Schneesturm käme, könnte man mit ›ihr‹ überhaupt nicht mehr die Felsen entlang.«

Er schaute auf Elisabeth, und der andre nickte nachdenklich. »Wir müssen halt zusehen, wie wir sie bei dem Neuschnee über die Bänder bringen«, sagte er kurz.

»Die hat schon Courage«, erwiderte der Alte und fing an, die Blechteller zu reinigen, den Boden zu fegen und die Hütte wieder in Ordnung zu bringen. Endlich war das alles geschehen, die Asche ausgeleert, das Feuer bis auf den letzten Funken sorgsam verlöscht, das Stroh aufgeschüttelt und die Namen in das Fremdenbuch eingetragen.

»Haben Sie sich's Gesicht tüchtig mit Vaseline eingerieben?« fragte der Gletschermann. »Ja ... alsdann ... los!«

Sie stiegen den Schutthang hinab bis zum Gletscher. Dort wurde das Seil hervorgeholt.

»Kommen wir denn an gefährliche Stellen?« fragte Elisabeth, während sie die Arme hoch hob, um sich das Seil umlegen zu lassen. Aber ihr Begleiter sagte nur: »In vier Stunden sind S' unten!« und verknüpfte sorgsam den Knoten.

Über den Gletscher, den sie schon von gestern kannte, ging es mühelos dahin. Dann nach rechts in ein Gewirr von Steinblöcken und Felstrümmern, die sich zwischen dem Eisstrom und der Bergwand hinzogen. Enger und enger wurde dieser Geröllstrich. Endlich hörte er ganz auf. Vor ihnen senkte sich der Bergsturz direkt zum Gletscher herab. Nur eine schmale, mit blendendem Neuschnee bekleidete Kante zog sich als ein kaum fußbreiter Sims längs des verwitterten Gesteins dahin, ab und zu in dessen senkrechten Rissen verschwindend und auf der andern Seite der Kaminwand wieder auftauchend.

»Da sollen wir herüber?« fragte sie kühl. Aber ihr Herz pochte doch ein wenig.

Er drehte sich zu ihr um. »Sie sind gestern über ganz andre Stellen gegangen! Wenn nicht Neuschnee wär, dann hätten wir hier die reine Chaussee. Die Felsbänder kommen bloß den Anfängern so grauslich vor ... das ist eine alte Geschichte.«

Vorsichtig tappten und schoben sie sich dahin, bei jedem Schritt mit dem Fuß in dem glitschrigen, tückischen Neuschnee den festen Steinboden suchend und mit den Händen an den Griffen der überhängenden Felswand entlang tastend. Anfangs hatte sie starr vor sich auf die Fußstapfen gesehen. Jetzt wurde sie kühner und wagte einen Blick nach rechts in den Abgrund hinab.

Aber sie mußte sofort stehenbleiben und den Kopf nach dem Gestein wenden, um das ihre Finger sich krampfhaft krallten. Nicht, daß sie schwindlig geworden wäre! Aber diese scheußlichen Gletscherspalten da unten in der Tiefe, die wie hungrige Bestien mit aufgerissenem Rachen auf sie warteten ...

Er drehte sich um. »Wollen S' wohl gradaus schauen!« schrie er zornig, »das fehlte noch, mit dem Gletscher da unten kokettieren! ... Ich hab' keine Lust, mir wegen Ihnen 's Genick zu brechen! Und der Christen auch nicht!«

Seine Grobheit gab ihr neuen Mut. Sie stand jetzt an einer Stelle, wo das Band in spitzem Winkel in einen Felskamin einsprang und auf der andern Seite wieder herausführte. Hier mußte man einen Schritt über den Abgrund tun, der fünfhundert Fuß tief unter ihr gähnte.

Er war schon drüben. »Vorwärts!« schrie er, »ein ordentlicher Sprung! ...« Sie holte tief Atem und sprang hinüber. Fast ehe sie dort mit den Füßen den Boden berührte, hatte er sie schon mit einem gewaltigen Ruck nach sich gezogen, daß sie, hart an ihn gepreßt, fest dastand.

Der alte Christen stieg, zerstreut um sich blickend, mit einem langen schlenkernden Storchschritt über die Kluft, wie man eine Straßenrinne überschreitet, und weiter ging's, die steilen Hänge entlang bis zu der letzten Wand.

An dieser waren Eisenstifte zum Herunterklettern angebracht. Aber die glasharte, spiegelglatte Eisschicht, die heute das Metall überzog, machte die Sache mühsam.

