Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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II

Es war schon beinahe dunkel, als sie die knarrende Tür der Klubhütte öffneten.

Drinnen brannte Licht. Eine im Luftzug flackernde Kerze warf ihren Zitterschein über die ärmliche Umgebung. Das mächtige Strohlager, das, unten durch eine Holzdiele abgeschlossen und oben mit einem halben Dutzend zusammengerollter Pferdedecken geschmückt, wohl drei Viertel des Raumes einnahm, den grob gezimmerten Tisch und die Holzstühle, den kleinen behaglich glühenden Kanonenofen und den Schrank, in dem sich das Reserveseil, eine Laterne, der Medizinkasten und allerhand Küchengerät befand.

»Schönen guten Abend!« sagte Elisabeth mit heller Stimme im Eintreten, »da kommen späte Gäste!«

Eine breitschultrige, kraftvolle Gestalt erhob sich von dem Tische.

»Guten Abend, mein gnädiges Fräulein ...« erwiderte der Fremde rauh, in leicht süddeutsch gefärbtem Dialekt, aber mit der Verbeugung eines Weltmannes. Dann reichte er dem alten Zum Brunnen die Hand und fuhr ihn barsch an: »Jetzt ... was is denn das wieder für ein Unsinn?«

Der Alte sah ihn fragend an.

»Mit der ungeübten Dame da die Krähenwand hinunterzuklettern! ... Meint Ihr, ich hab' kein Perspektiv bei mir?«

Ein ganz gutes Gewissen schien der alte Christen nicht zu haben. Er nestelte an seinem Sack und brummte vor sich hin: »Die Dame geht schon guet über die Berge!«

»Das hab' ich gesehen ... !« erwiderte der finstere Herr, »deswegen ist's und bleibt's doch ein Unsinn ...«

Elisabeth sah ihn neugierig an. Ein Mann zwischen fünfunddreißig und vierzig, trug er das englische Montanistenkostüm, wollenen Gürtelrock, wollene Kniehosen und hohe Gletscherstrümpfe, in denen das Spiel der strotzenden Muskeln sich deutlich abzeichnete. Er mußte eine ungeheure Körperstärke besitzen.

Aber schön war er wirklich nicht zu nennen. Ein energisches rauhbärtiges Gesicht, in dem etwas von finsterem Trotze lag, eine mächtige gefurchte Stirne und darunter ein Paar großer grauer Augen, die jetzt durch den goldgefaßten Zwicker durchdringend blitzten und dann wieder, als er das Glas abnahm, einen seltsam müden Ausdruck gewannen.

Der alte Christen stieß sie an und reichte ihr aus dem Tornister das buntseidene Reservehemd und ein Paar Wollstrümpfe nebst dünnen Hausschuhen.

Natürlich genierte sie sich, derlei in Gegenwart des fremden Herrn in Empfang zu nehmen. Aber der war schon an der Tür.

»Lassen Sie sich Zeit zur Toilette, meine Gnädigste«, sagte er, »dem Christen und mir schadet die Abendluft nichts ... Nur ... um der Form zu genügen« – er machte nochmals eine kurze, unwirsche Verbeugung – »mein Name ist Doktor Freiherr von Gündlingen ...« Damit ging er mit dem Führer hinaus.

Vor der Hütte lehnten sie sich im Dämmerlicht an einen Felsen, zündeten sich, der eine eine Zigarre, der andre seine Pfeife an und schauten tiefsinnig hinab in das Nebelbrauen des Gletschers.

Lange sprach keiner ein Wort.

Endlich sagte der Herr mißmutig mit einem Blick nach rückwärts: »Wer ist's denn?«

Der alte Christen schwieg darauf längere Zeit und sog eifrig an der Stummelpfeife, die er zwischen den eingefallenen Kiefern hin und her drehte. Und als er sich endlich zu reden entschloß, sagte er nur stumpfsinnig: »Ja ... die is schon guet!« Denn mehr wußte er auch von seiner Dame nicht. Die zog sich inzwischen um. Ihr Herz klopfte, wenn sie durch den rohen, spärlich beleuchteten Raum sah.

