Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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V

Wolkenlos blaute heute der Himmel über dem Gletscherkessel fern im Hochgebirge.

Drei Eisströme senkten sich da hinab in den Grund und mischten sich zu einem wild aufgewühlten Meer erstarrter Wogen, aus denen ein neuer mächtiger Gletscher in stundenlangen Windungen langsam hinab in die Täler der Menschen stieg.

Wenn er dort unten ankam, war er ein rußiger häßlicher Geselle geworden. Halb begraben von dem Schuttabfall der Gebirge, den er auf seinem breiten Rücken geduldig dahintrug, überpudert vom Staub des Tales, der sich über seinem Eise als gefrorene Kotschicht niederschlug, wälzte er schwerfällig ein endloses, wüstes Felsgewirr vor sich her und häufte es an seinen beiden Seiten zu widerlichen Trümmerhügeln auf. Die zahmen Touristen, die ihn da unten bewunderten, in seine künstlich gehauenen Eisgrotten schlüpften und auf seinem Rande umherstiegen, die ahnten nicht, wie diese mächtige Eismasse ausgeschaut, ehe ihr die Berge all ihren Unrat auf den Weg mitgegeben hatten.

Oben im Gletscherkessel konnte man das erkennen. Unberührt, in glänzendem Weiß schlängelte sich da der eine dieser Eisströme durch ein schmales Tal herab, einer riesenhaften Schlange ähnlich und gleich einem Schlangenleib mit seltsamen rötlichen Längsstreifen, dem Staub zerpulverten Gesteins gezeichnet. Der zweite machte einen friedlichen und behaglichen Eindruck, über und über in weichen Schnee gehüllt, kroch er harmlos dahin und war eben dieses Schnees wegen der gefährlichste von allen, weit gefährlicher noch als sein trutziger Nachbar, der sich in mächtigen Abstürzen, in einem Chaos zerschellender Eismassen und klaffender Schlünde jählings herabsenkte. Wo sich die Gletscher trafen, erhob sich ein Felsblock mitten aus der im Umkreis einer Stunde sich rings ausdehnenden Schnee- und Firnwelt. Die Sonne brannte auf ihm. Es war, als wolle sie den einzigen Ruheplatz in dieser Eiswüste recht behaglich für den Wanderer wärmen.

Der einsame Gletschermann, der langgestreckt auf dem Stein lagerte, hatte die Schneebrille über die Hutkrempe zurückgeschoben. Mit offenem Auge sah er in die Pracht, die ihn rings umgab.

Wie Gebilde einer andern Welt türmten sich, im Sonnenglanz gleißend, die zackigen Spukgestalten des ewigen Eises auf. Spiegelglatte, senkrecht aufstrebende Wände, da und dort eingestürzt und zu einem Trümmerwerk zusammengeschoben, das an die Ruinen eines alten Bergschlosses mit zerfallenen Türmen und geborstenen Mauern mahnte, nadelscharf aufschießende Obelisken, die einen noch aufrecht stehend, die andern schon an ihrer Basis von der Sonne zerfressen und, schräge geneigt, jeden Augenblick des Sturzes gewärtig, ein hochgewölbter bläulicher Triumphbogen, unter dessen triefender Rundung bequem wohl zwanzig Menschen Platz hatten, ein riesenhafter kreisrunder Schlund, gähnend wie der Krater des Vesuvs, hoch oben am Rand des Gletscherabsturzes sich scharf vom blauen Himmel abhebend eine Reihe lichtweißer schlanker Eiskegel von doppelter und dreifacher Manneshöhe, zur Seite hängend, nach rückwärts gebäumt, nach vorn wie übermütige Gespenster sich über den Abgrund beugend, in den ab und zu einer von ihnen hinabstürzte und klirrend zerschellte, und zwischen ihnen, um sie herum tausend andre Fabeldinge, wie sie der bizarre Kampf zwischen Sonne und Eis erzeugt.