»Nur fest zugepackt!« hörte sie unter sich seine Stimme, während sie, an den Felsplatten hängend und rutschend, mit Händen und Füßen tastend und mühsam unter dem straff gespannten einschnürenden Seile Atem holend, die Höhe hinabstrebte, »in das Eisen greifen, als ob man's zerquetschen wollt' ... so ist's recht ...«

Sie kam ein wenig ins Rutschen und stieß mit der Stiefelspitze in seinen Nacken. »Verzeihen Sie!« rief sie lachend. Er antwortete nicht, sondern schwang sich über einen Felsrand, der etwa zehn Fuß glatt abfiel, auf das Geröll des Gletschers.

»So!« sagte er von unten und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »das war die letzte Station. Von der kommen Sie nicht herunter, ehe Sie mir nicht Pardon gewährt haben!«

»Wofür denn?« Sie saß auf dem Rande des Felsens und schaukelte ungeduldig mit den Füßen.

»Dafür, daß ich Sie vorhin angeschnauzt hab'! ... aber im Gebirg ist das das beste Mittel, wenn einer zaghaft wird.«

Sie lachte hell auf, warf einen flüchtigen Blick nach hinten, ob Christens Seil lang genug sei, und sprang so rasch herunter, daß er gerade noch Zeit hatte, die Arme zu öffnen und sie aufzufangen.

Eine Sekunde hing sie an seiner Brust, seine Hände hielten ihren schlanken Leib umfaßt, und ihre Augen trafen sich, dicht vor seinem Antlitz leuchtend, mit den seinen in einem jähen, erschrockenen Blick.

Dann ließ er sie sanft auf den Boden gleiten. »So ... jetzt ist's überstanden ...« sagte er rauh und wandte den Blick von ihr hinweg, wie sie von ihm, »jetzt noch 'ne Stunde über den Gletscher! Dann kommen wir zum Chalet, und die arme Seele hat Ruh'.«

Es war eine schweigsame Wanderung. Kaum ein Wort wurde zwischen den beiden gewechselt, während sie in Nebel und Regen über das Eis dahinschritten, und mehr als einmal mußte der alte Zum Brunnen von hinten einen warnenden Zuruf ertönen lassen. So sehr schienen die beiden in die Gedanken versunken, die seltsam und jählings ihre Seele erfüllten.

Auf hohen Leitern stiegen sie vom Gletscher zu dem kleinen Bergwirtshaus empor.

Eine Menge Alpenstöcke lehnte in der Veranda, Stimmengewirr und Gläserklirren tönte von innen, und in der Küche sah man vor dem flackernden Herdfeuer eine Anzahl Führer, meist ältere, zu großen Expeditionen nicht mehr brauchbare Männer, sitzen. Der Lichtschein spielte über den verwetterten Gesichtern und den braun gekleideten Gestalten.

Das Chalet war überfüllt. Gletscherbummler aller Nationen, bergstockbewehrte Touristen, Damen und Kinder, allerhand Leute, die hier einmal der Eisregion einen ungefährlichen Besuch hatten abstatten wollen, drängten sich durcheinander und klagten über das schlechte Wetter.

Der Rückzug nach Grindelwald war abgeschnitten!

Es stürzten Wassergüsse auf den Saumpfad, berichtete die Wirtin, während sie den Hochgebirgswanderern Wein und Brot vorsetzte – man könne nicht durch, bis der Regen ein paar Stunden aufgehört habe.

Das waren schöne Aussichten. Mißmutig sahen die beiden in das Getümmel dieser mit Rundreisebillett und Bädeker behafteten, alpensimpelnden Menschheit um sie her. An einem Tisch ein Schwarm bebrillter, magerer Studenten, andächtig um einen jungen Engländer geschart, der, die Stummelpfeife im Mund, die Hände in den Hosentaschen, ihnen Aufschlüsse über die Besteigung der »Jungfrau« vom Trümmletental aus gibt und sich für die in gebrochenem Deutsch hingeworfenen Weisheitsbrocken durch atemlose Aufmerksamkeit belohnt sieht.

Daneben eine pikante Brünette. Eine Italienerin mit ihrem Mann. Sie hat sich als »Socia d. club Alpino Italiano« im Fremdenbuch eingeschrieben und blickt verwegen drein. Aber unten in der Küche erzählen sich lachend die Führer, daß die zierliche Dame schon auf dem Saumpfad über Grindelwald schwindlig wurde.