War das alles denn wirklich kein Traum? Befand sie sich wirklich zur Nachtzeit in einer Schnee- und Eiswüste des Hochgebirges, stundenweit von jeder menschlichen Wohnung entfernt?

Es war kein Zweifel. Draußen auf den Schneefeldern hoch oben hörte sie das Stöhnen des Windes und vor der Tür die schweren Tritte der beiden Männer, die, um sich vor der Kälte zu schützen, langsam auf und ab gingen. Sie beeilte sich, fertig zu werden. Viel war ja auch nicht zu machen. Sie mußte lachen, wenn sie daran dachte, daß sie jetzt um diese Zeit unten in Grindelwald hätte mit Hilfe ihrer Kammerjungfer in die Table-d'hote-Toilette schlüpfen müssen. Während hier ... ja ... an der einfachen Wollbluse, dem kurzen Knierock und den darunter sich bauschenden Pantalons, den hirschledernen Gamaschen und niedrigen Schuhen war beim besten Willen nicht viel zu ändern und zu verschönern.

Das Brenneisen, das sie schon an der Kerze warm gemacht hatte, ließ sie unschlüssig wieder sinken. Schließlich lohnte sich das kaum! Ein besonderer Verehrer des weiblichen Geschlechts schien ihr Hüttengenosse ja nicht zu sein. Wenigstens hatte sie alles andre als gerade Vergnügen über ihre Ankunft in seinen Zügen lesen können.

Und dann wollte sie die draußen auch nicht zu lange warten lassen. Es war so still, so totenstill draußen. Wenn die beiden nun davongingen ... sie allein in dieser schrecklichen Einsamkeit zurückließen ... Eine unbestimmte Angst erfaßte sie. Sie rannte zur Tür und riß sie weit auf.

»Sind Sie noch da?« rief sie mit schwankender Stimme in das Dunkel.

Gleich darauf traten die Männer ein. Der alte Christen hockte am Boden nieder und begann, die mitgeführten Eßwaren und die Blechflaschen mit dem Wein auszupacken. Der Fremde aber setzte sich neben den Ofen, auf dem ein Topf mit Schneewasser summte, rauchte seine Zigarre, zu der er mit schweigender Frage ihre Genehmigung eingeholt, und sah gedankenvoll vor sich hin.

Ihre herbe, blonde Schönheit schien für ihn nicht zu existieren. Kaum, daß zuweilen ein Blick flüchtig und gleichgültig über sie hinglitt.

Nach einer Viertelstunde stand der Herr plötzlich auf, holte einen grauen länglichen Gegenstand aus der Tasche und zerbröckelte ihn in Krumen, die er in das brodelnde Wasser warf.

Alsdann verbreitete sich der Geruch von Erbssuppe im Zimmer.

Elisabeth sah sehnsüchtig auf. Sie hatte Hunger und erwog, ob sie nicht den finsteren Hochgebirgswanderer um ein bißchen von seiner Suppe bitten sollte, da trat dieser schon mit zwei gefüllten Tellern an den Tisch und schob ihr, sich setzend, den einen höflich zu.

»Ist das für mich?« sagte sie kühl.

Er nickte: »Das ist besser, als was Ihnen der alte Christen zusammenkocht. Und Hunger werden Sie schon haben!«

Das war richtig. Sie nahm dankend von dem Brot, das er ihr reichte, und begann eifrig zu löffeln, ja, sie duldete es, daß er zum Ofen ging und ihren Teller zum zweitenmal füllte.

Dann brachte der alte Christen das Poulet, das Hauptstück ihrer Marschprovision. Sie bot ihrem Tischgenossen davon an. Aber der dankte stumm und begnügte sich mit einem Stück Käse, das er aus dem Rucksack holte.

