Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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IX

Mitten in der Nacht wachte Elisabeth auf. Tiefes Dunkel, regloses Schweigen umgab sie, und sie atmete den seltsamen würzigen Duft frischer Tannenbretter ein.

Wo war sie nur? Richtig ... in dem kleinen, hölzernen Bergwirtshaus am Gletscher, wo sie die Nacht vor der Besteigung zubrachten. Die eigentliche Schutzhütte befand sich noch etwas weiter, am andern Rand des Tales. Aber sie war unbequem und schmutzig, und so hatte man auf den Rat des Barons hier in dem saubern Chalet Rast gemacht.

Er selbst war erst spätabends erschienen, als die letzten der Gletscherbummler, die sich den Nachmittag über hier umhergetrieben, zu Tale stiegen und sie schon hoffte, daß er gar nicht mehr kommen würde. Sie hatte bei diesem Gedanken aufgeatmet. Ihr selbst bot sich ja nicht der Schatten eines Grundes, im letzten Augenblick auf die Bergtour, die sie selbst so sehnlich gewünscht, zu verzichten, wenn sie nicht etwa Krankheit heuchelte und damit die Sache doch nur auf wenige Tage verschob. Irgendein äußerer Zufall mußte ihr zu Hilfe kommen. Aber nichts derlei geschah. Selbst das Wetter, das gegen Mittag noch zweifelhaft schien, klärte sich auf, und alles deutete auf einen herrlichen nächsten Tag.

Ihr Beisammensein am Abend war nur kurz gewesen. Das Chalet hatte sich wider Erwarten bei Einbruch der Dunkelheit völlig geleert. Sie blieben als einzige Gäste übrig, und auch in der Klubhütte befand sich, wie ein von dort kommender Knecht erzählte, nicht ein einziger Tourist.

Das sei nun mal so! hatte die Wirtin bemerkt. Es sei ganz unberechenbar, wie sich die Herrschaften auf die Berge verteilten! Manchmal seien ihrer zwanzig und fünfzig auf einmal oben auf einem Gipfel, daß sie gar nicht mehr alle Platz hätten, und am nächsten ebenso schönen Tage ginge kein Mensch hinauf ... wie sich's eben gerade träfe ...

Nach dem Lärm und Getümmel, dem Maultiergewieher und Gejuchze, das den Nachmittag über um das Chalet geherrscht, wirkte die plötzliche Stille am Abend beinahe beklemmend. Sie hatten wortkarg ihr Mahl verzehrt und sich dann in schweigendem Einverständnis – wenn auch zum Verdruß ihres Gatten, der gern noch ein bißchen geplaudert hätte – schon um halb neun Uhr getrennt, um ihre Zimmer aufzusuchen. Aus offenen Augen blickte sie reglos in das Dunkel. Sie hatte Angst vor dem kommenden Tag. Es war ihr, als müsse er ihr etwas Unerwartetes, etwas Ungeheuerliches bringen.

Und dieses gespensterhafte Schweigen! Kein Windhauch, kein Wasserrauschen ... nichts war vernehmbar als ihre eigenen schweren Atemzüge.

Aber doch ... jetzt knarrte irgendwo eine Tür. Es polterte über ihr. In groben Tritten ging es da über den Flur, und durch das ganze, leicht gebaute Holzhaus pflanzte sich der Schall und das Raunen dumpfer Männerstimmen fort.

Dann krachte es auch auf der Treppe, die von unten heraufführte, und schlürfte auf Pantoffeln vor ihre Tür. Durch das Kläffen eines Spitzhundes, der unten anschlug, vernahm sie das Pochen und die Worte: »Halb zwei Uhr, Madame ... es ist Zeit, aufzustehen!«

»Es ist gut!« rief sie mechanisch und tastete nach den Streichhölzern. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich jetzt zu erheben. Der Seelenkampf ihres Innern und alles andre verblaßten in diesem Augenblick vor dem moralischen Zwang, das Bett verlassen und in die eiskalte Nacht hinaustreten zu sollen.

Auch am Nebenzimmerchen hatte es geklopft. Sie hörte das nämliche: »Halb zwei, Monsieur, ... es ist Zeit, aufzustehen!« und dann einen gähnenden Fluch ihres Gatten und ein Gemurmel, aus dem nur Worte, wie: »Mitten in der Nacht«, ... »blödsinnige Zucht!« ... hervorklangen.

Und zugleich damit ging eine andre Tür auf. Sie kannte den schwerfälligen, markigen Schritt, der über den Flur ging und die Treppe hinunter verhallte. Also der war schon auf und gerüstet, während man sie heraustrommelte! Sie beneidete ihn um so viel Entschlußfähigkeit und scheuchte den lockend auftauchenden Gedanken, sich im letzten Augenblick krank zu melden und behaglich wieder aufs Ohr zu legen, mit Energie zurück.

In der Wirtsstube, in die sie verschlafen blinzelnd eintrat, qualmte ein trübes Lämpchen. Durch die Fenster fiel der klare Sternenschein. Im Nebenraum der Küche hantierten beim Geflacker des Herdes ihre Führer, zwei stämmige, flachshaarige Brüder. Sie rollten Seile zusammen, packten die Tornister und schwatzten halblaut in ihrem rauhen Patois.