Ein paar Genfer sitzen neben der Socia und machen ihr in elegantem Französisch den Hof. Um den Mann, einen finstern, bräunlichen Herrn mit pechschwarz flackernden Augen, kümmern sie sich nicht besonders.

Wird an diesem Tisch geflüstert, so brüllt und wettert es an dem nächsten. Vollbärtige, dickbäuchige Männer aus Süddeutschland sind es, in Jägerschen Normalhemden und mit grasgrünen Rucksäcken bewehrt. Ihr Orakel ist der in ihrer Mitte thronende dicke alte Herr, der vor zwanzig Jahren einmal auf dem Ortler war! Ihm kann das schon nicht imponieren, dies Getue mit den Berner Alpen, auf die schließlich jeder Schneidergeselle heutzutage steigt ... und überhaupt ... die Schweiz ... diese Hotels ... diese Engländer ... diese Preise ...

Der magere Tourist aus Frankfurt sekundiert ihm. Diese zerfallenen Strohställe, die man in der Schweiz Klubhütten zu nennen beliebt! Er möchte die verehrlichen Obmänner der Sektionen nur mal an der Nase nehmen und nach Tirol führen ... Payerhütte etwa ... oder meinetwegen in das bayrische Knorrhaus. Dort könnten sie ihr blaues Wunder sehen ... an reinlichen Betten und gutem Konservengulasch und Pschorrbräu vom Faß ...

Er bricht erbost ab, und niemand begreift, warum der magere Tourist aus Frankfurt nicht in der Payerhütte oder dem Knorrhaus bleibt, statt alljährlich in die Schweiz zu reisen.

Ein Spaßmacher ist auch da ... ein junger, gelenkiger Mensch, in weißem Flanell und himmelblauer Leibbinde. Er reißt Witze über das Wetter, er rennt hinter der Saaltochter her, und neben seinem Stuhl lehnt eine lange, nägelbeschlagene Holzlatte, die er scherzeshalber als Bergstock benutzt.

Einige sich ziellos im Zimmer herumlümmelnde junge Yankees zwischen zwölf und fünfzehn, eine bildhübsche und zwei gespenstig häßliche Engländerinnen in grünem Schleier und Wettermantel, ein deutsches Ehepaar auf der Hochzeitsreise, das, Hand in Hand dasitzend, gleichmäßig in sanftmütigem Takte gähnt, ein schnarchender robuster Urschweizer, auf seinem Stuhle hin und her schwankend wie ein Schiff im Sturm ... und dazu draußen das Rieseln des Regens, der Dunst der nassen Kleider, der Fettqualm aus der Küche ...

»Lange halt ich's hier nicht aus!« sagte Elisabeth und schloß die Augen. Undeutlich klang der Wirrwarr der Gespräche an ihr Ohr.

»Good weather ... good guides ...« Der junge Gentleman am Fenster blies ein Rauchring aus seiner Stummelpfeife ... »and the Gross-Schreckhorn is not eagerly difficult!«

»Sie waren wohl schon häufig oben?« erkundigt sich schüchtern ein Student.

»Den direkten Aufstieg zur Großglocknerscharte?« – im Kreis der dicken Männer entsteht ein wütender Wortstreit – »ja ... lesen S' denn die ›Mitteilungen‹ überhaupt nicht? ... Wenn ich's Ihnen doch sag' ... der Pallavicini hat's gemacht ... schon lang vor seinem Unglück!«

»Quelle odeur!« seufzt die schöne Socia und weht mit der flachen Hand die vom Nebentisch herüberflutenden Tabakwolken auseinander.

»Was ist ihm denn passiert ... diesem Herrn Pallavicini?« Der hagere Oberlehrer rückt sich die Brille zurecht.

»Abgestürzt ist er ... der Markgraf!« belehrt ihn finster der Mann vom Ortler, »schon lange ...« Und aus seinem Tone klingt es heraus: »Unbegreiflich, wie jemand das nicht wissen kann!«

Der Jüngling mit der Holzlatte räuspert sich: »Diese Art von Bergkraxelei ist doch einfach jemeinjefährlich ... hat jar keinen sittlichen Wert ... Überhaupt ... Wirtshäuser von innen, Berge von unten ... Kirchen ...«

»Ich uollte morgen weitergehen«, sagt die hübsche Engländerin und mustert wohlgefällig ihren schlanken schnurrbärtigen Führer, den sie aus der Küche hat rufen lassen, »aber das Weg ist so schmal ... und ich bin so ... so schlecht im Kopfe!« Der Führer lacht.