Dabei warf er einen Blick auf das Glas, das sie sich eben aus der Blechkapsel mit Wein füllte. »Das taugt schon gar nichts!« sprach er, »Rotwein in den Bergen ... he ... Christen ... warum hat man euch denn im Hotel keinen ordentlichen Weißen mitgegeben ... ?«

»Wir haben schon!« knurrte der Alte und zog eine zweite große Blechflasche hervor.

Sie ließ sich eingießen und sah dabei ihr Gegenüber halb ärgerlich, halb belustigt an. »Sie scheinen recht an das Befehlen gewöhnt!« meinte sie spitz.

Der zuckte die breiten Schultern. »... Wenn man so viel Unerfahrenheit sieht! ... aber auf meinen Gütern muckst mir keiner ... das ist schon richtig ... dafür bin ich der Herr ...«

»Wo liegen denn Ihre Güter?«

»Droben am Main«, sagte er kurz, und beide verstummten wieder. Während sie schweigend ihre Mahlzeit verzehrten, warf Elisabeth einen prüfenden Blick auf seine Hand. Da war kein Goldreif zu sehen. Er mußte also ledig sein.

Er verstand ihren Blick falsch. »Von dem Käs bekommen Sie nichts!« sprach er und wickelte das übriggebliebene Stück in Papier, »das ist nichts für so 'nen zarten Magen. Und der Magen ist immer das erste, was im Hochgebirg rebelliert.« Der alte Christen hatte indessen abgeräumt und stand jetzt mißmutig neben seiner Herrin, um etwaige weitere Befehle in Empfang zu nehmen. Das war seine Führerpflicht. Aber sehr behaglich schien dem alten grämlichen Gesellen der Gedanke nicht zu sein, hier den Kammerdiener einer jungen Dame zu spielen.

Sie sah ihn an und lachte. »Legen Sie sich nur schlafen. Ich brauche nichts mehr.«

Das ließ sich Zum Brunnen nicht zweimal sagen, sondern kroch unverzüglich hinauf in das knisternde Stroh und rollte sich dort in der Ecke zu einem undefinierbaren Knäuel zusammen.

Nun saßen sich die beiden allein am Tisch gegenüber. Zwischen ihnen flackerte die Kerze in dem Windhauch, der durch die Mauerritzen drang. Man hörte nichts als draußen das eintönige, jetzt nach dem Scheiden der Tageswärme mehr und mehr versiegende Plätschern der Wasser und aus der Ecke das Schnarchen des Alten.

Elisabeth mußte lachen, als sie hinschaute. Er hatte sich ein feuerrotes Wolltuch um den Kopf gewickelt, das sich grell von dem Lederbraun des verschrumpften, bartlosen Gesichtes abhob. »Jetzt sieht er doch genau wie ein altes Weib aus!« sagte sie nachdenklich zu ihrem Gefährten.

Der bejahte durch eine schweigende Kopfneigung die Tatsache, und wieder saßen sie stumm beisammen. Sie sah auf die Uhr. Es war erst halb acht. Das konnte ein schöner Abend werden ...

Da plötzlich schaute der andre auf. »Jetzt sagen S' mir nur«, sprach er, »was haben Sie da oben zu suchen?«

Sie warf mit rascher Bewegung den Kopf zurück. Es sprühte aus ihren großen blauen Augen.

»Was ich hier suche?« rief sie, »die Freiheit suche ich! Ich will einmal ich selbst sein!«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu hoch!«

