Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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X

Höher ... immer höher hinauf, dem Eisriesen zu Leibe, der sich vergebens gegen seine winzigen Bezwinger wehrt. Hindernis auf Hindernis häuft er, um den schwarzen, unverdrossen vorwärts kriechenden Punkten den Weg zu verrammeln. Starre Felswände stellt er ihnen entgegen, faules Gestein, das tückisch in der Hand bricht, furchtbar jäh abschießende Firnhänge. Aber über alles hin schlingt sich das Seil, klirrt die Axt und hebt sich der Bergschuh Schritt für Schritt dem näher und näher kommenden Ziel entgegen.

Das ist das Gewaltigste und Aufregendste im Leben des Hochtouristen, dieser letzte Kampf mit dem Koloß, dieser Streit, den da in viertausend Meter Höhe, weit über den Stätten der Menschen, weit über der Wolkendecke, drei schwache Lebewesen mit dem ungeheuren Stein- und Eisgebilde führen. In den Kerben seines Frostpanzers sich emporwindend, jeden Felszacken als Handgriff benutzend, aus dem spröden Firn sich eine Treppe schmiedend, geht es hartnäckig himmelan, bis zu dem allerhöchsten, sanft geneigten Schneerücken, der keinen Widerstand mehr bietet. Der Augenblick des Triumphs ist nahe – und gellend hallt durch das starre Reich des Todes das Juchzen der Führer. Etwas Tierisches liegt in diesem Schrei, etwas von ungebändigter Kraft des Herrn der Schöpfung, jener unruhigen, kampfsuchenden Kraft, die ihn in die fernsten Winkel seines Erdballs, in das starre Eis des Nordpols, den ewigen Schnee der Hochwelt zum Kampfe mit den Elementen treibt.

Ein berauschendes Glücksgefühl schwellte Elisabeths Brust, während sie mit den Männern höher und höher klomm. Sie dachte an nichts mehr als an die trotzige Spitze über ihr, die ihre Augen im Klettern kampfgierig suchten. Die Erinnerung an den Auftritt mit ihrem Mann, das Bewußtsein der Gefahr ... das alles verschwand in diesem einzigen Gefühl unbeschreiblicher Daseinsfreude, durch diese Welt voll Graus und Schrecken sein blühendes Leben siegreich und lachend bis zu den Grenzen des Himmels hinaufzutragen.

Auch der Führer wurde immer lustiger, je höher sie. kamen und je eisiger der Hauch der Berge ihre heißen Wangen umfächelte. Er schrie und juchzte bei jedem neu erklommenen Kamm, jeder glücklich überwundenen Felswand, und in sein lärmendes Wesen klang zuweilen das dröhnende Lachen des Barons, dessen mächtige Augen in kühnem Wagemut glänzten. Sein Gesicht hatte sich gerötet, der blonde Vollbart wehte darüber hin. Er sah in dieser Stunde wahrhaft schön aus.

Unwillkürlich mußte sie daran denken. Aber fast zugleich erfaßte sie ein beklemmendes, beängstigendes Gefühls das sich schon die ganze Zeit dumpf bei ihr gemeldet hatte. Sie konnte keine Luft mehr bekommen! Sie mochte atmen, so tief sie wollte ... sie hatte trotzdem die Empfindung, als ob ihre Lungen sich nur unvollkommen füllten, wie bei einem Menschen, dem man unter der Luftpumpe den Lebensstoff entzieht.

Sie blieb stehen und rang nach Atem!

»Haben S' Nasenbluten?« schrie der Baron über ihr. »'ne Handvoll Schnee ins Genick! Das wirkt auf der Stelle!«

»Nein ... danke!« Sie sah empor. »Aber ich glaub' ... ich ersticke!«

Der Baron lachte. »Ja, so dick wie im Ballsaal ist die Luft hier nicht. Aber 's langt schon noch! ... Nur ordentlich schnaufen und keine Angst ... dann geht's!«

Wirklich ... es ging ... wenn auch zur Not. Und etwas seltsam Erfrischendes und Nervenstärkendes hatte diese eisdünne Luft an sich, die wie ein kaltes Bad den Körper umspülte und durch alle Hüllen drang.