Ihr Mann war noch nicht da. Der andre aber saß vor der Lampe, rauchte eine dicke, schwarze Zigarre und schnitt sich bedächtig Brot und Käse in Stücke.

Sie reichte ihm die Hand und setzte sich ihm schwer atmend gegenüber. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, und sie fühlte, daß auch er seinen Blick von ihr abgewandt hielt und sich aufmerksam mit seinem Brot – die Zigarre hatte er weggelegt – beschäftigte.

Endlos langsam krochen die Minuten dahin. Auf dem Zifferblatt der Wanduhr, deren eintöniges Ticken allein den Raum erfüllte, konnte man sie schleichen sehen.

Sie wußte ... er dachte dasselbe wie sie in dem beklommenen Schweigen, und immer schwerer lastete dies unausgesprochene, dies nie auszusprechende und ihnen beiden doch wohlbekannte Geheimnis auf ihr.

Oder sollte er doch daran rühren? Er machte eine Bewegung zu sprechen. »Verzeihen Sie, wenn ich davon red' ...« sagte er rauh und schnitzelte an seinem Brot, »aber es kommt oft vor, daß sich die Damen auf den Bergtouren viel zu fest schnüren und dann ...«

»Nein ... gar nicht!« Sie schüttelte herbe den blonden Kopf und sah zur Decke auf.

»Um so besser! Die Luft über 4000 Meter ist dünn, und mit einer Wespentaille kriegt man nicht genug davon in die Lungen. Und ändern läßt sich's nicht mehr, wenn wir mal aus dem Hause sind ...«

Wieder schwiegen beide, und durch ihre tiefen Atemzüge tickte eintönig die Uhr.

Gott sei Dank ... da kam die Wirtin, eine dampfende Kanne in der Hand. »Ich habe heiße Milch für Sie bestellt«, sagte der Gletschermann gebieterisch, »nehmen Sie sich etwas Kognak hinein und trinken Sie, soviel Sie wollen. Aber essen Sie nichts, als höchstens den Zwieback da. Sonst werden Sie unterwegs krank!«

Sie gehorchte. Und sie empfand dabei ein merkwürdiges Gefühl der Genugtuung, sich wieder von ihm beschützt zu wissen und seinem starken ruhigen Willen beugen zu dürfen.

Er sah auf die Uhr. »Wo bleibt denn eigentlich Ihr Herr Gemahl?«

Sie stand auf. »Ich werde ihn holen«, sagte sie mit leisem Unmut in der Stimme, »wahrscheinlich ist er wieder eingeschlafen!«

Aber da hörte sie schon draußen sein helles, weiches Lachen. »'Morgen!« rief er im Eintreten, »allerseits gut geruht? ... ja? ... wissen Sie, was die Führer für sich mitnehmen? ... getrocknete Pflaumen und in der Sonne gedörrtes Bockfleisch! brr! ... Es wird einem vom bloßen Hinsehen übel!«

Der Baron zog ein Paket aus der Lodenjoppe. »Gerad' dasselbe hab' ich auch in der Tasche!« sprach er kurz, »und jetzt halten S' sich ans Frühstück, daß wir bald wegkommen! Wir müssen beizeiten über den Firn!«

In wunderbarer Helle glitzerte und flimmerte über den Heraustretenden der Sternenhimmel. Anders als in dem trüben, lichtaufsaugenden Dunst der Ebene glühten hier, wie zum Greifen nah, die Himmelskörper durch die eiskalte Luft herab. Beinahe blendend wirkte ihr Glanz auf die Augen, die mühsam sich an das Stockdunkel ringsumher zu gewöhnen suchten.

Es war schneidend kalt, wie in einer deutschen Winternacht. Um die vermummten Gestalten zog der Atem in weißen Wolken dahin, und das Gras am Boden glitzerte von Reif.

Jetzt kam auch der zweite Führer aus dem Hause. Er trug eine brennende Laterne in der Hand und nahm mit ihr die Spitze. Langsam stieg man den Geröllpfad hernieder.

Behaglich war das nicht. In dem Flackerschein, der über das Steingeriesel unstet hinzitterte, konnte man nichts Rechtes unterscheiden. Alle Augenblicke strauchelte der ungeübte Fuß oder tastete unsicher in die Finsternis hinein und glitschte über schlüpfrige Rasenbüschel.

Anstrengend war das im höchsten Maße; Elisabeth hatte alle Mühe, der vorausschwankenden Laterne zu folgen, und fühlte in kurzem ihre Stirne trotz der Kälte feucht werden. Sie war aber nach ihrer Meinung auch viel zu dick eingepackt! Auf Befehl des Barons hatte sie sich einen Wollschal unter dem Hute um die Ohren, einen andern um den Hals geschlungen und Mund und Nase durch ein davorgelegtes Seidentuch geschützt. Dazu der lange Lodenmantel, die festen Wollstulpen an den Handgelenken, die Pelzhandschuhe, die dicken Wollstrümpfe und schweren Nägelschuhe ... es war wirklich zum Ersticken! Vorsichtig versuchte sie, etwas ihre Hüllen zu lüften, aber die schneidende, geradezu brennende Kälte, die sofort ihre Haut überzog, belehrte sie eines Besseren, und sie sah seufzend ein, daß ihr Mentor einmal wieder recht gehabt hatte.

