Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XVIII

Trübe flackerte das Kerzenlicht durch die enge, schmutzige Hütte, die am Abhang des Matterhorns ganz verkrochen in dämmernder Felseneinsamkeit lag. Die wenigen Menschen, denen sie Raum bot, umstanden schweigend, mit stummen Hilfeleistungen den um den Kranken beschäftigten Arzt und sahen zu, wie er die letzte Hand anlegte, einen feuchten Mullverband über der Wunde befestigte und sich dann in einem Topf mit geschmolzenem und im Freien vor der Hütte abgekühltem Schneewasser die Hände wusch.

Er sprach ziemlich fließend Deutsch, da er mehrere Semester in Berlin studiert hatte.

»Es ist schwer, etwas zu sagen!« meinte er in Erwiderung der in banger Frage auf ihn gerichteten Blicke, »die äußeren Verletzungen sind unbedenklich, die können in kurzem wieder geheilt sein. Aber die fortdauernde Bewußtlosigkeit ... es ist ja wohl möglich, daß sie vom Blutverlust und der Kälte allein herrührt ...«

»Und wenn das nicht der Fall ist?«

Der junge Amerikaner hielt Elisabeth für die Gattin oder Schwester des Verunglückten. Er zögerte etwas mit der Antwort.

»Es ist da ein Bluterguß am Ohr«, sagte er endlich, langsam, »und zugleich eine Verletzung der äußeren Ohrmuschel. Möglich also, daß das Blut von außen hineingeflossen ist. Möglich aber auch, daß es von innen kommt ...«

»Und dann?«

»Dann ... ja dann könnte der Patient unter Umständen überhaupt nicht mehr erwachen ...«

Er wandte sich ab, um die junge Frau nicht anzusehen, und packte seine Sachen zusammen. Aber als er sich wieder aufrichtete, erkannte er zu seinem Erstaunen, daß Elisabeth ganz ruhig war.

»Sie wollen jetzt gehen?« fragte sie.

Der Amerikaner nickte. Die Aussicht, die Nacht in dieser elenden Hütte zuzubringen, schien ihm denn doch zu wenig verlockend. »Ich kann vorderhand gar nichts helfen«, sagte er, »morgen früh schließe ich mich den hinaufgehenden Führern an, und ich denke, wir bringen ihn dann wohlbehalten zum Schwarzsee hinunter.«

Sehr hoffnungsvoll klang sein Ton dabei nicht, und als er die Hand drückte, die ihm Elisabeth schweigend reichte, hatte sein Gesicht einen ernsten und besorgten Ausdruck.

Dann ging er mit einem der drei Führer. Die beiden andern, die die Nacht über in der Hütte bleiben sollten, zwei ältere Männer, räumten, so gut es sich machen ließ, die Spuren seiner Tätigkeit, die blutigen Wattebausche, die blaßrötlichen Wasserflecke am Boden und die abgeschnittenen verklebten Haarsträhnen, hinweg.

Außer ihnen waren noch die beiden Gletscherfreunde des Abgestürzten, der böhmische Graf und der Hamburger Staatsanwalt, in der Hütte. Der Kavalier hatte sein Monokel eingeklemmt und horchte blasiert auf das Pfeifen des Windes oben um die Matterhornspitze, auf der er selbst erst vor einer Woche gestanden. Dann sah er auf die Uhr.

»Es wird bald dunkel, gnä' Frau!« sprach er.

Elisabeth neigte gleichgültig, fast ohne auf ihn zu hören, das blonde Haupt.

»Ich mein'«, fuhr er fort, »es wär' Zeit, daß Sie auch zum Hotel herunterstiegen. Unser Freund da geht mit Ihnen. Ich bleib die Nacht hier, 's is ganz genug, wenn außer den Führern noch, ein Mensch hier oben is ...«

»Das glaube ich auch!« sagte Elisabeth ruhig, »aber ich werde hierbleiben.«

Die beiden Berggänger tauschten einen Blick des Erstaunens. Aber schließlich ... was ging das sie an, in welchem Verhältnis die schlanke blonde Dame zu dem Genossen stand, der da reglos mit geschlossenen Wimpern auf dem Stroh gebettet ruhte. Und dann ... ein Kranker ... und die Gegenwart der beiden Führer ... da konnte sie es wohl wagen, dem Gerede der Welt zu trotzen.