Heute war die Sonne Siegerin. Mit ihrem glühendsten Farbenspiel übergoß sie die in ihre Lichtfluten gebadete Hochwelt. Ein wundersames Leuchten ging von dem starren, kalten Eise aus. Die kleinen halbrunden Tümpel in den Nischen der Schneemauern strahlten in einem märchenhaften durchscheinenden Seegrün, in blendendem Weiß glitzerte der Firn bis herab zu dem großen, in ihm gebetteten Teich, in dem sich verdoppelt das tiefe Blau des Himmels widerspiegelte, und überall dazwischen lockten und gleißten in flammendem Blaugrün die Gletscherspalten. Hart am Rande ging ihre Färbung in ein beinahe durchsichtiges Violett über, ihre Tiefe aber erfüllte ein geheimnisvolles Mondscheindämmern, wie der bläuliche Widerschein einer verborgenen Wunderwelt, die da unten des Wanderers harrte.

Geheimnisvolles Rauschen und Brausen tönte aus diesen Schlünden, das Strömen unterirdischer Fluten, die noch nie eines Menschen Auge sah. Überall plätscherte und gluckste das einzig Lebende in dieser Wüste, das trübe Wasser, dahin. Es rann als eilfertiges Bächlein in schmalen Eisrinnen über den Firn, es tropfte und rieselte, wohin das Auge sah, es schoß unten als mannsdicker Strahl aus finsterem Eistor ins Freie und stürzte von den Wänden als ein dunststäubender Fall herab, in dem die Sonne alle Regenbogenfarben schimmernd durcheinandertanzen ließ.

Kein andrer Laut war vernehmbar. Nichts als dies endlose einförmige Sprudeln, dies unterirdische Dröhnen, dies Gurgeln der rastlos gleitenden Wasser durchdrang das feierliche Schweigen des ewigen Eises ... Hunderte von Malen schon hatte er dies Bild geschaut, und stets erfaßte es ihn mit neuer Macht.

Und heute anders noch als sonst!

Nur einmal war er, als er vor zwei Wenden im Regentreiben das Dorf hinter sich verschwinden sah, einen Augenblick stehengeblieben. Da, wo der Weg ins Hochgebirge aufstieg, zeichnete sich undeutlich ein einsames Denkmal im Nebel ab, ein Erinnerungszeichen an den Doktor Haller, der vor Jahren spurlos mit zwei Führern im Lauteraargebiet verschwunden war.

»Quem vatem fecit natura, templo recepit!« lautete die vielsagende Inschrift, und unwillkürlich formten seine Lippen die Übersetzung.

Jawohl. »Den die Natur zu ihrem Priester schuf, nahm sie in ihrem Tempel wieder auf!« ... tot, wie jenen dort, oder lebend, wie ihn. Die Natur bot ihm den Trost. Sie bot ihm die Ruhe und den Frieden der Einsamkeit.

Und doch regte sich in ihm heute immer wieder ein Gedanke, der ihm bisher stets fern geblieben: »Wie schade, daß du diese ganze Herrlichkeit allein genießest«, ging es ihm durch den Kopf. »... Wie viele leben, die gleich dir sich andächtig vor diesem Wunder beugen könnten.«

Und vielleicht wirkte diese hehre Offenbarung der Natur noch doppelt erhebend und gewaltig, wenn zwei Menschen gemeinsam sich in sie versenkten, wenn der eine das aussprach, was dem andern in unbestimmtem Ahnen durch die Seele ging, und ein stummer Blick das ergänzte, was trotz alledem unausgesprochen blieb.

Es war doch wirklich schade, daß sie die Berge nur im Nebel und Regen geschaut! Er sah sie im Geiste jetzt neben sich kauern, aus großen, strahlend blauen Augen in die Gletscherpracht starrend, mit halbgeöffneten Lippen und verschlungenen Händen, und in seinem Ohr klang ihre helle klare Stimme.

Er lachte zornig auf und schloß die Lider, um nicht vom Glanze geblendet zu werden.