Tiefer und tiefer stieg man hinab. Weit unter sich sahen sie im Zickzack das einsame Licht dahinschaukeln.

»... Das ist aber doch doll!« vernahm sie nach einiger Zeit die Stimme ihres Mannes, »ich denke, wir klettern auf 'nen Gipfel, und dabei sinken wir immer tiefer. Das ist ja gerade, wie wenn's in ein Bergwerk ginge!« Niemand antwortete.

»Na ... Elisabeth«, tönte es nach einer Weile wieder von hinten, »wie gefällt dir das? ... Großartig! ... was ... die Aussicht! ... die haben wir zu Hause nicht ... und die mollige Wärme und der lauschige Weg ...« Er brach ab und unterdrückte einen Fluch. Ein paar Steinchen kollerten hinab.

Sie wandte sich zu dem hinter ihr schreitenden Baron. »Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher, »aber viel Spaß macht es mir heute auch nicht ... ich bin ganz matt und müde ...«

Aus dem Dunkel kam ein kurzes dröhnendes Lachen.

»Wissen S', was der alte Napoleon gesagt hat, gnädige Frau? Der einzig wahre Mut ist der Zwei-Uhr-morgens-Mut! Allons! Schaffen S' sich den schleunigst an! 's ist höchste Zeit. Wir haben schon viertel drei!«

Sie lachte mit und nickte ihm im Dunkel zu. »Recht haben Sie!« rief sie und sprang leichtfüßig hinter der Laterne her.

Die machte jetzt halt. Die Führer beratschlagten in ihrem schwäbelnden Kauderwelsch, aus dem man nur das stetig wiederkehrende Wort »Morrräne« vernahm. Man mußte also an einem Gletscher sein. Und richtig, da schimmerte ja in verschwommenen weißlichen Umrissen das mächtige Frostgebilde durch die Nacht. Es lag in tiefer Ruhe. Das Sprudeln und Plätschern des Wassers war versiegt. Nichts regte sich mehr in seinen Schlünden.

Vor ihr zitterte der Lichtstreif über einen hohen, mäßig steilen Geröllhang. Sie wollte ein paar Schritte daran heraufsteigen, aber schon beim ersten Tritt glitt sie auf den Kieseln und dem körnigen Sand wie auf einem Spiegel aus und rutschte unsanft herunter.

Der Baron fing sie auf. »Das ist alles vereist!« schmunzelte er und betrachtete prüfend den schmutzigbraunen Wall, »all der Dr ... , der Gletscherkehricht da ist beinhart zusammengefroren. Da heißt's halt Stufen hauen!«

Und schon senkte sich sein Pickel krachend in den tückischen Abhang, daß die Schlammsplitter klirrten und ein Tritt nach dem andern in dem häßlichen vereisten Brei entstand.

Endlich war die Leiter fertig. Der Führer, der geleuchtet hatte, stieg wieder herab, bot Elisabeth die Hand und zog sie herauf, indem er sorgsam den Schein der Laterne jeweils auf die nächste Stufe fallen ließ, der sie ihren Fuß anzuvertrauen hatte. Nach kurzem stand sie oben, und das Licht glitt wieder den Schmutzwall hinunter.

»Na, hören Sie mal, lieber Baron!« klang von da eine joviale Stimme aus dem Dunstkreis des Lämpchens, »die Bergfexerei in Ehren! ... aber wenn das ein sogenannter Genuß sein soll ...«

»Komm der Herr nur!« Man sah, wie der Führer sich mit ausgestreckter Hand vorbeugte. Herr von Randa tauchte oben auf und sah sich prüfend um. »Also nu 'n Gletscher!« meinte er, »bon! ... ich bin mit der Tour zufrieden! 's ist ja ganz interessant, auch einmal diese menschliche Verirrung mitzumachen!«

»Werd' ich denn hier nicht ans Seil genommen?« fragte Elisabeth.

Gündlingen verneinte. »Der Gletscher ist ganz flach und harmlos. Bei Tag treibt man da die Küh' und Ziegen 'rüber. Und wenn wo 'ne Schneebrücke sein sollt', so ist sie jetzt fest gefroren und trägt uns!«

In der Tat ... es ging sich sehr bequem auf diesem blanken, nur zuweilen sanft sich neigenden oder ansteigenden Eisparkett. In seinem Spiegel schimmerte weithin der Lichtkegel der Laterne, so daß man den Weg nicht verfehlen und leicht die da und dort klaffenden Spalten vermeiden konnte.

In einer Viertelstunde war man auf der andern Seite angelangt und stieg auf flüchtig gehauenen Stufen einen kleinen Eishang hinab, an dessen Rand wieder lose Kieselsteine unter den Sohlennägeln knirschten. »Jetzt wird der Herr Gemahl wieder schimpfen!« sagte neben ihr der Baron trocken, »jetzt geht's in die Moräne!«

Und unter den Moränen, den Schmutzflecken der Alpenwelt, nahm die vor ihnen liegende einen hervorragenden Rang ein. Erst hieß es im Zickzack eine hochragende Schuttwand erklimmen, dann schritt man, vorsichtig mit der Laterne leuchtend, eine Weile den spitz zulaufenden, kaum fußbreiten Kamm entlang, auf der andern Seite halb gehend, halb in mitrieselndem Geröll herabgleitend, wieder herunter, über ein kleines sumpfiges Wiesenstück, dessen Boden bei jedem Schritt quatschte und gurgelte, und einen neuen ragend aufgetürmten Steinwall in die Höhe. Hier waren die Blöcke größer und fester. Man mußte sich zwischen ihnen herauf-, dann wieder herabwinden, bis zu einem ebenen Geröllboden, in dem ihr Licht sich ringsum in stehenden Tümpeln widerspiegelte.