»Ihr Kopf schaut ganz gut aus!« meint er. Sie trennen sich mit derbem Handschlag und werden morgenen, wenn das Wetter es erlaubt, weiter zur Strahlegg pilgern.

Der alte Christen schob sich ins Zimmer, suchte seine Dame und blieb dann schweigend vor ihr stehen.

Das hieß: sollen wir uns hier häuslich einrichten, oder versuchen wir, trotz alledem nach Grindelwald zu kommen?

Sie stand auf und langte nach dem triefend feuchten Wetterhütchen und den durchweichten Handschuhen. »Hier ist's greulich«, sagte sie entschlossen, »ich gehe!«

Der Bergführer warf einen zweifelnden Blick auf den Herrn. Der erhob sich schwerfällig. »Patschnaß werden Sie!« sprach er schmunzelnd, »wie eine gebadete Katz' kommen S' nach Grindelwald und müssen ...«

Sie unterbrach ihn empört. »Fangen Sie auch schon an? ... Als ob ich von Zucker wäre! ... Lächerlich!«

Dabei hatte sie schon die Türklinke in der Hand und erst sein Zuruf: »Sie wollen wohl mit der Zeche durchgehen!« veranlaßte sie, wenigstens so lange zu warten, bis die Rechnung berichtigt war. »Da ist mein Anteil!« sagte sie und drückte ihm das Geld in die Hand, das er zu ihrer Beruhigung, ohne ein Wort zu verlieren, einsteckte. Die Tür fiel hinter den dreien ins Schloß und trennte sie von den Philistern.

»Gott sei Dank, daß wir da heraus sind!« rief sie und schaute, die Arme ausbreitend, in das stürmische Regen- und Schneetreiben, das sie umgab, »hier ist's viel schöner!«

Am Chalet begann der Saumpfad, der nach Grindelwald hinabführte. Sie blieb noch einmal stehen und schaute sehnsüchtig in die Nebelwelt hinauf, aus der sie kamen. Ihre Augen glänzten.

»Freundlich waren die Berge ja nicht zu mir!« sagte sie ernst, »sie haben mich recht unwirsch empfangen, ganz wie einen wilden Eindringling. Aber es ist gut so. Die beiden Tage da oben ... die stehen ganz für sich in meinem Leben. Die vergess' ich nicht. Und ich komm wieder. Ich werbe um die Gunst der Berge, bis sie mir gnädig sind. Einmal muß ja auch dort wieder die Sonne scheinen!«

Er sah sie an mit einem langen seltsamen Blick. Und lange noch, als sie stumm den geröllüberschütteten Pfad hinabstiegen, klang es in seiner Seele nach: Einmal muß ja doch wieder die Sonne scheinen ...

Christen Zum Brunnen blieb plötzlich stehen und stieß ein herzliches Gelächter aus. Das war bei ihm so neu und überraschend, daß die Touristen sich ganz erschrocken nach ihm umwandten.

Er zeigte stillvergnügt den Weg entlang, und jetzt merkten sie, warum niemand aus dem Chalet hatte den Rückweg antreten wollen.

Durch den Regenguß hatten sich Bäche gebildet, die, den Berg hinabströmend, als rauschender Wasserfall auf dem Pfad aufschlugen und dann auf der andern Seite in schäumendem Gischt weiter zu Tale rannen. Wer den Weg fortsetzen wollte, mußte unter der riesigen Regendusche hindurch! Sonst blieb nur die Wahl, umzukehren und sich im Chalet auslachen zu lassen.

»Vorwärts!« rief Elisabeth kampfesfreudig. Ihr Begleiter lachte, und auch der Alte meckerte fröhlich auf.

Es machte ihm offenbar Spaß, daß sie alle nun patschnaß würden. Mit einem raschen Ruck fuhr er in den Wassersturz hinein, drehte sich einmal darin um und zog das Seil, das er in der Hand nach sich geschleift hatte, straff. »Fest am Seil halten!« schrie er der Dame zu.

Die packte das Seil, schloß die Augen und stürzte sich in das Abenteuer. Brrr! Sie schrie laut auf, als plötzlich, mit einem dröhnenden Schlag auf den Kopf die Wassermassen auf sie niederkrachten und das eisige Naß im Augenblick den ganzen Leib entlang rann.

Aber da war sie schon draußen und schüttelte sich. Ein Gefühl tollen Übermutes kam über sie. »Juhuu!« schrie sie, die Hand an den Mund legend, in den Nebel hinein, und aus der Ferne kam das lachende Echo.

