Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XVI

Ein endloser, eintöniger Regentag lag hinter ihr. Um das Hotel hatte der Sturm geheult und klatschende Güsse an die Fenster geschleudert. Man hatte gegähnt und dann dem Ruf der Luncheonglocke Folge geleistet. Man hatte wieder gegähnt und in einem halbaufgeschnittenen Roman geblättert, man hatte abermals den Speiseraum zum Mittagsmahl aufgesucht und den Abend fröstelnd in dem engen Zimmer verbracht.

Ein toter Tag, ein graues Nichts im Leben. Ihr war es, als sei sie vom Morgen bis zum Abend ganz allein mit sich und ihren Gedanken gewesen. Und doch hatte während des ganzen Tages ihr Gatte sie nur einmal auf eine halbe Stunde allein gelassen. Das war wegen einer Depesche, die er – seltsamerweise postlagernd – erwartete. Es fiel ihr noch auf, wie wunderlich prüfend und ernst er sie ansah, während er Hut und Mantel nahm, um auf das Postamt gegenüber zu gehen.

Auch gesprochen hatten sie miteinander. Viel sogar. Aber sie wußte nicht mehr was. Es war ja auch gleichgültig. Fremde Worte zwischen fremden Menschen. Sie hatte den ganzen langen Tag nichts von dem zu reden vermocht, was auf ihr lastete – und wenn doch der Gedanke in ihr aufstieg, dann genügte ein Blick auf sein trauriges, blasses Gesicht, um ihn zu verscheuchen.

Nein – sie wollte abwarten. Morgen, wenn sie noch einmal den Freund getroffen und sich und ihn geprüft, dann würde es vielleicht klarer in ihr, und sie fand den Ausweg aus allen Zweifeln.

Ein Schrecken erfaßte sie doch immer wieder bei dem Gedanken, daß das alles nun so ganz anders werden sollte. Daß alles um sie her zusammenstürzen würde wie ein morsches Gebäude und etwas Neues daraus entstehen ... etwas Unbekanntes, das sie sich gar nicht recht vorzustellen vermochte.

Freilich ... das alles mußte ja nicht sein ... Sie konnte ruhig zwischen den engen, altgewohnten Mauern bleiben, wenn sie die Kraft dazu fand. Das stand bei ihr. Aber dieser letzte lange Regentag hatte sie wieder gelehrt, wie es dann um sie ausschauen werde ... ein endloses, einförmiges Grau, in dem sie sich in einsamem Sehnen verzehrte ...

Nun war der Morgen da.

Sie war früh aufgestanden und schritt die Treppen hinab, um draußen frische Luft zu schöpfen.

Der Regen hatte aufgehört. Auf der Dorfgasse vor dem Hotel standen einzelne Gruppen von Gästen und Führern. Sie schienen sich lebhaft zu besprechen, und ab und zu deutete einer von ihnen mit der Hand nach rechts in die Höhe, da, wo hinter den sich mählich verziehenden Wolken das Matterhorn stand.

Ob es freilich an diesem Tage noch herauskommen würde, das war fraglich. Immer noch zog von der italienischen Grenze über den Theodoulepaß herüber der schwüle bedrückende Südwind, und das Barometer blieb hartnäckig auf Sturm und Gewitter stehen.

Unter der Veranda des Hotels stritten ein paar Hochtouristen mit ernsten Gesichtern und gedämpfter Stimme über eine Nachricht, die ihnen ein erwartungsvoll danebenstehender Hotelbediensteter offenbar eben gebracht hatte.

»Wann's weiter nix ist!« meinte der böhmische Graf und blinzelte durch sein Monokel zum Matterhorn empor, »die sind halt die Nacht irgendwo in den Felsen geblieben ...«

»Sie haben doch bestimmt erklärt, daß sie zum Abend im Schwarzsee-Hotel zurück sein wollten« – der vierschrötige Hamburger Staatsanwalt sah sehr besorgt aus – »und nun telephoniert man eben von dort ...«

Ein junger Wiener Berggänger nickte. »Zu dumm is's! bei so 'nem Wetter! ... mit dem Matterhorn spielt man doch nicht ...«

Vom Hotel Monte-Rosa, wo die englischen Klubbisten sich, ihre Stummelpfeifen rauchend und gähnend, umhertrieben, stieg ein alter hagerer Brite in Wollbluse und Kniehosen steifbeinig die Straße entlang, um im Namen seiner Genossen Erkundigungen einzuziehen.