Hier wurde eine kurze Rast gemacht.

»Na ... Gott sei Dank!« sagte Herr von Randa inmitten der schwarzen, schweigsam hingekauerten Gruppe und trocknete sich die Stirne, »Gott sei Dank, daß dieser angenehme Gletscher hinter uns liegt. Hoffentlich wird die Sache jetzt gemütlicher!« Der Führer neben ihm wies mit der Hand in die Höhe.

»Jetzt gehen wir über die Guffeln!«

Die Guffeln! Genaues konnte man da oben nicht unterscheiden. Aber in dem ersten ahnenden Dämmern des Morgens erkannte Herr von Randa doch, daß ein Labyrinth wild durcheinandergekollerter Felsenstücke, ein Chaos verwitterter Steinklumpen von der Größe eines Kopfes bis zum Umfang eines Zimmers, ja eines Hauses, den aufsteigenden Berg bedeckte. »Na ... sehr vertrauenerweckend sehen diese Guffeln nu auch nicht aus!« meinte er ärgerlich, während die Karawane sich von neuem zum Aufbruch rüstete.

Die Führer hatten den Beginn des Morgengrauens abgewartet. Sie löschten jetzt die Laterne aus und versteckten sie hinter einem Block. Ein fahles zerfließendes Grau, in dem die Dinge noch wesenlos ineinanderschwammen. lag über der wüsten Öde. Aber doch konnte man schon zur Not erkennen, wohin man den Fuß setzte, und hoch oben über den Schneefeldern blinkte es in dunstigem Blutrot, wie vom Widerschein einer mächtigen Feuersbrunst, in der Mond und Sterne langsam verblaßten und verschwanden.

Es war ein mühsames Steigen von einer Felsplatte auf die andre, ein Herabschlüpfen von dem einen Felsbrocken, um den nächsten wieder zu erklimmen, ein Klettern und Sich-Hindurchwinden durch die sich mählich auftürmenden Bergtrümmer.

»In Norwegen nennen sie so'n Zeug das ›Ur‹!« sagte der Baron, als sie eine halbe Stunde gestiegen waren, »das ist der rechte Name!«

Sein Gefährte hinten hatte es gehört. »Kommen wir denn nu endlich aus dieser Urwelt heraus?« schrie er.

Die andern lachten: Zwei Stunden ginge es noch so weiter!

Inzwischen wurde es völlig Tag. Aber die überwältigende Pracht des Sonnenaufgangs, auf die sich Elisabeth gefreut, blieb völlig aus. Die schutterfüllte Talmulde, die sie emporkeuchten, war rings von hohen Bergstürzen eingeschlossen. Wohl sah man, wie darüber allmählich ein paar vereiste Gipfel sich in warme rosige Töne kleideten. Aber der Eindruck des Ganzen blieb doch frostig und streng, ja die Schneeflächen gewannen auf kurze Zeit ein ganz kalkiges, gelbliches Aussehen, und der Himmel war von blassen Nebeln wie verschleiert. Blieb doch auch die Sonne selbst unsichtbar. Sie stand noch viel zu tief im Osten hinter hochragenden Bergen, und nur eine farblose Helle verkündete ihr Dasein.

Und dabei schien es, als wolle das Felsengewirr kein Ende nehmen! In trügerischen Absätzen, bei deren jedem man endlich den Kamm erreicht zu haben glaubte, zog es sich höher und höher hinauf und eröffnete von jedem neu erstiegenen Hang immer wieder den Ausblick auf ein Gewirr brauner Steinblöcke mit spärlich unter ihnen sprudelndem Wasser.

Dann plötzlich machte der Baron mit den Führern, ohne ein Wort zu wechseln, halt und rüstete am Hang einer mächtigen Steinpyramide alles zur Rast. Er breitete ein Plaid für Elisabeth aus, auf das sie sich erschöpft, mit zitternden Knien niederließ, und holte den Wein sowie ein Fläschchen mit rohem Eidotter heraus. »Trinken Sie das aus!« ordnete er an. »Ich hab' noch mehr davon für Sie mitgenommen. Es ist das einzige, was Sie jetzt vertragen!«

Sie schlürfte gehorsam das Fläschchen aus. »Die abscheulichen Felsen ...« sagte sie matt, »wie lange dauert es denn noch damit?«

»Zwei Schritte!« Er bemerkte ihr Erstaunen und setzte hinzu: »Wir sind am Rand des ewigen Schnees. Da aber ein kalter Wind über die Fläche weht und wir erhitzt sind, so rasten wir hier im Schutze der Felsen!«