Menschen! ... Das fehlte noch ... Menschen hier ... in der Bergeinsamkeit ... die konnte er doch unten im Tale haben, massenhaft, wenn er wollte.

Aber er wollte ja nicht! Er war geschieden von ihnen seit jenem Tage, vor nun fünf Jahren, der ihm sein Liebstes auf Erden, die Frau und den Jugendfreund, mit einem Schlage raubte.

Noch jetzt, wenn er daran dachte, empfand er ein dumpfes Erstaunen. Er konnte es nicht fassen, daß solcher Verrat auf Erden möglich sei. Und doch ... er wußte es am besten ... es war wahr.

Er hatte sie gehen lassen. Es schien ihm lächerlich, da noch zu morden, wo einem selbst schon alles zu Tode erstarrt ist. Und erstarrt sollte es bleiben ... jetzt ... und für immer gegen die Menschen ... und nur zum Leben erwachen, wo die Natur ruhig und gütig zu ihm sprach.

Ein heftiges Prickeln wie von Sandkörnern in seinen Augen weckte ihn aus seinem Sinnen. Er wußte, was das bedeutete. Er hatte zu lange mit bloßem Auge in das blendende Blinken des Gletschers geschaut. Ein leiser Anfall von Schneeblindheit meldete sich an.

Und eine Stimmung erfaßte ihn, die ihm schon einigemal in unbestimmten Zweifeln genaht war: War die Natur denn wirklich so gütig gegen ihn und seine Treue? Lohnte sie ihm seinen Menschenhaß mit dem Besten, was sie zu spenden vermochte? War sie es wert, daß er ihr bis zum Tode diente?

Oft schon hatte eine innere Stimme sich dagegen erhoben und ihm zugeflüstert: Du empfängst nichts von der Natur, als was du ihr gabst! All die unverstandene Treue, die hart verschlossene Liebe, die du den Menschen vorenthältst, legst du in diese leblose Welt und nimmst sie wieder aus ihr heraus. Sie selbst hat keinen Teil daran. Sie ist grausamer, sie ist unerbittlicher und gleichgültiger gegen dein Wohl und Wehe als alle Menschen.

Er sann nach. Jawohl, diese Natur war grausam.

Und sah man nahe zu, so lag eine teuflische Tücke in der Art, wie sie den Menschen empfing.

Sie schlägt mit Blindheit den, der sich arglos an ihrer Farbenpracht weidet; sie tränkt den Dürstenden mit der giftigen Milch des tauenden Gletschers; sie zieht die überhängende Schneewächte unter dem Fröhlichen hinweg, der hoch vom Bergkamm herab ins grüne Tal jauchzt, und läßt ihn gleichgültig unten zerschellen; sie überkleidet die Eisspalten mit trügerischem Schnee, durch den der Unvorsichtige hindurchbricht, um unten im eisigen Kerker, einen schmalen Streifen blauen Himmel hoch über sich, hilflos zu verschmachten; sie schleudert die Steine des Gebirges auf den Emporstrebenden, und weiß er ihnen zu entgehen, so macht sie im Schneewirbel seinen Leib erstarren, bis seine Finger sich nicht mehr festzukrallen vermögen, und der Sturmwind den Wehrlosen packt und johlend über die Klippen schleudert; sie überschüttet die erschöpften Wanderer auf endlosem Firn mit dem Gewimmel spielender Flocken, bis sie tiefer und tiefer im weichen Schnee versinken und die weiße Decke sich über den Röchelnden schließt.

Nein, das war ein grimmer, fürchterlicher Feind. Es war ein Genuß, ihn zu bekämpfen, ihn zu bezwingen und seinem Zorn in rastlos sich erneuerndem Kampfe zu trotzen. Man konnte seine Größe bewundern, aber lieben konnte man ihn nicht. Er sprang auf, raffte seine Sachen zusammen und schob die Schneebrille über die Augen. Es wurde Dämmerung um ihn her. Unter dem rauchigen Glase und dem Drahtgeflecht, das es seitlich umspann, verblaßte das leuchtend weiße, blaue, grüne Farbenspiel zu einem düsteren Grau, wie wenn die Sonne plötzlich vom Himmel verschwunden wäre. Die ganze Umgebung gewann ein unheimlich dräuendes Aussehen.