»... Zur Pflege eigne ich mich wohl besser«, fuhr sie mit derselben kühlen und tonlosen Stimme fort, »ich kann natürlich keinen der Herren hindern, die Nacht hier zuzubringen. Aber ich glaube, wir genieren uns nur gegenseitig, und Nutzen bringt es keinem. Für dringende Notfälle sind ja die beiden Führer da!«

»Aber wann's dem Patienten schlechter geht?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn aus großen kalten Augen erstaunt an ... »dann können Sie so wenig helfen wie ich. Wenn er aber die Nacht übersteht, dann ist es weit besser, Sie bringen morgen vom Schwarzsee so früh als möglich den Arzt und die Führer herauf, als daß Sie die Zeit hier auf dem schmutzigen Stroh liegen und in das Kerzenlicht starren!«

»Recht haben S' schon, gnä' Frau«, meinte der Graf zweifelnd. Der Gedanke, unten im Drawing-Room des Schwarzsee-Hotels den Abend über mit den hübschen Misses zu flirten, hatte ja viel für sich. Außerdem kannte er – und nun gar der Staatsanwalt – den Kranken gar nicht näher. Sie waren ein paarmal auf pikanten Kletterpartien aneinander angeseilt gewesen. Das ist ein großer Beweis gegenseitigen alpinen Vertrauens, aber es verpflichtete doch zu nichts, als zum Angebot von Hilfe, wo sie not tat. Und da bessere Hilfe schon zur Stelle war ...

Der Hamburger hatte sich fertiggemacht und blieb wartend an der Tür stehen. Noch einmal sah sich der Graf unschlüssig in der Hütte um ... dieser düstere, kalte Raum ... die schweren Atemzüge des Verwundeten ... das Pfeifen des Windes draußen ... und unten am prasselnden Kamin die schönen Töchter Albions mit ihrer unbefangenen Heiterkeit und linkischen Grazie ... »Na ... alsdann!« sagte er resigniert, »wann man mich hier an die Luft spediert ... ich hab' die Ehr' ... gnä' Frau ... !«

Als sie die Tür öffneten, fuhr ein schwüler Windstoß herein. Elisabeth folgte ihnen. Vorsichtig, um nicht abzustürzen, trat sie vor die Hütte und blickte ihnen nach.

Es dämmerte schon. Gegen die Täler zu schwammen dunkle, schwarze Luftmassen. Weiter nach oben wurden sie dünner. Unheimlich bleigraue Dunststreifen spannen sich da aus, und als Elisabeth auf sie hinabschaute, sah sie ein fahles Leuchten durch die Wolkenwände dahinhuschen. Sie achtete nicht darauf. Es war alles wie erstarrt in ihr.

Wird er leben? Wird er sterben? Eintönig, unerbittlich wälzte sich die Frage durch ihr Hirn. In ihren hastigen Pulsschlägen, in ihren schweren Atemzügen glaubte sie taktmäßig die drei Worte zu hören.

Und wenn er starb?

Sie schloß schaudernd die Augen. Die Angst krampfte ihr das Herz zusammen. Sie konnte den Gedanken nicht ausdenken.

Nein, sie wollte nicht daran glauben. Er mußte am Leben bleiben.

Aber dann? Wieder umfing sie das ratlose, quälende Bangen. Dann begann ja erst der Kampf, der schwerste von allen, der Kampf mit sich selbst. Oder eigentlich ... es war kein Kampf mehr ... Sie fühlte, sie würde unterliegen. Sie würde alles im Stich lassen ... alles ... um seinetwillen ...

Es war beinahe finster geworden. Ein dumpfes, die Luft erschütterndes Rollen erhob sich unter ihr in der Tiefe. Es begann mit leisem Dröhnen, es steigerte sich bis zum Donner und verklang dann wieder in finsterem Murmeln.

Sie erschrak. Mit bebenden Händen stieß sie die Tür auf und trat in das Innere der Hütte.

»Ist das ein Erdbeben?« fragte sie hastig.