Mit der Entdeckung, daß man die Guffeln überstanden und unter dem Eindruck des Frühstücks hob sich die Stimmung wieder, während die Führer alles zusammenpackten und ihre Seile aufzurollen begannen. »Ich schlag Ihnen vor, wir teilen uns!« wandte sich der Baron an Herrn von Randa, »Sie lassen sich von dem einen Führer ans Seil nehmen und vertrauen dem andern und mir Ihre Frau Gemahlin an. Zwei Neulinge an einem Seil, das könnt' unter Umständen unangenehm werden, wenn der eine mal ausrutscht oder sonst was passiert!«

Herr von Randa gähnte. »Sie haben zu bestimmen, Verehrtester ... Sie allein! ... Dirigieren Sie diesen abnormen Scherz, den wir uns heute leisten, ganz nach Ihrem Belieben!«

Wirklich ... da lag die Schneefläche vor ihnen, und ihr erkältender Hauch streifte die erhitzten Wangen. Ein einziges, unendliches, uferloses Weiß, in dem das Auge jeden Maßstab und jeden Anhaltspunkt verlor. Erst allmählich erkannte man, daß dies blendende Feld seine Einsenkungen und Hügel, seine Mulden und mächtigen Hänge besaß.

Über dem Kamm eines jeden solchen Hanges blaute der Himmel. Es schien, als habe da der Berg ein Ende, als sei die Spitze erreicht. Stand man aber auf der Höhe, dann breitete sich wieder ein schimmerndes Plateau aus, das drüben ein neuer Abhang begrenzte, um seinerseits oben abermals in eine neue Firnfläche überzugehen. Es war unmöglich zu erkennen, wohin man stieg, was hinter einem zurückblieb. Einer Wanderung in grenzenlose Weiten, die ohne Raum und Zeitschranken sich ringsum zu dehnen schienen, glich der endlose, einförmige Marsch durch den Schnee. Der harte Firn kreischte und knarrte unter den Nägelschuhen und den taktmäßig aufgesetzten Eisenspitzen der Stöcke, das Seil pendelte in regelmäßigen Schwingungen zwischen den wie stumme Maschinen schreitenden Gestalten hin und her, und stoßweise ballte sich der Atem als dünne Rauchwolke in der Luft. Ab und zu ein kurzer prüfender Halt vor einer Spalte, ein Ruck am Seil, wenn einer unversehens in ein Schneeloch trat ... dann weiter ... weiter ... immer weiter ...

Gott sei Dank ... da oben auf dem Schneekamm blitzte es warm und freudig auf. Da war endlich die Sonne ... die liebe Sonne, die Elisabeth die ganze Zeit ersehnt hatte.

Ihre beiden Begleiter blieben stehen und nestelten von den abgenommenen Hüten die Schneebrillen los. Sie zögerte. »Muß das sein?« fragte sie zweifelnd.

»Wenn Sie fünf Minuten lang auf das besonnte Schneefeld schauen«, sagte der Baron und setzte seinen Hut wieder auf, »so sind Sie halb blind und haben acht Tage geschwollene Lider und tränende Augen. Aber Ihre Tücher und den Mantel können Sie jetzt dem Führer geben, da oben wird's heiß.«

Das hatte sie schon gemerkt. Der Firn will nichts von der Glut der Sonne wissen. Er schleudert ihre Strahlen fühllos zurück, daß sie über seinem Frostpanzer ziellos hin und her zittern und mit sengendem Hauch den Hochwanderer umfangen.

Der Führer schob die abgelegten Hüllen in seinen Sack, während sie selbst sich mit ungeübten Händen die Eisbrille über den Augen befestigte. »Pfui, wie häßlich!« rief sie unwillkürlich aus. Es war ihr, als sei die Sonne plötzlich untergegangen und es umfange sie wieder das trübe farblose Grau des heutigen Morgens. Kein bunter Schein, kein froher Lichtflimmer durchdrang das rauchige Glas und die engen Drahtmaschen. Es war unsäglich traurig.

Sie empfand ein leichtes Zucken des Seils. Es ging weiter; erst geradeaus, dann in ewigem Zickzack über steile Schneehalden, hin und her, und wieder hin und her, eine Viertelstunde nach der andern, und nichts ringsum zu schauen als grauer Schnee und graue Luft und die grauen Gestalten ihrer Begleiter, die unter den mächtigen Brillen wie fremde, unheimliche Stubengelehrte aussahen. »Du, Elisabeth«, hörte sie einmal dreißig Schritt hinter sich die Stimme ihres Gatten, »was meinst du: die Schneebrillen wollen wir künftig auch zu Hause tragen ... die sind zu angenehm ... nicht?«

Sie erwiderte nichts. Sie fühlte sich nicht nur verdrossen und müde, sondern auch körperliches Unbehagen überkam sie immer stärker. Was es eigentlich war, wußte sie nicht ... eine Art von Beklemmung, von Schwindel und Übelkeit ... es wuchs mehr und mehr ... kalte Perlen traten auf ihre Stirne ... sie atmete bang und schwer ...

Endlich hielt sie das Seil fest und blieb stehen. »Mir ist ganz schlecht zumute!« sagte sie kleinlaut zu dem sich umwendenden Baron.

Ihr Begleiter griff in die Tasche und holte eine Feldflasche heraus.