Sie fühlte sich am Arm berührt. Ihr Begleiter stand triefend neben ihr. »Rasch laufen!« rief er ihr durch das Brausen des Falles ins Ohr, »damit Sie sich nicht erkälten!«

Im Laufschritt ging's jetzt den steinigen Pfad bergab.

Merkwürdig, sie fühlte gar keinen Frost, und als man an ein zweites kleineres Rinnsal kam, tollte sie lachend mit gesenktem Kopf in die Flut hinein und mit einem mächtigen Sprung wieder hinaus, als ob es sich um eine angenehme Erfrischung handelte. Schien doch derselbe zarte Körper, dem im Ballsaal ein offenstehendes Fenster schwere Krankheit bringen konnte, hier in Anspannung und kräftiger Bewegung wie gefeit gegen alle Schäden.

Und nun lagen endlich Grindelwalds weit über die Matte hin zerstreuten Häuschen und die um den Bahnhof gruppierte Hotelkolonie vor ihr.

In der regenglänzenden Dorfgasse standen überall Gäste, Bergführer und Dienerschaft von den Hotels und warteten auf die zurückkehrenden Expeditionen, denen bei dem üblen Wetter so leicht ein Unfall in den Bergen zustoßen konnte.

Am Portal des »Bär« verhandelte ein schmächtiger, peinlich elegant gekleideter Herr mit einigen Führern und dem Hotelier. Er mochte zu Anfang der Dreißig sein. Sein fein geschnittenes gutmütiges Gesicht mit dem kleinen blonden Schnurrbart trug den Ausdruck von Angst und Erregung.

»Natürlich!« sagte Elisabeth stehenbleibend, und ein Schatten des Unmuts zog über ihr schönes Gesicht, »... und in tausend Ängsten, wie ich mir's dachte!«

»Kennen Sie den Herrn?« fragte ihr Begleiter.

Sie sah zur Seite. »Es war ja eigentlich nicht recht«, sagte sie mit gepreßter Stimme, »aber es machte mir anfangs so Spaß, wie Sie mich gleich mit ›Fräulein‹ anredeten und mich als junges Mädchen behandelten. Den Ring hatt' ich ja auch in die Tasche gesteckt, weil er mir beim Klettern so hinderlich war ... und dann später fand ich gar nicht mehr den Mut, Ihnen meine Unvernunft zu gestehen ...«

Der Herr trat einige Schritte vor.

»Da hört doch alles auf, Elisabeth!« rief er, und man merkte an seiner Stimme, wie viel Mühe er sich gab, sich vor den Fremden zu beherrschen. »Ich fahre, nichts Böses ahnend, auf einen Tag nach Interlaken, und das benutzest du, um ...«

»Es ist mein Mann!« Elisabeth sprach das rasch und halblaut vor sich hin, ohne ihren Begleiter anzusehen. Dann reichte sie dem alten Christen und ihm hastig die Hand. »Schönsten Dank! ich muß mich jetzt eilen! ... Wir sehen uns ja heute abend bei der Table d'hote!«

Sie ging mit raschen Schritten davon. Der andre sah ihr einen Augenblick nach, dann trat er durch eine Seitentür in die Küchenräume des Hotels.

»Richten Sie mir Proviant für drei oder vier Tage!« ordnete er an, »ich gehe in ein paar Stunden wieder hinaus!«

Zum Brunnen, der ihm gefolgt war, nahm vor Erstaunen die Pfeife aus dem Mund.

»Bei dem Wetter geht der Herr aus?«

»Ja.«

»Wohin denn?«

»Ich denk ins Lauteraargebiet!«

»Und wenn das schlechte Wetter anhält?«

»Dann, mein guter Christen« – der Herr klopfte ihm auf die Schulter – »wird es im Tal regnen und oben auf dem Firn schneien. Und ich werde in der Klubhütte sitzen und mir eins pfeifen!«

Der alte Christen zweifelte.

»'s könnt ja sein, daß sich's bis übermorgen aufhellt«, meinte er endlich gedankenvoll.

»Um so besser!« Der andre wandte sich zum Kellner: »Also rasch die Provisionen und die Rechnung. Ich pack' unterdessen und zieh mich um ...«

»Geht der Herr denn ganz fort?«

»Ich denke!« sagte der, »fürs erste wenigstens komme ich nicht nach Grindelwald zurück.«


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