Höher ... immer höher! Der Riese gab sich nicht so leicht. Jetzt galt es noch, die letzte, als dünne Pyramide aufschießende Spitze zu nehmen.

Sie kletterten an diesem höchsten steilen Zacken empor wie die Dachdecker an einem Kirchturm. Schon war es fast ringsum Luft, was sie umgab. Nur vor und über ihnen starrte noch, wie in den Wolken schwebend, der Stein, der ihren Füßen Halt bot, der sie mit der Erdenwelt verband.

So mochte es Luftschiffern zumute sein, wenn sie die blöde Lehmkugel da unten verlassen und in das unendliche Weltall emporsteigen. Immer kleiner und winziger wird alles da unten. Zu grünen Bändern schrumpfen die Täler zusammen, zu schmutzigen Dunstflecken die Städte. Wie Maulwurfshügel ketten sich die Vorberge aneinander, und silbernen Bändchen gleich senken sich die unten so riesenhaften Gletscher in sie hinab. Nebelstreifen, weißlicher Dunst da und dort in der Tiefe, ein Dampfen wie von einem kochenden Kessel. Das sind die Wolken, die über dem Bergtal brauen, und die Armen darunter sitzen im Regenschauer und ahnen gar nicht, daß hier oben die Sonne in strahlendem Glanze die ragenden Eiszinnen versilbert und den Himmel in einem leuchtenden Blau verschwimmen läßt, das, klar und unergründlich zugleich wie die Ewigkeit, sich über dem ewigen Eise wölbt.

Hier ist das Reich des Todes! Kein Laut als ferner Lawinendonner und das Heulen des Windes, keine Bewegung als das Flimmern der Schneekristalle, die er über die blendenden Flächen hinstäubt, daß sie im Sonnenlicht als Myriaden glitzernder Punkte blinken. Hier gibt es kein Erwachen und kein Ersterben der Natur. Ob unten das Korn reift und die Rebe blüht, ob der Maiwind rauscht oder das bunte Laub zu Boden kreist, hier oben bleibt alles starr und weiß und tot, ob in seltenen Wochen die Sonne darüber lacht oder den Rest des Jahres durch regelloses Wolkentreiben der Sturmwind seine heulende Bahn zieht.

Und in dieses geheimnisvolle Reich drangen sie jetzt ein, in diese unbekannte Welt, die nur Auserwählten ihre Pforten öffnet! Elisabeths Herz zitterte. Wie sie da emporstieg, ein Hindernis nach dem andern überwindend, im stolzen Vollgefühl von Mut und Kraft und Gesundheit, da empfand sie, daß nur der den wahren Wert des Lebens kennt, dem das Leben selbst ein Einsatz im Spiel ist. Das, was man aus tausend Nöten und Gefahren glücklich gerettet, das hält man hoch, das schätzt man über seinen Wert und fühlt sich froh in seinem Besitz. Es lag etwas Wollüstiges in diesem jauchzenden Spiel mit dem Tode, in diesem Necken mit der Vernichtung, die wie ein drohendes Gespenst seit Stunden neben ihnen her schlich, und gegen die sich alles in ihr aufbäumte. Wir wollen leben! krampften sich die Muskeln zusammen. Wir wollen leben! zitterten die Nerven. Wir wollen leben! hämmerte das Blut durch ihre Adern – und wie eine mahnende, beruhigende Stimme antwortete in ihrem Innern das, was sie selbst war, ihr eigentliches, innerstes Wesen: Seid unbesorgt, ich führe euch vor die Augen des Todes, damit ihr wißt, daß ihr lebt, und wißt, was ihr am Leben habt!

Nun waren sie beinahe oben! Eine Firnkuppe, kaum größer als ein Häuschen, das war das letzte, leicht erreichte Ziel. Über der Kuppe schwamm die dünne Höhenluft; sie umfing sie rechts und links, sie spielte fast unter ihren Füßen. Elisabeth mußte sich an dem Felsen anklammern, um sicher zu sein, daß sie noch irgendwo einen Halt an der alten, festen Mutter Erde habe.