»Dreitausendfünfhundert Meter!« sprach er trocken, »das ist die kritische Höhe für die Bergkrankheit. Dagegen gibt's zwei Mittel: erstens ein Schluck Kognak! ... so ... zweitens die Zähne zusammenbeißen und zu seinem innern Menschen sagen: ›Ich will!‹ ...«

Ihr Gemahl war herangekommen. »Wie siehst du denn aus!« rief er, »du bist ja käseweiß im Gesicht ... Kind! ... nu wollen wir uns aber schleunigst rückwärts konzentrieren!«

Sie schüttelte den Kopf und gab das Fläschchen zurück. »Weiter!« sagte sie matt und setzte mit gesenktem Kopfe die Zickzackwanderung fort.

»Wie schaut's?« tönte es nach einer Weile vor ihr.

»Schlecht!«

Zehn Minuten verstrichen. Dann hörte sie wieder die Stimme: »Aber es geht doch vorwärts?«

Sie furchte grimmig die Stirne. »Es muß gehen!«

»Recht so!« Wieder nach einer Weile fühlte sie die Feldflasche in ihrer Hand. »Jetzt noch einen herzhaften Schluck! Wenn wir noch hundert Meter höher kommen, so geht der Anfall weg ... langsam steigen ... ja nicht den Atem verlieren ... dann ist's gefehlt ... so, immer tapfer ... so gar quittengelb schauen S' gar nicht mehr aus ... oho, jetzt fangen die Backen gar an, wieder rot zu werden.«

»Es geht mir auch wieder besser!« erwiderte Elisabeth, mit einem Versuch zu lächeln.

»Na, alsdann! ... so ... da sind wir oben! da haben Sie Seine Majestät vor sich!«

Sie lüftete ein wenig die Brille und stieß einen freudigen Ruf aus. Dicht vor ihr erhob sich über einem jäh abschießenden, von kleinen Felszacken durchbrochenen Firnhang die eigentliche Kuppe des Berges, ein wild zerklüftetes, mächtig emporstrebendes Felsengewirr, in dem nur wenige Schneestreifen den bräunlichen Schimmer des Gesteins unterbrachen. Ganz oben hob sich in scharfen Umrissen die Gipfelspitze von dem tiefblauen Himmel ab.

»Wie steht's?« fragte er nach kurzer Ruhe, »wollen Sie noch weiter?« Sie schaute ihn erstaunt an, nahm ohne ein Wort zu verlieren ihren Bergstock zur Hand und schritt fürbaß.

Er hielt sie am Arme fest. »Schneid haben S' schon!« lachte er, »aber lassen S' mich voraus! Mit dem Grat da ist nicht zu spaßen!«

Der Grat war höchstens fünfzig Meter lang, aber beinahe messerrückenschmal und senkte sich zu beiden Seiten als steiles Eisdach herab, unter dem die freie Luft schimmerte.

»Vorsicht ... fest den Fuß aufsetzen! ... nicht zu stark auf den Stock stützen ... der kann ausgleiten ... langsam ... immer ruhig!« tönte es vor ihr. Und wie ein Echo kam von hinten das Gemurmel des Führers: »Vorsicht ... aufrecht gehen ... langsam ... nicht hinducken! ... Es geschieht der Dame nichts ... langsam!«

Da waren sie drüben! »Uff!« sagte sie und schüttelte sich, »eben hätt' ich doch als Frauenzimmer eigentlich das Recht gehabt, mich ein bißchen zu fürchten!«

Er sah sie prüfend an. »Sie sind anders wie andre Frauenzimmer!« brummte er und wandte sich dann rasch, als bereue er das Gesagte, zu dem Führer.

»Gehen S' zurück! ... helfen S' dem Herrn hinüber! ... Wir steigen indes bis zum Firnhang hinauf!«

Dort angelangt begann er, ohne sich umzuschauen, kunstgerecht eine schnurgerade aufwärts führende Treppe in das Eis zu schlagen. Sie blickte, ungeduldig im Schnee hin und her stapfend, zurück und sah ein seltsames Bild.

Am andern Ende des schwindligen Schneegrats verhandelte ihr Gatte mit den Führern. Sie schienen über etwas zu streiten. Wenigstens redeten die Leute eifrig auf ihn ein und wiesen nach der Stelle, wo sie stand. Er antwortete mit Kopfschütteln und erregten Handbewegungen.

Ein plötzlicher entsetzlicher Verdacht erfaßte sie. Aber Gott sei Dank ... nein ... da setzten sie sich unten in Bewegung und überschritten langsam die gefährliche Stelle. Sehr glücklich war das Bild nicht, das der in der Mitte dabei bot. Aber wahrscheinlich hatte sie selbst ja auch keine bessere Figur gemacht.

Als er herankam, sah sie, daß sich seine Gesichtsfarbe merklich verändert hatte. Er holte schwer Atem. »Das ist ja ein unsinniger Weg, den uns der Baron da schleppt«, sagte er halblaut zu ihr, »es ist für dich besser, Elisabeth, du kehrst um!«

»Warum denn?« fragte sie kühl. »Mir ist wieder ganz gut. Und jetzt wird's ja erst schön!«

»Schön!« Herr von Randa warf einen Blick auf den Eishang und bemerkte erst jetzt die von dem Baron hergestellte Stufenleiter, »und da sollen wir hinauf?«

Sie zuckte die Achseln. »Es scheint so!«

»Ja ... aber liebes Kind ... sieh dir doch mal die Geschichte an. Weiter oben kommen diese törichten Stufen ja ganz dicht an den Hang heran. Wer da ausrutscht, fliegt tausend Meter in die Tiefe!«

»Man rutscht eben nicht aus«, lachte sie.

