Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XV

... Tiefes Dunkel ... ein erstickendes, undurchdringliches, wie mit Händen zu greifendes Dunkel ... kein Laut ... keine Bewegung ... alles Sein ertränkt in einer ungeheuren, endlosen Nacht ...

War das der Tod? ... Er wußte nicht, wo er sich befand. Er erschrak nicht einmal bei dem Gedanken, daß er vielleicht hier im Sarge, tief in der Erde liege.

Aber er atmete doch. Und langsam kam ihm die Erinnerung, daß vor langer Zeit – er wußte nicht, waren es Stunden, Tage, Wochen – etwas mit ihm vorgegangen. Er war abgestürzt ... jawohl ... das war es ... von brüchigem Gestein in eine unbekannte Tiefe hinabgeglitten, die ihn jetzt noch umfangen hielt.

Er schöpfte wiederum rasch und tief Atem. Das ging ohne sonderliche Beschwerde. Es war kein Zweifel: er lebte! Der Fall hatte ihn nicht getötet. Sehr hoch konnte der also nicht gewesen sein.

Aber wie kam das? Er wußte doch, wie schroff die Felswand sich hier zum Tale senkte. Einerlei ... wenn er nur unverletzt war.

Vorsichtig bewegte er im Dunkeln die Arme. Die rechte Hand stieß an eine harte, kahle Fläche. Es mußte bereiftes Gestein sein. Und zugleich hörte er – den ersten Laut außer seinen schweren Atemzügen – ein leises Schlürfen über dem Boden. Er griff danach. Es war das abgerissene Ende eines um sein Handgelenk geschlungenen Lederriemens, das da im Schnee raschelte.

An diesem Lederriemen hatte er nach guter Bergsteigerart die Eisaxt befestigt getragen. Eine heftige Gewalt, ein starker Ruck mußte den zähen Streifen gesprengt haben. Und nun wurde es ihm klar: im Niedergleiten hatte sich der Pickel mit seinem scharfen Doppelzahn irgendwo in den Zacken und Rissen des Gesteins verbissen. Wie ein Anker hielt er den Sturz auf. Wohl riß das Lederband, das ihn mit dem leblosen Körper verbunden hielt, doch dieser war in seinem Fall gehemmt, eine ebene Fläche, die das Glück gerade hier aus der schroffen Wand hervorspringen ließ, fing ihn auf. Die Fläche war mit Schnee bedeckt. Er hörte sein Knirschen unter sich und empfand seine Nässe. Aber wie groß sie war, wohin sie verlief, darauf blieb ihm das Dunkel die Antwort schuldig.

Er streckte den linken, dann den rechten Fuß aus. Sie waren schmerzlos und unverletzt. Wohl aber fuhr das linke Bein, als er es etwas zur Seite rückte, in die freie Luft hinaus. Er mußte also dicht am Rand des Abgrunds auf einer schmalen Platte liegen.

Bei dieser Erkenntnis richtete er sich jählings in die Höhe, und jetzt erst merkte er, wie schwer sein Kopf war. Eine unerträgliche, schmerzhafte Last wuchtete da auf der einen Seite. Es war, als habe ihm jemand eine Bleikappe schräg über die Haare gestülpt und Blei über die rechte Schläfe und Wange bis zum Bart hinabgegossen.

Unter dieser starren seltsamen Decke aber rieselte es jetzt, als er sich aufsetzte, lauwarm und ganz angenehm in dünnen Strähnen über sein Gesicht. Er riß sich den Handschuh ab und griff danach. Es war etwas Feuchtes, etwas Klebriges ... natürlich ... es war Blut ...

Blut, das geronnen und in der Kälte gefroren als drückende Last seinen Kopf umspannt hielt ... Blut, das jetzt, bei seiner plötzlichen Bewegung, unter dieser Kruste hin frisch und warm hervorquoll.

Er faßte in den Schnee, preßte ein paar handgroße Brocken davon auf die rieselnden Stellen und legte sich wieder lang hin. In kurzem hörte die Blutung auf.

Er war also am Kopf verletzt. Kein Wunder ... nach solchem Sturz.

Auf dem Rücken liegend sah er mit offenen Augen in das unendliche Dunkel hinauf. Wie hoch mochte er von da herabgestürzt sein? Wenn der Tag graute, konnte man es wohl erkennen. Aber würde er das noch erleben?

Vielleicht doch. Die Luft war jetzt kühl, aber weich. Der Schneefall hatte, wie gewöhnlich, ihre strenge Kälte gedämpft, und vom Sturm hörte man nichts mehr als zuweilen ein vereinzeltes Stöhnen hoch oben aus der Finsternis her. Erfrieren würde er also nicht. Und seine Wunde war kaum tödlich. Wenn er Kraft genug behielt, sich bei Tagesanbruch weiterzuschleppen, wenn die Führer ihn suchten und glücklich fanden, dann mochte er doch noch einmal sich der goldenen Sonne freuen.

Und dann? Ein Schrecken zog plötzlich dem Einsamen das Herz zusammen. Sie harrte ja morgen auf ihn! Vielleicht hatte sie eben jetzt ihrem Manne gesagt, wie es zwischen ihnen beiden stand.