Der eine Führer, ein alter Franzose aus einem welschen Ort des Wallis, war aufgestanden. »Ein Gewitter geht unten im Tal nieder, Madame! Das ist für uns nicht gefährlich, aber ...«

Ein Schmettern ... ein Flammenschein, der einen Augenblick alles taghell erleuchtete, ein unterirdisches Brüllen, als wankten die Berge ... der Führer sprang und schloß die Holzläden. »Der Blitz ist nach oben gegangen, statt nach unten!« stieß er hervor, »das ist oft schlimm! Im Oberland hat's einmal die Frau von einem englischen Lord auf dem Platz erschlagen!«

Elisabeth hörte ihn nicht. Sie kniete vor dem Strohlager nieder! Ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren schlanken Leib: Er lebte! Der Donnerschlag hatte ihn geweckt. Mit offenen, ruhigen Augen sah er suchend umher, und seine Hände bewegten sich tastend über der Decke.

Sie ergriff die Rechte und preßte sie in krampfhaftem Druck. »Ich bin da!« murmelte sie, »ich bin da ... und es wird alles gut. Die Wunde ist nicht schwer.«

Er nickte und legte mit leisem Stöhnen den Kopf wieder zurück.

»Wo bin ich denn?« fragte er nach einer Pause.

»In der Cabane, Herr!« sagte der Führer dazutretend, »aber Sie sollen ruhig liegen und wenig reden ... hat der Doktor gesagt ...«

Der Donner draußen ließ ihm lange Zeit zur Antwort.

»Und der Professor?« hub er dann an und starrte zur Decke auf, »habt ihr ihn gefunden?«

Der Führer schwieg. »Ja«, sagte Elisabeth und bemühte sich zu lächeln, »er wird sich hoffentlich auch erholen ...«

Der Baron machte eine halb ärgerliche, halb belustigte Bewegung. »Warum lügen S' denn?« murmelte er, »ich weiß doch, daß er tot ist. Hat's verdient. Ich auch. Ein Wunder, daß ich noch leb' ...«

Wer so klar und ruhig sprach, konnte nicht schwer verletzt sein. Elisabeth beugte sich über ihn. Ihre Stimme zitterte vor jubelnder Erregung.

»Sie werden leben«, flüsterte sie, »und bald wieder ganz gesund sein.«

Er schaute zu dem schönen blassen Haupte empor, um das wie ein Heiligenschein das krause Goldhaar im Kerzenglanz flimmerte. Ein Ausdruck wilder Zärtlichkeit erschien auf seinem Gesicht.

»Das ist schön, daß Sie da sind«, sprach er, und ein verzehrendes Lächeln umspielte seine Lippen, »recht schön ist's! ... das macht mich bald gesund ...«

Sie löste unwillkürlich ihre Hand aus der seinen. »Sehen Sie mich nicht so an ...« sagte sie gepreßt und stand langsam auf, »... am besten ist's, Sie schließen die Augen und schlafen wieder ein.«

Er tat es. »Ich tu' alles, was Sie befehlen«, meinte er, und seine Stimme klang träumerisch und weich, »alles ... alles ... 's ist ja so schön, noch einmal zu leben und nicht allein zu sein ...«

Seine Gedanken schienen zu wandern. Er murmelte noch einige unverständliche Worte. Dann zeigten tiefe Atemzüge, daß er wieder entschlummert war.

Entschlummert trotz des Donners, der in immer gewaltigeren Schlägen draußen rollte. Es litt Elisabeth nicht in der engen Hütte. Ein jubelndes Glücksgefühl trieb sie hinaus in die Nacht, in den Donner, wo sie allein mit sich war und ihrer in stürmischem Dank aufwogenden Leidenschaft.

»Nicht zu weit, Madame!« schrie warnend der Führer.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich geh nicht weit! Ich bleib dicht an der Hütte!« An die niedere Steinmauer der Hütte mit dem Rücken angepreßt stand sie draußen im Dunkeln. Der Nachtsturm umrauschte sie in lauen, stöhnenden Wogen. Sie atmete ihn in tiefen, wonnevollen Zügen ein, sie beugte sich ihm entgegen, um sich von seinen gewaltigen kraftvollen Armen umfangen zu lassen, und schloß demütig lächelnd die Augen, wenn er sie in allzu ungestümer Zärtlichkeit mit sich reißen wollte.