Er sah sich um. Zum erstenmal seit langem fühlte er sich fremd in dieser verblaßten gespensterfarbigen Welt, fühlte er sich einsam in der Einsamkeit. Zum erstenmal seit langem empfand er den Wunsch, ein menschliches Wesen neben sich zu haben, eine menschliche Stimme zu hören und zu wissen, daß außer ihm noch etwas in der Eisöde lebte.

Langsam ... vorsichtig begann er den Marsch durch die Welt von Gefahren, die den einzelnen, nicht angeseilten Gletscherwanderer bedrohen.

Er war geübt. Schon aus der Ferne unterschied sein Blick die Stellen, wo die Hochwelt ihre Menschenfalle, die schneeüberkleideten Gletscherspalten, gerüstet hatte. Unmerkliche geschlängelte Linien, auf denen der Schnee in besonders harmlosem Weiß schimmerte, wiesen die Stätte der Gefahr. Stieß man da, vorsichtig sich am Rande haltend, die Eisaxt ein paarmal in den Boden, so stürzte der plötzlich ein, die Schneebrocken kollerten in die Tiefe, und ein scheußliches, unergründliches Loch gähnte zum Tageslicht.

Auch beim Stufenhauen mußte er jedes Zucken des Körpers beherrschen. Auch da klafften hart neben den Eishängen, an denen hin er seinem Fuße Bahn schuf, die Schründe und wassergefüllten Eislöcher. Wehe, wenn er ausglitt!

Aus diesen grünlich spiegelnden Kesseln mit den hohen glatten Rändern gab es keine Rettung. Im Augenblick erstarrte man in der eisigen Flut und sank hinab, tiefer und immer tiefer und erreichte selbst als Leiche nicht den Boden des Schlunds.

Und Vorsicht, wo man an den Abhängen des Gletschers, unter kühn ragenden Eisklippen und massigen Schneemauern dahinsteigt! Die Erschütterung des nägelbewehrten Schuhs genügt, die Kolosse ins Wanken zu bringen. Ein Krachen und Poltern stürzender Massen, und für immer verschwindet der schwache Menschenleib unter den Trümmern, die in der nächsten Nacht zu neuen, abenteuerlichen Fratzen zusammenfrieren.

Selbst im Geröll der Moräne lauert noch das Verderben. Im achtlosen Schreiten gleitet der Fuß aus, der Knöchel bricht, und ein Unfall, der sonst sich auf dem Krankenlager ohne Gefahren gibt, kann hier, in den ödesten Stellen des Gebirges, dem Hilflosen, sich mühsam ein paar hundert Schritte Fortschleppenden den Hungertod bringen.

Vorsicht! ... Vorsicht! ... Sie war ihm, wie jedem gereiften Gletschermann, zur zweiten Natur geworden. Langsam und zäh wand er sich durch die zerrissene Wildnis, hier in einem Sérac, einem Eisschrund, auf kurze Zeit verschwindend, dort auf dem schmalen Kamme einer Schneemauer schreitend, auf Stufen auf und nieder kletternd, über glatte Flächen rutschend und mit jähem Schritt, nach genauer Prüfung, die Risse überspringend, bis er endlich wieder auf festem Felsen stand und die verblaßte Brille in die Tasche schob.

Dann schritt er, nach einem Blick auf die Karte, rüstig aus. Er hatte heute noch einen starken Marsch vor sich und ebenso die folgenden Tage, auf der wilden, einsamen, nur über vergletscherte Hochpässe führenden Route – einen rechten high level-road im Jargon des Alpenklubs –, die ihn aus dem Berner Oberland ins Wallis, zu den Riesen der Südschweiz führte.


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