»Servus, Sir William ...« – der Graf schüttelte ihm bekümmert die Hand – »nix wissen wir! ... 's könnt' leicht sein, daß morgen zwei mehr auf der Totenlist' stehen ...«

Er wußte nicht, daß die schlanke junge Frau, die hinter ihm stand, jedes seiner Worte bebend verschlang. Jetzt trat sie rasch näher.

»Verzeihen Sie, mein Herr ...« Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Aber ihre Stimme war zitternd vor Angst. »Sie meinen, daß ein Unglück vorgefallen ist ...«

Der böhmische Kavalier und der schottische Lord lüfteten höflich ihre Mützen, »'s kann sein, gnä' Frau«, sprach der erste, »wer's so dreist mit dem Matterhorn aufnimmt ...«

»Aber wer denn um Gottes willen ... wer ... ?«

»Zwei führerlose Herren! Der Baron Gündlingen und der kleine ...«

Der junge Mann hielt inne und machte eine Bewegung, wie um der erbleichenden jungen Dame beizuspringen. Er fürchtete, sie würde ohnmächtig werden, und jetzt erst fiel es ihm ein, daß sie ja erst vorgestern mit dem Vermißten von einer großen Tour zurückgekommen war.

Also offenbar ein Freund oder Verwandter! Er räusperte sich.

»Verzagen S' net, gnä' Frau! ... da is noch nix verloren ...«

Sie starrte ihn an.

»Ja ... sucht ihn denn niemand?« fragte sie rauh, »kommt ihnen denn niemand zu Hilfe?«

»Ja freilich ... wenn man erst weiß, daß was passiert is, dann werden die Führer alarmiert und gehen aus. Aber 's is noch zu früh. Wahrscheinlich haben die beiden die Nacht in irgendeinem Felsschlupf zugebracht und sind am Morgen abgestiegen. Dann können s' jetzt noch net am Schwarzsee sein ...«

»Ich danke Ihnen!« Sie wandte sich ab und schritt wie im Traume die Dorfgasse hinab. Sie konnte den Gedanken nicht fassen. Er sollte ihr genommen werden ... er ... in diesem Augenblick ... nein ... das war so unwahrscheinlich grausam, so lächerlich grausam ... nein ... das konnte nicht sein ...

Neben ihr grüßte jemand. Sie erkannte die beiden Führerbrüder, die sie auf ihrer Tour nach dem Hochgipfel begleitet. Die Mützen in der Hand, standen die beiden jungen Männer mit servilem Lächeln da, offenbar auf eine neue gewinnreiche Expedition bauend.

»Wollen Sie Geld verdienen?« fragte sie schnell, »viel Geld? Ja? ... Da nehmen Sie sofort Ihre Seile und Äxte und was Sie sonst brauchen und gehen hinauf zum Matterhorn ... da ... wo gestern die beiden Herren aufgestiegen sind ... wissen Sie das?«

Die beiden Kerle nickten etwas ärgerlich. Solche führerlosen Touren, die ihnen keine Einnahme und den Bergen einen bösen Ruf brachten, waren ihnen zuwider.

»Da gehen Sie also hinauf und schauen Sie, was aus den Herren geworden ist. Ich zahl' Ihnen, was Sie wollen ... aber machen Sie nur rasch ...«

Die beiden tauschten einen verständnisvollen Blick, nickten wieder und liefen im Trab, mit den schweren Nägelschuhen über das Pflaster klappernd, nach ihrer Wohnung. Fünf Minuten später wanderten sie im Dauerschritt, von den neugierigen Zurufen der Genossen begleitet, zum Dorf hinaus.