Dann wanderte der Wind weiter. Sie schlug die feuchten Wimpern auf und schaute wieder in die nächtliche Tiefe zu ihren Füßen.

Jäh flammte es da unten auf. Wie aus Feuerschein gewebt leuchteten unter ihr die ganzen Wolkenmassen in durchsichtig glühendem Rot. Ein betäubendes Schmettern und Prasseln fuhr durch den blutig lohenden, abenteuerlich geballten Dunst, der sofort wieder im Dunkel verschwand. Aber schon zuckte es von neuem zur Seite in blendendem Zickzack durch die Nacht ... ein andrer Blitz dort drüben ... wiederum stieg für einen Augenblick das unheimlich schimmernde Märchenreich aus der Finsternis, als habe sich die Erde gespalten und werfe die Flammenwelt ihres Innern hinaus in die Lüfte, wiederum vergeht es wie ein Hauch, während der Donner, von allen Seiten niederrollend, sich zu einem einzigen, unendlichen, mächtig schwellenden und sinkenden Gebrüll vereinigt.

Sie hätte aufjauchzen mögen, hinausjubeln in diese herrliche, ungeheuerliche Welt. Das Wetter unter ihr ... unter ihr die Wolken, aus denen die Blitze über den Erdball sprühen und der Donnerschlag die zitternden Menschen im Tale schreckt – und sie hier oben auf sturmumbrandeter Felsklippe über all dem thronend, erhaben über den Tod und die Vernichtung, über Angst und Wehe, das jetzt im Wirbelsturm durch die stöhnenden Täler und Ebenen geht – so mußte einem Gott zumute sein.

Der lachte über die Menschen da unten, über ihre Satzungen, ihre engen Schranken. Der empfand nicht wie jene. Der glaubte an die Kraft, die da den Sturmwind als Herrn und Gebieter jauchzend durch die Hochwelt rasen ließ, er glaubte an die Leidenschaft, die sich glutatmend in flammenden Schlägen da unten entlud, gleichviel, wen das Verderben traf, der glaubte an sich und an sein Glück. Der schmiedete sich sein Glück in der feuersprühenden Esse da unten ... erbarmungslos und schonungslos. Warum auch Mitleid mit den Schwachen? Unten im Tal mögen sie sich zusammenscharen und ihres armen Daseins freuen ... hier oben ist die Kraft. Hier ist die Größe ...

Ein neuer Blitz zuckte dahin, und jetzt sah sie erst, wie in seinem Schein die Bergketten aufleuchteten! Glutüberrieselt standen einen Augenblick die schneeweißen Ungeheuer reglos in der schwarzen Nacht, mit phantastischen blendenden Zacken und Zinnen sich scharf vom Dunkel abhebend, das plötzlich wieder wie ein wogendes Meer von beiden Seiten über ihnen zusammenschlug. Unermüdlich wiederholte sich bei jedem Wetterschlag das gewaltige Schauspiel. Die Riesen stiegen, Hand an Hand gereiht, in leuchtendem Donner hervor, das schwarze Nichts verschlang sie gierig, und zu dem rastlosen Titanenkampf sang die Windsbraut über Schlünde und Höhen ihr gewaltiges Lied. Es war zu viel für Menschenaugen. Halb geblendet tastete sich Elisabeth zur Tür zurück und in die Hütte hinein. Dort setzte sie sich auf den harten Holzschemel dem Schlafenden gegenüber und sah ihn an ... lange, unermüdlich lange. Finstere Entschlossenheit lag auf ihren Zügen. Die Lippen preßten sich hart zusammen. »Ich laß dich nicht!« klang es wie ein Widerhall des Jauchzens und Donnerns da draußen in ihrem Innern. »Nein ... nein ... und aber nein ... Ich laß dich nicht! ... ich mach' mich frei ... ich bin im Rechte, wenn ich mich aus der Niedrigkeit und Alltäglichkeit befreie, um dir zu folgen ... da hinauf in die stolze, kühne Welt, in die wir beide gehören ...«

Ein leises Schlürfen neben ihr. Der andre Führer war auf seinen Filzschuhen aus dem Nebenraum herangeschlichen, um zu sehen, ob man etwas brauche.