»Ich bin fertig!« schrie von oben der Baron mit seiner Löwenstimme, »... los! ... Sie zuerst, gnädige Frau!«

Ihr Mann richtete sich auf: »Ich gestatte das nicht. Wenn dir ein Unglück passiert ...«

Die beiden Bergführer hatten einen Blick getauscht. »Dafür sind wir da, Herr!« sagte der eine der beiden Brüder fest und weit entschiedener, als der bescheidene Mensch sonst auftrat ... »... und wir stehen als zwei Bergführer ersten Ranges im ›Bädeker‹ und im ›Tschudi‹, und Sie haben unsere Zeugnisbücher gesehen!«

»So kommen Sie doch!« dröhnte es von oben.

Der eine Führer stand schon auf den Stufen: »Halten Sie sich nur fest am Seil, Madame! ich zieh Sie herauf, das geht ganz gut!«

Mit kräftigem Ruck schleppte er sie von einer Stufe zur andern die jähe Wand empor. Der andre Führer hinterher. Nach wenigen Minuten waren sie ohne Zwischenfall oben.

»Was hat denn der Herr wieder gehabt?« schnauzte der Baron sie an. Die Führer lachten, schauten sich an und zuckten vielsagend die Schultern. Dann stiegen sie wieder hinab.

Elisabeth hatte sich abgewendet. Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Eine unbestimmte Angst, daß sie sich ihres Gatten schämen müsse, kam über sie und wuchs erstickend an. Sie wagte gar nicht, den Firnhang hinabzublicken. Immer näher hörte sie die zuredenden Stimmen der Führer und ein undeutliches Brummen des Barons, das nicht sehr schmeichelhaft klang.

»Na also, den Kopf hat's nicht gekostet!« sagte er recht rauh zu dem Ankommenden.

Herr von Randa antwortete ihm nicht. »Elisabeth«, keuchte er, mit Pausen zwischen jedem Wort, »wir haben uns da zu einem ganz ... ganz unvernünftigen Abenteuer bereden lassen! ... ich bestehe darauf ... daß wir ... jetzt auf der Stelle umkehren ...«

Sie schaute ihn kalt an. Der Baron ersparte ihr eine Antwort. »Setzen S' sich dahin!« sagte er kurz, »trinken Sie ordentlich Wein ... dann kommen Sie auf bessere Gedanken!«

»Ich kehre um!« widersprach Herr von Randa scharf. Sein gutmütiges Gesicht war bleich und mit Schweißperlen bedeckt, »natürlich nicht wegen mir, sondern wegen meiner Frau!«

»Ihre Frau klettert wie ein Wiesel!« fiel der Baron ihm unwirsch in die Rede, »und Courage hat sie mehr wie ... wie nötig ist!«

Er brach ab. Und unwillkürlich ergänzte sie sich im Geiste, was er eigentlich mit seinen letzten Worten hatte sagen wollen! Da stand sie, unerschrocken, tatenlustig, nachdem sie durch eigene Willenskraft ihre Schwäche niedergekämpft ... der Gefahr spottend ... und neben ihr ... sie blickte ihrem Mann ins Gesicht. Er gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. Aber sie sah deutlich, was in ihm vorging.

Er war ihr Mann. Sie mußte ihm beistehen! Eine Wolke finsteren Zornes glitt über ihr schönes Gesicht. »Gehen wir also herunter!« sagte sie, an ihm vorbei in die Weite starrend, »wenn du so besorgt um mich bist!«

Aber da widersprachen nicht nur der Baron, sondern auch die beiden Führer, deren Ehrgeiz es natürlich war, die Reisenden bis auf den Gipfel zu bringen. »Wenn Sie wieder im Schnee unten sind, machen Sie uns Vorwürfe, daß wir umgekehrt sind!« meinte der eine, und der andere wies nach oben:

»Es ist ja nur noch eine schwierige Stelle! ... dann geht's ganz leicht in einer Stunde hinauf!«

Elisabeth blickte auf ihren Mann. Er hatte einen starken Schluck Wein genommen. Seine Züge belebten sich. Er widersprach den Führern nicht.

Sie fühlte eine schwere Hand auf ihrem Arm. »Kommen Sie!« sagte der Baron halblaut, »wenn er Sie vor sich sieht, bleibt er schon dabei!«

Sie kletterte mit ihm und dem einen Führer empor. Erst über mäßig steile Platten, dann auf einem kurzen, breiten Felsenband, das jäh an einer vorspringenden Ecke des Gesteins abbrach.