»Also passen Sie auf!« sagte sie, sich über den Tisch vorbeugend und ihm ins Gesicht schauend, »ich will es Ihnen erklären: Diesen Winter hab' ich einmal ein Stück gesehen ... von Ibsen ... da breitet die Heldin plötzlich die Arme aus und schreit: ›Ich möchte nur einmal in meinem Leben Himmeldonnerwetter sagen dürfen!‹ Sehen Sie, das ist's! Ich will auch einmal Himmeldonnerwetter sagen ... Es gibt Stunden, wo einem das alles in den Tod zuwider wird ... dies ewige Maßhalten und alles nur halb tun und genießen, wozu wir armen wohlerzogenen Frauenzimmer verdammt sind ... Auf der Straße dürfen wir nur kleine, trippelnde Schritte machen, bei Tisch nur kleine Schlucke trinken, im Salon nur halblaut schwatzen und lachen ... alles Ganze und Große ist uns verboten. ›Das ist unweiblich‹ ... heißt es ... Herrgott ja ... und wir sind doch auch Menschen! ... ich wenigstens bin ein kerngesunder Mensch, so gut wie ein Mann! ... Warum soll ich mich denn nun so geben, als ob mir jedes rauhe Lüftchen und jedes rauhe Wort den Tod bringen würde! ... Ich will auch einmal etwas erleben! Und darum bin ich bei günstiger Gelegenheit entwischt und hier in die Berge gegangen ...«

Sie hatte sich in Eifer gesprochen. Eine feine Röte bedeckte ihre Wangen, und ihre Augen glänzten.

Ihr Gegenüber sah sie an, mit einem gutmütig spöttischen Lächeln.

»Und was ist jetzt?« sagte er, »jetzt haben Sie doch nur den einen Wunsch: Ach, wäre die schreckliche Nacht schon vorbei und ich wieder unten in meinem Hotel!«

Sie schüttelte ernst das Haupt. »Nein, wirklich nicht! ... Ich habe Großes erlebt an dem heutigen Tag. Er kommt mir wie eine Ewigkeit vor, und mir selbst ist, als wäre ich ein ganz andrer Mensch seit heute morgen. Ich habe dem Tod ins Gesicht gesehen. Ich habe aus eigener Kraft Dinge vollbracht, die ich für unmöglich gehalten hätte. Ich habe meine Angst und meine Schwachheit überwunden und dadurch ... sehen Sie ... so eine Art Selbstachtung bekommen ... gerade das Gefühl, nach dem ich suchte und das ich nie finden konnte ... das Gefühl, daß man eine Persönlichkeit ist und nicht immer von den andern bevormundet und gegängelt wird und sich zum Trost dann einmal vor den Spiegel stellen und sich sagen kann: ›Wenn ich auch sonst nichts bin – hübsch bin ich doch! ... ‹ Das mag ja den meisten genügen ... aber ich fühle so etwas Ödes in mir ... etwas Unbefriedigtes ... einen Drang, etwas Bedeutendes zu tun ... nun freilich ... groß sind ja meine alpinen Heldentaten nicht ...« Sie brach ab und starrte gedankenvoll in das Kerzenlicht.

Ihr Gefährte rückte seinen Stuhl näher. »Jetzt schau mal an!« sagte er lächelnd, »das hätt' ich nicht geglaubt ... also Ihnen sagen die Berge was?«

Sie machte große Augen: »Ich komme mir hier wie verzaubert vor!«

»Und wenn man Sie so anschaut, dann meint man, Sie leben so recht kühl und flott in den Tag hinein ... und kümmerten sich recht wenig um das, was ...«

»So leben wir ja auch!« unterbrach sie ihn, und ein herber Zug spielte um ihre Lippen; »ich glaube, wir sind recht unnütze Menschen ... Ich hab's schon immer dunkel gefühlt, und hier in der Einsamkeit erkenne ich es klar, wie wenig wir was Rechtes aus uns machen ...«

Er war aufgestanden und ging mit schweren Schritten durch die Hütte.

»In der Einsamkeit ...« sagte er langsam, vor ihr stehenbleibend und sah auf sie nieder, »jawohl, mein Fräulein ... die Einsamkeit ist eine gewaltige Macht. Glauben Sie das einem einsamen, ganz einsamen Menschen wie mir: die Wüste hier ... die ist wie ein Spiegel. Darin schauen wir uns selbst, und es ist, als ob Staub und Stein uns zurufen: sieh, das bist du ... Wohl dem, der sein Spiegelbild ruhig betrachten kann!«

Sein Gesicht hatte sich verändert. Düsterkeit und Grimm spielten darüber hin, und ein Ausdruck mächtiger Empfindung lag in seinen großen, starr ins Weite gerichteten Augen. Sie schlug die Wimpern zu ihm auf. »Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe!« sprach sie scheu.