»Seien S' kein neugieriges Frauenzimmer und schauen S' nicht zuviel umher! Sonst werden S' zu guter Letzt noch schwindlig«, sagte der Baron, sich in einem winzigen Felswinkel niedersetzend, »da nehmen S' Platz und ruhen S' sich aus, daß Sie nicht erhitzt auf die Spitzen kommen!«

Der Platz war eng. Sie mußten sich dicht aneinanderpressen. Er legte unwillkürlich den Arm um sie, um sie zu halten. Ihr schwerer, rascher Atem schlug heiß ineinander, während sie mit großen leuchtenden Augen stumm und kühn hinaus in die uferlose Weite schauten.

»So muß einem Paar Turmfalken zumute sein«, meinte Elisabeth. »Wenn man an die Seelenwanderung glaubt, könnt' ich schon ein so wilder Vogel gewesen sein ... und Sie ... glaub' ich ... auch ...«

Er wandte rasch den Kopf zu ihr.

»Meinen Sie? ... Da paßten wir beide freilich zusammen?« Seine Stimme klang rauh und herb, daß sie erschrak. Aber nicht vor ihm ... mehr vor dem, was durch ihren eigenen Kopf ging. Sie sah wieder ihren Gatten vor sich, dort unten ... an der verhängnisvollen Stelle ... und neben ihr saß wie ein Herr und Gebieter, den das Schicksal ihr gesandt, der kühne, gütige, kraftstrotzende Mann. Sie fühlte den Druck seines starken Armes, der sie beschirmte und vor dem Sturz bewahrte, und in ihrem Ohr klang seine markige Stimme.

»Hier passen wir zueinander«, sagte sie schwer atmend, ohne ihn anzusehen; »hier gewiß ...«

Ein kurzes Schweigen. Sie fühlte, daß er leise, wie erschrocken, den Arm von ihr nahm und eine Bewegung machte, um seitwärts zu rücken. Aber das war nicht möglich. Hier war eine Trennung für sie der Tod ...

Und dann schauten sich beide ins Auge. Stumm, mit angstvoll forschender Neugierde sahen sie sich an, wie fremde, unheimliche Wesen, die auf unbegreifliche Weise in ihnen selbst mitlebten, die dasselbe dachten wie sie, dasselbe wünschten und empfanden wie sie, die nichts andres waren als sie selbst in der Verkleidung des andern Geschlechtes, ihr Spiegelbild, das ihnen rätselhaft und vertraut zugleich zulächelte ...

Sie schwiegen, denn sie wußten: in diesem Augenblick entschied sich ihr Schicksal.

Der Führer, der weiter oben an einem Felsen kauerte, mahnte zum Aufbruch. Sie stiegen die letzte Höhe empor.

Nun standen sie oben auf der kleinen Insel inmitten des schwach bewegten Luftmeeres. Und unter ihnen lagen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit.

Elisabeth faltete die Hände. Ein einziger Gedanke lebte in ihr, ein stummes Gebet: »Herrgott, ich danke dir, daß du mich das schauen ließest!«

In unermeßliche Weiten schweifte ihr Blick. Von den Reisfeldern der Lombardei bis zu den Rebenhängen Tirols, von den grünen Wellen des Genfer Sees bis zu dem Tannendunkel des Schwarzwaldes entrollte sich ihr die Erde. Wohl schwebte über diesen Niederungen ein schwerer Dunst. Wolken zogen darüber hin und ließen nur unbestimmt die Lage der Länder und der Seen erraten. Aber aus diesem rauchigen Untergrund hob es sich tausendtürmig, in leuchtenden Zacken empor. Ein Schneegipfel schob sich hinter den andern, eine Kette schloß sich der nächsten an. Was hier in dem alten Europa groß und gewaltig war, was über das Mittelmaß der Erde hinausragte, das reihte sich hier zu einem unermeßlichen Kreis von flimmernden Firnen, von wild aufstarrenden Felsspitzen, zwischen denen sich in blendendem Weiß die Schneefelder, in flammendem Farbenspiel die Gletscher über die rötlich-braunen Unterberge hinab in das Bereich der Nebel und der Wälder, hinab zu den Tälern der Menschen senkten.

Da standen sie, die Riesen des alten Erdteils, in starrer Majestät, sich über Firn und Wolken grüßend.