Elisabeth nickte ihm zu. »Es geht gut!« sagte sie fröhlich zu ihm in französischer Sprache.

Der bescheidene Mann lächelte. Es fiel ihr zum erstenmal auf, wie regelmäßig und fein geschnitten seine von glänzend schwarzem Bart umrahmten Züge waren.

»Gott sei Dank!« sprach er beinahe feierlich, »der Herr wird leben. Er bleibt Madame und den Ihren erhalten.«

Sie blickte überrascht auf ... natürlich! ... er hielt sie ja für seine Frau! Die meisten Führer glaubten das wohl, und daß die beiden sich vorhin auf deutsch Sie genannt, hatte er, der Franzose, nicht verstehen können.

»Man sah es Madame an, wie glücklich sie ist«, fuhr er fort, »... vorhin, als der Herr erwachte. Mir selbst kam es ganz feucht ins Auge ...«

»Oh, wirklich ...« Sie war ergriffen von seinem Mitgefühl.

Der stille freundliche Mann nickte. »Es sind drei Monate her, daß ich meine Frau verloren hab' ... ich weiß, wie das tut! ... und was das heißt, wenn einem Kind die Mutter fehlt, wie meinen Kleinen zu Haus ...«

»Sie Armer ...« – Elisabeth wußte nicht recht, was sie zu seinem Troste sagen sollte, »... wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann?«

Der Welsche lächelte trübe. »Vielen Dank, Madame! ... aber Sie haben jetzt selbst so viel ausgestanden ... und meine Kleinen sind wohlauf. Die sind meine einzige Freude, wenn ich so ganz müde und matt nach Hause komme und sie mir entgegenlaufen ... und ... nun« – er lächelte wieder halb fragend – »Madame wissen das ja sicher selbst, wie einem da ums Herz wird ...«

Seine schlichten Worte durchzuckten sie mit einem plötzlichen Schrecken!

Sie nickte hastig. »Ja, ich habe auch ein Töchterchen ...« sagte sie halblaut und wandte sich zur Seite.

Er verstand ihre Bewegung anders. Im Glauben, sie wolle ungestört sein, zog er sich leise zurück und legte sich nebenan zur Seite des schnarchenden Genossen nieder.

Ihr Töchterchen!

Sie war ganz fassungslos vor bangem Erstaunen, daß sie die drei letzten Tage gar nicht an das Kind gedacht!

Aus Mangel an Liebe gewiß nicht. Sie vergötterte den süßen kleinen Blondkopf und hatte sich vor Antritt der Reise unter heißen Tränen von ihm getrennt.

Gerade darum vielleicht war ihr Edith in den Stürmen dieser Stunden gar nicht bewußt in den Sinn gekommen. Das kleine Wesen gehörte ja zu ihr! Es war nur ein Teil ihrer selbst. Ihr Schicksal war das seine, wie sich die Dinge auch wenden mochten.

Aber was für ein Schicksal?

Sie nahm ihm den Vater und die Heimat. Sie überlieferte es einem fremden Menschen, der es bei aller ernsten Pflichttreue nicht lieben konnte, wie man sein eigen Fleisch und Blut liebt.

Wie sie es liebte und der da unten, der das Bild des goldhaarigen Geschöpfchens stets in seiner Brusttasche mit sich herumtrug und oft, wenn sie beisammensaßen, die Photographie herauszog, um sie ihr mit stillem Lächeln zu zeigen und einen verstohlenen Kuß darauf zu drücken.

Er war ja ein guter Mensch, weicher und feiner jedenfalls empfindend als der verwundete Riese, der schwer atmend mit geballter Faust vor ihr auf dem Stroh lag.

Und der Vater – ein entsetzliches, ahnendes Grauen schlich langsam durch ihre Seele – der Vater sollte sich freiwillig von seinem Liebling trennen? Nie und nimmermehr! Er hatte ein gleiches Recht darauf wie sie. Er gab ihn ihr nicht!

Und dann? Sie schauerte in ratloser Angst. Dann stand sie vor einer Wahl, die entsetzlicher war als alles, was sie bisher geahnt, vor der Wahl zwischen dem Kind und dem Geliebten.