Elisabeth kehrte zu ihrem Manne zurück.

Er saß am Frühstückstisch und schaute sie fragend an.

»Du bist ja furchtbar blaß!« sagte er langsam, »und wo warst du denn? Ist etwas passiert?«

»Ja. Der Baron Gündlingen wird vermißt ... seit gestern ... am Matterhorn ...« Sie wunderte sich selbst, daß sie das so ruhig aussprechen konnte. Herr von Randa stand auf und stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. »Wer sagt's denn?«

»Alle Leute sagen es unten, daß er in Gefahr ist!« Sie trat näher an ihren Mann heran, wie um ein Wort des Trostes aus seinem Munde zu vernehmen. Aber das kam nicht. Er schaute sie mit immer finsterer werdendem Gesicht an. »Das scheint dich ja sehr zu erschüttern, Elisabeth«, murmelte er endlich.

Sie antwortete nichts.

»Nun freilich«, fuhr er fort, »er ist ja unser Bekannter, wenn auch erst seit ein paar Tagen. Aber sonst bist du doch nicht so leicht erregt, Elisabeth ... oder zeigst es wenigstens nicht ... ich kann mich gar nicht erinnern, daß du bei irgendeinem Unglücksfall deine Ruhe verloren hättest! Während jetzt ... weiß Gott ... du zitterst ja am ganzen Leibe ...«

Sie schwieg.

Wenn er selbst Verdacht schöpfte ... lügen konnte sie nicht. Gegen Betrug und Heuchelei empörte sich ihr Stolz. Mochte er erraten, was sie nicht mehr zu verheimlichen imstande war.

»Elisabeth«, er trat bittend vor sie – »wirst du mir keine Antwort geben?«

Sie blickte auf. »Was soll ich sagen? Du siehst es ja. Er ist in Gefahr, und ich ängstige mich um ihn ...«

»Nun ja ... aber mehr, als es bei ... bei einem Fremden nötig ist ...«

»Mir ist er nicht fremd!« Fast wider ihren Willen klang das Wort aus ihrem Munde: »Mir steht er näher als sonst wer auf der Welt ... !«

Gott sei Dank ... jetzt war es ausgesprochen! Eine Weile ward es still zwischen ihnen. Dann holte ihr Gatte tief Atem. »Sag' mal ... Elisabeth«, fragte er leise, und seine Lippen zuckten, »weißt du denn auch, was das heißt, wenn eine Frau ihrem Manne sagt, daß ihr ein Dritter nähersteht als er selbst?«

»Ja, das weiß ich!«

»Und doch sagst du es mir?«

»Ich muß es dir sagen!«

Ihre Stimme klang hart und fest. Er trat langsam, mit schlürfenden Schritten von ihr hinweg. Seine schmächtige Gestalt bebte, wie unter einem schweren Schlag. Sie hörte seine halb erstickten Atemzüge. So ging er bis zur Tür ins Nebenzimmer.

Sie wollte ihm folgen. Aber er wehrte ihr ab. »Du hast mir alles gesagt, Elisabeth«, stieß er mühsam hervor, »jetzt ist's besser, wir bleiben allein ... die nächsten Stunden ... jeder für sich ... und sagen uns weiter nichts mehr ...«

Die Tür fiel ins Schloß und trennte die beiden.

Hinter der dünnen Bretterwand klang es zu Elisabeth, die reglos am Fenster stand und auf die Straße starrte, zuweilen wie ein leises, verzweifeltes Weinen heraus. Aber so schlecht und grausam sie sich dabei auch selbst erschien, in diesem Augenblick empfand sie kein Mitleid mit dem Schwächling da drinnen. Sie konnte es nicht. Alle ihre Gedanken, ihr ganzes Sein strebte hinaus in die Ferne, zu den nebelverhangenen Klüften empor, in denen jetzt vielleicht ihr Glück und Schicksal begraben lag.

Stunde auf Stunde verstrich. Sie rührte sich nicht. Sie wagte nicht, zu hoffen und zu beten ... sie war wie erstarrt in regloser, alle Nerven und Fibern zusammenkrampfender Erwartung.