»Sie stören nicht!« Er ließ seine muskulöse Gestalt auf den Stuhl neben sie gleiten und wurde wieder ganz ruhig. »Aber all die dalketen Gletscherbummler ... das müßige Pack, das sich im Gebirge umhertreibt wie die Affen auf'm Jahrmarkt ... die können einem die Berge verleiden ... da werd' ich grob wie Bohnenstroh!«

»Das hab' ich gemerkt!« sagte sie hell auflachend.

»Die empfinden ja nichts dabei!« fuhr er grimmig fort ... »hingegen ... wer mit offenem Aug' da hineinschaut ... Sie haben ja ganz recht mit Ihrem dunklen Drang, etwas zu sehen und zu erleben. Unsre Schuld ist's ja, daß aus den Frauenzimmern nichts Gescheites wird. Wir räumen ihnen alle Größe und alle Schrecken des Lebens aus dem Weg, wir halten sie zeitlebens wie die Kinder, wie die Puppen, statt sie emporzuziehen und ihnen eine wahre Menschenseele zu geben ... und dann wundern wir uns womöglich noch« – er zog eine Zigarre heraus und schnitt nachdenklich die Spitze ab – »daß sie sind, wie sie eben sind!« ergänzte er ruhig und warf die Spitze in die Ecke.

»Aber so sind sie nicht alle!« sagte Elisabeth herbe.

Er zuckte die mächtigen Schultern. »Die paar, die anders sein möchten, können's doch nicht! ... und außerdem ... wer weiß, ob's irgendeiner damit wirklich ernst ist ... ich glaub's nicht!«

Er schwieg, große Rauchwolken in die Dämmerluft blasend. Und Elisabeth hatte die deutliche Empfindung, daß in dem Leben dieses finsteren Gletscherwanderers die Frauen schon eine große und keine glückliche Rolle gespielt hatten. Nach einer Weile stand er plötzlich auf, öffnete die Tür der Hütte, warf einen Blick ins Freie und winkte ihr dann leise, fast geheimnisvoll, mit hinauszukommen. Sie tat es und blieb wie geblendet stehen ...

In Vollmondschein gebadet lag die Gletscherlandschaft vor ihr.

Ein helles, bläulich flutendes Licht spielte über dem glitzernden Eis, dem warmen Weiß der Schneedecken. In schwarzen ungefügen Rissen zeichneten sich kreuz und quer laufend die Gletscherspalten davon ab. Ein feiner weißer Rauch schwebte darüber, und in dieser eisigen Ausdünstung des Gletschers gewannen die halb verschleierten, seltsam ragenden Zacken, die Säulen und Türme dieser Eiswelt den Anschein märchenhafter Fabelgestalten.

Über der spiegelnden Fläche erhoben sich im Hintergrund die Berge. Wie große weiße Flecken schwammen die Schneefelder an dem tiefblauen Nachthimmel, und erst bei näherem Hinsehen erkannte man die sie umschließenden schwarzen Umrisse der Felswände und Geröllhalden. Bis in den Himmel hinein schienen die mattleuchtenden Gipfel zu ragen. Dicht neben und über den unregelmäßigen Schneeflocken funkelten in winterlicher Klarheit die Sterne, und stand der Vollmond am Himmel, der Beherrscher dieser reglos schweigenden, wie aus blauem Dämmerlicht gewebten Traumwelt.

Die Luft war seltsam lau und weich. Sie umspielte schmeichelnd die Stirne. Und beinahe unheimlich wirkte dieser warme brünstige Hauch inmitten der starren Öde.

Von oben, vom ewigen Schnee herab, klangen zuweilen seltsame Töne. Ein langgezogenes Seufzen, wenn der Wind in Felsenklüften spielte, ein jauchzendes Pfeifen, wenn er frei über das Feld dahinfuhr ... verhallende Rufe wie von Menschenstimmen ... wie das Grollen böser Tiere ... dann wurde wieder alles still ...