Sie saß wie versteinert da. Stunde um Stunde, ohne sich zu rühren. In der Ferne verhallte das letzte Donnergrollen. Das tiefe Schweigen einer stillen Sommernacht breitete sich über die Hochwelt. Ihr war es, als nähme diese entsetzliche Nacht gar kein Ende. Nur am Hin- und Herschleichen der Führer, die alle halben Stunden sich schlaftrunken erhoben, um das glimmende Feuer zu schüren, merkte sie das Fliehen der Zeit.

Und doch graute ihr vor dem Morgen, der endlich kahl und frostig durch die Ladenluken schimmerte. Dieser Tag mußte ihr die entscheidende Aussprache mit ihrem Gatten bringen. Und wenn es so kam, wie sie fürchtete, dann mußte sie sich entscheiden! Und woher sollte sie dann den Mut, woher die Kraft nehmen, unter dem gleich. Entsetzlichen das eine oder das andre zu wählen?

Alles besser als diese Ungewißheit! Fiebernd und übernächtig saß sie, die Ellenbogen auf die Knie, das Kinn in die Hände gestützt, auf dem harten Holzschemel. Sie dachte an die erste Nacht in der Berghütte, die sie vor noch nicht zwei Wochen mit dem Verwundeten dort zusammen verbracht. Welch ein Unterschied zwischen damals und jetzt. Damals hatten sie gescherzt und lachend sich den Champagner zugetrunken und jetzt – ein häßlicher Karbolgeruch ging durch den empfindlich kalt werdenden Raum, halb verwischte Blutspuren, wohin das Auge fiel, eine wüste, traurige Stätte, in die der Tod schon einmal im Vorbeigehen hineingeschaut, und in ihrem Herzen alles zerrissen vor Schmerz und Angst.

»Hätt' ich dich nie gesehen!«

Sie empfand etwas wie verzweifelten Haß gegen den stillen Mann da, der ihr alle Ruhe und allen Frieden geraubt. Haß gegen den Geliebten! Sie begriff das nicht. Die erstarrten Glieder dehnend, erhob sie sich langsam und beugte sich über sein grimmiges, vom blutigen Vollbart überschattetes Gesicht. Und wieder rang es sich verzweifelt in ihrem Innern empor: »Hätt' ich dich nie gesehen!« Draußen tönten die schweren Tritte der Bergschuhe und das Aufsetzen der Pickel auf dem Gestein. Die Tür ging auf. Im hellen Morgenschein zeichneten sich die Gestalten der Führer und des jungen Arztes von dem blaßblauen Himmel ab.

Der Amerikaner kniete neben dem Verwundeten nieder.

»Also gesprochen hat er?« fragte er erstaunt.

»Ja, warum denn nicht?« antwortete aus dem Dunkel die tiefe dröhnende Stimme des Barons.

Die Führer lachten, und auch der Doktor verzog den Mund.

»Da hat es also keine Gefahr mehr!« sagte er, »nun können wir Sie bequem herunterbringen!«

»Sind Sie der Arzt?« forschte der Gletschermann.

»Ja.«

»Ist was an mir entzwei?«

»Gar nichts, merkwürdigerweise!«

»Das ist mehr Glück als ... sonst was!« murmelte es in befriedigtem Baß aus der Ecke, »und ihr Führer da, ihr lasset mir nur das Lachen sein! Von mir könnt ihr was lernen, wann ihr 's nächste Mal abfallt!«

Elisabeth war zu dem schwarzhaarigen Bergführer getreten. »Ich möchte gern vorausgehen! Wollen Sie mich begleiten?«

»Parfaitement, Madame!« Der höfliche Welsche machte sich in Eile marschfertig.

Sie reichte dem Kranken die Hand. »Auf Wiedersehen«, sagte sie rasch und leise, »ich muß jetzt hinunter nach Zermatt. Ich kann nicht warten. Wenn es an der Zeit ist, sehen wir uns im Hotel Schwarzsee wieder!«

Ehe er etwas erwidern konnte, hatten sie die Cabane verlassen. Heller Sonnenschein überflutete sie mit warmem, neuem Leben, während sie an der Seite des Führers zu Tale stieg.


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