Durch Zermatt schlich unterdessen in verstörtem Flüstern das Gerücht von einem neuen Unfall am Matterhorn! Es drang in die Drawing-Rooms der Gasthäuser, wo die fetten alten Damen saßen und häkelten, es schwirrte durch die Gruppen der müßig umherstehenden Touristen und erfüllte in dem rauhen Kauderwelsch der Führer die Luft. Am Bahnhof empfing es die ankommenden Fremden, es wanderte mit Maultiertreibern und Trägern hinauf zu den Berghotels und würzte das Lunchgespräch, aus dem zehnmal häufiger noch als sonst das Wort »Matterhorn« erklang.

Und dann schien das Gerücht sich zu verdichten und feste, greifbare Gestalt zu gewinnen. Einzelne Alpinisten eilten durch die Straßen, riefen andre aus den Hotels heraus und pilgerten mit ihnen nach dem andern Ende des Dorfes, die Führer rannten hin und her, eilten in ihre Häuser und die Herbergen und kamen. Seile um den Leib geschlungen, mit Schneebrillen, Fernrohr, Proviant und Kognak ausgerüstet, wieder heraus. Erst vereinzelt, dann in Gruppen, endlich zu Dutzenden sammelten sich auf der Gasse die braun gekleideten Gesellen. Spitze Adlerfedern und Gemsbärte nickten von den Hüten, die Eisäxte blinkten, gedämpftes Stimmengewirr, das leidenschaftslose Murmeln erfahrener, sich ruhig beratender Männer drang zu den Hotelfenstern hinauf.

Mit wachsendem Entsetzen hatte Elisabeth von da oben all diese Vorbereitungen geschaut. Sie fühlte sich wie gelähmt. Sie fand nicht die Kraft, hinunterzugehen und das zu erfahren, was die Männer offenbar schon wußten. Endlich riß sie sich vom Fenster los. Halb ohne zu wissen, was sie tat, griff sie nach Mantel, Hut und Bergstock und stand plötzlich in dem Haufen der Führer.

»Das ist sie!« raunte einer von denen dem Patriarchen der Expedition, einem weißbärtigen, verwetterten Italiener, zu. Der nahm den Hut in die Hand.

»Madame haben heute morgen die Brüder Wegener ausgeschickt? Wohl! Wir haben Nachricht vom Schwarzsee. Sie haben den einen Herrn, den Kleinen, tot auf dem Schnee ob dem Furggletscher liegen sehen ...«

»Und der andre?«

»Wir wissen nicht, ob er lebt oder auch fortgegangen ist! Wir steigen jetzt, dreißig Führer, auf. Madame kann sicher sein, daß wir ihn finden! Wie ... das wissen wir nicht ...«

Mit schwerem Poltern und Scharren setzte sich der Führertrupp schweigend in Bewegung. Da und dort kam aus einem Hause noch einer dazu, andre gingen voraus.

Eine Menge neugierigen Volkes, Touristen, Kellner, Ladeninhaber, zogen stumm und verstört daneben her und gaben den Männern bis zum Ende des Dorfes das Geleit. Dort verliefen sie sich allmählich.

Nur die nächsten Freunde und Genossen des Verunglückten, ein halbes Dutzend erprobter Gletschermänner, stiegen mit den Führern weiter zum Schwarzsee empor.

Unter ihnen Elisabeth. Sie dachte an nichts, sie überlegte nichts, ein blinder Drang, an die Stätte des Unglücks und zur völligen Gewißheit zu gelangen, trieb sie vorwärts. Die Herren wie die Führer ließen sie gewähren. Man kannte sie ja von neulich her als gute Bergsteigerin und hatte sie in Gesellschaft des Vermißten gesehen.

So ging es empor zum Schwarzsee, ein trüber, stiller Zug, der sich langsam, wie eine braune Riesenschlange, im Zickzack durch die lauwarmen Nebel den Berg hinauf wand.


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