War das geschehen, dann mochte ihn der arme, gutmütige Mensch jetzt wohl aus allen Kräften seiner schwachen Seele hassen, wie man ein Raubtier haßt, das, alles verwüstend, in eine friedliche Hürde einbricht. Er verlor seine Frau, sein Heim, sein Glück und Zutrauen zu den Menschen ... alles ... alles durch ihn!

Wenn der Arme wüßte, wie es mit seinem grimmigen Gegner jetzt aussah ... wie der hilflos in einsamer Nacht auf weltenferner Schneeklippe mit dem Tode rang ... nein ... Mitleid konnte er ihm doch nicht zollen!

Aber auch nicht von dem andern erwarten! Der hatte das alles ja schon selbst durchgemacht, der tat nichts andres, als all das Leid und den Schmerz weitergeben, den man ihm selbst zuvor zugefügt.

Da regte es sich in der schweigenden Nacht. Ein Poltern kam von oben ... ein sprungweites Kollern ... auf zwanzig ... dreißig Schritt Entfernung fuhr es wie ein Sausen herab, ein harter Anprall ... ein paar Feuerfunken sprühten durch das Dunkel ... dann verlor sich der Lärm in der Ferne.

Der Steinfall! Seine Fäuste krampften sich zusammen. Ließ der Tod denn noch nicht von ihm ab?

Nein, da donnerte es wieder, weit in der Ferne. Das mußte ein mächtiger Block sein. Er stürzte wohl in unergründliche Tiefen. Man hörte ihn nirgends mehr aufschlagen.

So konnte es noch nicht spät in der Nacht sein! Um Mitternacht herum – das wußte er – hörte der Steinschlag völlig auf, wenn beim Sinken der Luftwärme die Felsen fest in ihren Eis- und Schneebetten einfrieren.

Aber wie lange war es noch bis dahin? Und inzwischen lag er hier auf schmalem Frostbette, des Todes gewärtig, der jeden Augenblick unsichtbar durch das Dunkel auf ihn niederschießen konnte.

Wäre nur ein schwacher Lichtstrahl da ... nur ein Augenblick Erlösung von dem entsetzlichen Dunkel, daß man den drohenden Feind wenigstens sehen könnte. Umsonst! Seine Zündhölzer waren ihm im Sturz mit allem andern aus der Tasche geglitten. Und oben am Himmel spähte sein Auge vergebens nach Mond und Sternen. Auch sie waren verschluckt und verschwunden in der dichten, zu rabenschwarzen Wolken sich ballenden Nacht.

Am besten ... man dachte nicht an die Gefahr.

Wenn er ihr entging ... wenn er am Leben blieb ... ja, helfen konnte er jenem andern nicht. Der mochte sehen, wie er damit fertig wurde. Er selbst hatte das ja einst auch tun müssen! Freilich ... er war stark, und jener dort war schwach! Er trug den Schlag wie ein Mann. Jener würde darunter zusammenbrechen.

Aber wieder regte sich in ihm in Not und Tod der Trotz, das grimmige kampfbereite Kraftgefühl: Wenn jener schwach ist – wohl, das ist sein Unglück! Wir sind nicht dazu da, die Schwachen zu erhalten! Mögen sie untergehen! Das ist der Lauf der Welt!»

Durch das Dunkel fuhr es heulend und pfeifend wie ein Wetterschlag nieder. Dicht neben seinem entsetzt auffahrenden Haupte krachte es wie Donner von dem schmetternden Aufprall des Steinblocks, der in jähem Satze weiter in die Nacht hinuntersprang. Kleine Felssplitter klirrten von den Wänden ab, und die Luft, die er schwer atmend einzog, füllte sich mit qualmigem, zwischen den Zähnen knirschendem Staub.

Unwillkürlich griff seine Hand nach der jetzt schneefreien Stelle, wo zwei Zoll von seinem Ohr die Vernichtung einen Augenblick gerastet. Kalter Schweiß trat auf seine Stirne. Er fühlte sich wehrlos in der Hand des allmächtigen Geschicks.

Das spielte mit den Schwachen, wie mit denen, die sich stark dünkten!

Aufs neue überrieselte ihn das Blut, sein Bewußtsein begann zu dämmern. Und in das Wandern und Verblassen seiner Gedanken klang es wie eine leise Mahnung: Laß du dem Schicksal seinen Gang. Greife nicht in sein Walten ein! Dein Schicksal ist das blonde junge Weib da unten. Was die in heißen Kämpfen und Tränen bei sich beschließt und vor sich und ihrem Gewissen verantworten will, das allein sei der Urteilsspruch über deine Zukunft. Den nimm du schweigend ohne Drängen und Widerrede hin ...

Das war der letzte Steinschlag gewesen. In kälterem Hauch umwehte die Luft den leblosen Körper, und hoch oben am Himmel verkündeten im Rinnen der Stunden ferne, durchsichtig glühende Feuerflecken das Nahen der Sonne.


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