»Jetzt kriegen Sie Ihren dritten Schluck Kognak!« sagte der Baron, stehenbleibend, »ich verschwinde jetzt um diese Ecke! ... trete aber nicht in die freie Luft, wie es den Anschein hat, sondern auf eine Steinkante, die auf der andern Seite läuft. Wenn ich Ihnen dann zurufe: ›Jetzt!‹ so vergessen Sie, bitte, daß Sie ein Frauenzimmer sind und das Recht haben, sich zu fürchten ... kneifen Sie die Augen fest zu, damit Ihnen nicht vor dem Abgrund unter Ihnen schwindlig wird, schwenken das rechte Bein in die Luft hinaus um die Ecke und tasten, bis Sie auf der andern Seite festen Tritt haben, verlegen allmählich den Schwerpunkt Ihres Körpers dahin, geben sich einen Ruck, ziehen den linken Fuß nach und stehen vergnügt auf der andern Seite. Nur keine Angst. Sie können nicht fallen. Und wenn Sie fallen, so bleiben Sie drei Schritt abwärts am Seil hängen, und wir ziehen Sie wieder in die Höhe! ...«

Vorsichtig tastend umklammerte er den Felsen. Dann ein Schwung. Die mächtige Gestalt verschwand vor ihren Augen. Nur das Seil zuckte leise, und man hörte, wie drüben ein Stein sich löste und herabkollerte. Dann ward es still. Nach endlos langer Zeit kam erst aus dem Abgrund der dumpfe Schall.

»Los!«

Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen. Bleich, mit zitternden Händen, schob sie sich bis zu der Stelle hin.

Da hörte sie von unten eine angsterstickte Stimme: »Elisabeth!« Das Gesicht ihres Gatten war verzerrt. »Zurück! ... zurück! sag' ich ... das ist frevelhaft ... ich erlaub's dir nicht!«

Sie blickte auf ihn hernieder mit einer Art traurigen Mitleids. Wie im Traume zog der Tag an ihr vorbei, da man sie in der Dorfkirche traute, und sie vernahm wieder, vor dem Altar kniend, die Stimme des Pfarrers: »Er soll dein Herr sein!«

»Los!« tönte es ungeduldig noch einmal von drüben. Dein Herr! ... der Mann da unten, dem die Furcht aus dem Gesichte sprach. Aber freilich ... die Furcht um sie! Wenn sie drüben war, würde er ihr gewiß folgen!

»Hoho! ... also wirklich, Angst!« höhnte die Donnerstimme hinter dem Felsen.

Sie fuhr zornig empor ... ihre Augen sprühten ... sie schloß die Wimpern ... sie umkrampfte das Gestein ... ein kurzer Augenblick, in dem Atem und Herzschlag erstarrten. Dann stand sie drüben, und der Freund lachte ihr gutmütig zu.

»Ich hab' keine Angst gehabt!« stammelte sie atemlos. »Mein Mann rief mich im entscheidenden Augenblick an!«

»Der will Sie wohl morden!« brummte der Baron ingrimmig. »Na ... setzen Sie sich dahin, bis er herüberkommt.«

Es zupfte am Seil.

»All right?« tönte von drüben die Stimme des Führers.

Der Baron setzte sich zurecht und spannte an. »Go on, Sir!« schrie er übermütig, und der Führer schlüpfte herüber.

Der Mann hatte das zweite Seil um den Arm gebunden und wog es unschlüssig in der Hand. »Das ist bös!« sagte er, »der Herr will nicht herüber!«

»Warum nicht?« Der Baron runzelte die Stirn. »... Er hat Angst«, raunte der andre ihm zu, leise, um nicht von Elisabeth gehört zu werden.

Sie hatte es doch vernommen. Ein wildes Lachen klang von ihren Lippen. Sie sprang auf und legte die Hände an den Mund. »So komm doch!« rief sie mit heller Stimme, »es ist ja gar nichts dabei!«

Hinter dem Felsen blieb es still. Man vernahm nur das dumpfe Murmeln des zweiten Führers. Der erste hatte sich in Positur gesetzt und das Seil über Felsblöcke befestigt, um den Touristen zu erwarten.

Aber niemand kam.

»Wo ist der Herr?«

Eine Pause. Dann klang es dumpf aus dem Munde des zweiten Führers zurück: »Dem Herrn widersteht die Stelle! Er kehrt um!«

Sein Bruder lachte und hielt dann, mit einem Blick auf Elisabeth, erschrocken still.

»Die Herrschaften möchten doch zurückkommen!« hallte wieder von drüben dumpf die Stimme.

Der Baron sprang auf und reckte seine mächtige Brust. »Fällt mir gar nicht ein! Wenn der Herr umkehren will, hat er an einem Führer ganz genug!«

»Der Herr Baron könne machen, was er wolle.«

Durch die Stimme des Führers klang es wie unterdrückte Heiterkeit: »Aber die gnädige Frau müsse sofort umkehren!«

Ihr Freund zuckte die Achseln. »Ja ... das steht nun bei Ihnen!« Sie antwortete nicht gleich. Ein Zug verächtlichen Stolzes spielte um ihre Lippen. Sie sah in diesem Augenblick hart, beinahe grausam aus.

»Meinen Sie, daß ich meinem Herrn und Gebieter auch diesmal gehorchen soll?« sagte sie rauh, »heute hab' ich Lust, einmal ungehorsam zu sein ... mag daraus werden, was da will!« Sie wandte sich zum Führer: »Machen Sie das zweite Seil los und werfen Sie es den andern hinüber. Ich geh mit Ihnen und dem Herrn Baron auf den Gipfel! ...«


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