Dicht vor den einsam atmenden Wesen da oben bäumte sich die satanische Gestalt des Matterhorns in wütendem Trotz gegen den Himmel auf, und mit dem Ungeheuer strebten seine Nachbarn, das Rothorn und die weiß leuchtende fürchterliche Dent-Blanche, empor zum ewigen Blau.

Zur andern Seite krümmte das sanfte große Breithorn den geduldigen Rücken. In blendenden Zacken schimmerte drüben die lange Reihe der italienischen Seealpen. Und von ihnen weg zog der Blick in immer weitere Fernen. Dort, wo der unschöne Koloß des Domes sich wölbte, flimmerte es weit hinten in der klaren Eisluft von kühn ragenden Gipfeln und endlosem Schnee. Dort scharten sich die Giganten des Berner Oberlandes um ihre Königin, die »Jungfrau«, die im Strahlenglanz aus ihrer Mitte sich erhob. Um sie herum die riesigen Recken ... alles überragend als mächtigster Vasall das Finsteraarhorn, neben ihm des Groß-Schreckhorns ungefüge Gestalt und die Lauteraarhörner. Auf der andern Seite, im Eisglanz gleißend, die tückische Blümlisalp und, schauernd in ihren Schneepelz gehüllt, die Weiße Frau.

Hinter dem Matterhorn her stieg eine weiße Märchenwelt, ein ungeheurer Eiswall mit himmelstürmenden Zinnen, aus dem Gewühl der Hochwelt empor. Über Europa herrschend prangte da der Montblanc, und seine höchste Spitze, der Monarch, grüßte ins Oberland hinüber zur jungfräulichen Königin dieser erdentrückten Pracht. Gegenüber, dort im Osten, trotzten die Tiroler Berge den mächtigeren Schweizer Genossen. Die Ortlergruppe wölbte sich aus dem Getümmel der niederen Spitzen, der zackige Groß-Glockner stand in leuchtendem Glanz, und zwischen alledem schimmerten, wie der Widerschein des Himmels, tiefblau durch die Nebelfetzen die Fluten des Lago Maggiore.

Kein Laut ... keine Bewegung in der zahllosen Schar der Gipfel, die ihr beschneites Haupt zum Himmel aufheben.

Starr und fürchterlich wie die Ewigkeit stehen sie da, durch trüben Wolkendunst von der Welt da unten geschieden. Was kümmerte sie Erdenlust und Erdenleid? So haben sie gestanden, lange vor dem Ersten jenes Zwerggeschlechts, das ihnen jetzt seinen Fuß auf den Nacken setzt, so werden sie stehen, wenn der Letzte der Pygmäen in der Gletscherwüste verkommt, die einst von ihren Hängen herab langsam über den erkalteten Erdball kriechen wird. Auf Länder und Meere sehen sie hinab. Dort drüben liegt das Deutsche Reich, da ganz hinten Österreich. Hier ringsum die Schweiz und da nahe dabei Italien ... da Frankreich ... Aber die Berge blicken in starrer Verachtung auf das blühende Leben unten. Und aus ihrem Sturm spricht die Stimme der Ewigkeit: Seit Jahrtausenden schauen wir dem bunten Spiele zu. Die Völker kommen und gehen. Es ebben und fluten die Zeiten. Es drängen sich die Dinge. Nichts ist beständig, als der Tod. Nichts bleibend, als der Wechsel. Das wissen wir, die ewig Dauernden, die Leblosen ... Winzig und vergänglich ist alles, was ihr Menschen da unten treibt ... töricht euer Tun und Hoffen, ein Nebeldunst das alles, was euch da unten groß und gewaltig erscheint, und ihr selbst ein armseliges, im Tage vergehendes, im Tage verwehendes Geschlecht.

Unwillkürlich suchten die beiden einsamen Menschen da oben einander mit den Händen. Die verschränkten sie fest und blickten hinaus in die fürchterliche Pracht.

»Am liebsten möcht' ich niederknien und beten!« sagte Elisabeth endlich leise.

Der Freund nickte: »Da wölbt sich über Kirchen und Bergen der wahre Himmelsdom. Und wenn wir 'runtersteigen, wissen wir's: wir waren drin ... Und unsre Augen haben Gott geschaut!«


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