Elisabeths Augen wurden feucht, und schwere Atemzüge hoben ihre Brust. »Ist's schön?« hörte sie neben sich die Stimme ihres Begleiters. Sie schüttelte den Kopf.

»Mehr wie schön! Das ist groß! Das nimmt uns alles Kleinliche und Klägliche aus dem Herzen!«

Er wandte den Kopf zu ihr. »Gerade das, was Sie da sagen, hab' ich eben gedacht!« sagte er kurz.

Sie schauten sich an und wußten, daß sie sich in diesem Augenblick verstanden. Oben im Gletscher stöhnte es auf. Ein Föhnstoß kam von da herab und umfing sie, heiß und schauernd wie der Atem eines Riesen.

Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie wieder in die Hütte traten, in der der alte Christen ruhig weiter schnarchte.

Während Elisabeth sich niedersetzte, zog ihr Begleiter ein Fläschchen heraus und wog es in der Hand. »Ich wollt's morgen auf dem Gipfel trinken!« sagte er, »aber ich seh' schon: das Wetter wird ganz schlecht! ... also ... damit nichts verlorengeht.« Er goß zwei Becher voll Champagner und reichte ihr einen herüber. »Trinken Sie nur! Sie verdienen's!«

»Wahrhaftig?« – sie leerte fügsam den Becher – »das hätte ich nun wirklich nie geglaubt, daß Sie mich Störenfried noch mit Champagner bewirten würden ...«

Er schaute ihr lächelnd zu. Lassen Sie sich's schmecken!« sagte er und schenkte ihr wieder ein, »und vergessen Sie Ihr erstes Abenteuer in den Bergen nicht.«

»Und meinen Beschützer auch nicht!« Sie hob ihren Becher und trank ihm ernsthaft zu.

Er nickte. »Sie können meinen Schutz schon annehmen. Ich bin ein alter Mann gegen Sie! Wie alt sind Sie? ... vierundzwanzig ... fünfundzwanzig ... so was ... sehen Sie ... da bin ich reichlich zehn, zwölf Jahre älter wie Sie, mein Fräulein ...«

»Aber Junggeselle!« Sie wies auf seine Hand und schaute ihm lustig fragend ins Gesicht.

Er hielt ihren Blick aus, mit ernsten trüben Augen, und schüttelte leicht den Kopf. »Ich war schon verheiratet«, sprach er.

Ihr Gesicht wurde ernst.

»Und sie ist gestorben? ... ach ... Sie Armer!«

Er hatte sich erhoben und ging mit seinen schweren, kraftvollen Schritten quer durch das Zimmer, um das Gletscherseil zu holen. »Gestorben nicht!« sagte er gleichgültig und nestelte an dem Strickwerk; »es geht ihr soweit ganz gut auf der Welt!«

Also geschieden! Jetzt begriff sie manches und schaute still zu, während er ein Ende des Gletscherseils an Balken und Wandhaken derart befestigte, daß es quer über das Strohlager hinwegging. Über das Seil hängte er dann eine der Wolldecken, so daß ein eigener kleiner, durch die beiden Hüttenwände und den Woilach gebildeter, nach vorn offener Verschlag entstand, in dem er noch ein ledernes Kopfkissen und eine Decke auf das Stroh niederlegte.

»So ... da ist Ihr Kämmerchen!« sagte er gleichmütig ... »nun kriechen Sie hinein und legen Sie sich aufs Ohr. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich lösche das Licht aus. Dann können Sie es sich ganz ruhig bequem machen.«

Die Hütte ward dunkel. Eine Weile knisterte es noch im Stroh. Dann hörte man nichts mehr als das Schnarchen des Alten. »Gute Nacht!« rief eine helle Stimme aus dem Verschlage hervor.

»Gute Nacht!« erwiderte er, und sie schlossen die Augen.

Aber noch lange lagen die beiden schlaflos da.


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