Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XI

Auf dem Heimweg war das Wetter umgeschlagen. Der Nebel stieg aus den Tälern.

Erst schwebte ein einsamer rauchiger Schwaden langsam und sich wie zögernd bald nach rechts, bald nach links wendend über die glitzernde Firnfläche dahin. Kleine Nebelfetzen blieben hinter ihm zurück und krochen unschlüssig hin und her, während die Hauptwolke aufwärtsstrebend sich in den Zacken der nächsten Felswand verfing und deren Rippen mit rieselndem, schlüpfrigem Tau überzog.

Von andern Seiten erklommen andre graue Dunststreifen schwerfällig die Höhe des ewigen Schnees. Sie näherten sich, sie steuerten durch die merklich trüber und feuchter werdende Luft aufeinander zu, und wo sie sich trafen, da erloschen die Strahlen der Sonne wie der Glanz des Firns, da verschwand das Blau des Himmels und das Weiß des Schnees, und alles, alles floß in ein eintöniges, uferloses, unendliches Grau zusammen, von dem man nicht wußte, ob es aus Luft, ob es aus Nebels ob es aus schwebendem Wasserdunst oder einem ganz feinen, durchdringend prickelnden Regen, ob es aus dem allem zusammen bestand.

Wundersam war von oben der Blick auf diese Wolkenwelt, die langsam, alles in ihren grauen Fluten verschlingend und ertränkend, aus den Tälern sich zum Himmel hob. So mußte die Sintflut ausgesehen haben! Wohin das Auge schweifte, ein wüstes, wesenloses Chaos, in dem Himmel und Erde in eins zusammenflossen und alle Gebilde der Welt spurlos verschwanden. Nur die höchsten Gipfel wehrten sie noch. Wie schroffe, jäh aus dem Ozean aufsteigende Inseln erhoben sich ihre schneeüberschütteten Zinnen aus dem Wolkenmeer, das ihre Hänge umspielte, aus diesem wellenlosen, geräuschlos steigenden Meer, dieser Brandung, die, zu Eis erstarrt, die Klippen umkränzte. Nichts von dem Donner der Wogen, von Möwenschrei und Sturmgeheul, das die wüste See belebt. Nichts regte sich, kein Laut erklang hier in dieser Todesdämmerung, die wie die Vernichtung selbst schweigend höher und immer höher zum Himmel emporwallte.

In ihr verschwand alles, was man bisher gekannt und geliebt ... umsonst forschten die beiden einsamen Menschen von ihrem Schneehügel droben nach irgendeinem vertrauten Punkt. – Alles, alles versank in uferlose Weiten. Die ganze Welt, die sie sonst umgeben, ihr ganzes Leben, ihr eigenes Selbst ... was sie bisher getan und gedacht und empfunden ... das nahm auf Nimmerwiedersehen der schweigende Nebel auf, das lag begraben hinter ihnen, und ihrer harrte ein neues, geheimnisvolles Dasein, eine von grauen Wolkenschleiern verhüllte, von Tod und Gefahren starrende Welt, in die sie schwer atmend tiefer und tiefer hinabstiegen.

Zuweilen sahen sie auf diesem Weg in das unbekannte Land hinab einander an, mit einer Art von Staunen. »Also das bist du – das Du, auf das ich ein langes Leben gewartet hab', ohne es zu kennen, ja ohne es zu begreifen – das Du, das mir mein eigenes Ich nimmt und mich doch reicher macht, als ich bin, das zerstörend und verwüstend in mein Leben einbricht, das mich mit gewaltigem Stoß aus meinen altgewohnten Bahnen schleudert und mit sich reißt, Gott weiß wohin – vielleicht in Sünde und Schuld, in Not und Tod – dies furchtbare, übergewaltige, gespenstige Du, das ich nie hätte schauen sollen, und das mir doch die Stunde zur gesegneten, zur einzig lebenswerten meines Lebens macht, die uns beide zusammenführte!«

Zusammen für immer ... sie sprachen es nicht aus ... sie dachten es nicht aus ... es stand als etwas geheimnisvoll Schauerndes, als ein wonniges, unbestimmtes Grauen in ihrer Brust.

Tiefer und tiefer hinab in das unbekannte Land! Schon umhüllten rings die Nebelschatten die schwer stapfenden Wanderer; ein feiner Wasserstaub, man weiß nicht, ist es Regen, ist es Nebel, senkt sich auf sie hernieder, mit einem feuchten Dunst alle Poren der Kleider durchdringend, und unter ihren Füßen glitscht und rutscht der aufgeweichte teigige Schnee. Dann über das weite Gewirr der Guffeln, der naßglänzenden, schlüpfrigen Felsblöcke, durch den zerfließenden Schlamm der Moräne, über den Gletscher hin, von dem man im Nebel nichts sieht als die Eisfläche gerade vor sich und etwas abseits eine versprengte Ziege, die, blasiert meckernd, als ob sich das von selbst verstände, zwischen den eisigen Schrunden und Zacken umhersteigt, und zum Chalet, wo man die Nacht zugebracht.

Hier wollte der Führer rasten. Elisabeth sprach zum erstenmal seit langer Zeit wieder ein Wort. »Ich möchte nicht lange hierbleiben«, sagte sie halblaut, »ich möchte so rasch wie möglich hinunter in das Tal.«

Ihr Freund nickte. »Gehen wir weiter!« rief er kurz zum Führer und zog den Rucksack, den er schon hatte ablegen wollen, wieder über die Schulter empor.

Weiter in das Tal, wo die Entscheidung harrte. Wie sie ausschauen, wie alles sich gestalten sollte, das wußte keiner von den beiden.

Aber immer rascher wurden ihre Schritte, trotz der Ermattung des langen Marsches, trotz des schlechten, geröllüberschütteten Maultierpfades, der sich in endlosem Zickzack hinüberzog. Längst hatten sie die Grenzen des Baumwuchses erreicht und wanderten zwischen Lärchen und sturmgeschüttelten Kiefern hin, in deren struppigem Geäst die Nebel brauten, schon kamen sie über triefende Matten, auf denen da und dort undeutlich die Sennhütten sich durch das fließende Grau hin abzeichneten und dumpfes Rindergebrüll erscholl, sie gingen an der Kapelle vorbei, über die Holzbrücke, unter der die grauen Eiswogen der Visp schäumten und tosten – und da lagen die ersten Häuser von Zermatt vor ihnen.

In dem Nebeldämmern des Spätnachmittags machte das verräucherte Bergdorf einen ganz fremden Eindruck. Es war, als sei der ganze Kulturfirnis, der es sonst während der Sommermonde überzog, mit einemmal vom Regen weggewaschen worden. Verschwunden waren die bunten offenen Jahrmarktsbuden zu beiden Seiten der Straße, verschwunden die schellenklingelnden Maultierzüge und wie von der Erde verschluckt die Fremden, deren buntscheckiges Treiben sonst in allen Sprachen der Welt die schmutzige Dorfgasse erfüllte.

Der Massenschwarm der Touristen war beim Einbruch des schlechten Wetters, dessen Fortdauer für die nächsten Tage die Barometer mit seltener Einmütigkeit verhießen, einfach abgereist, die ernsteren Alpenfreunde aber hielten sich fröstelnd auf ihren Zimmern, lagen gähnend zu Bett oder schlugen am Billard und im Rauchsalon die Zeit auf irgendeine Weise tot. Auch die Führer zeigten sich nicht. Teils saßen sie in ihrer Herberge, teils benutzten sie die unerwünschte Rast, um ihre Familien in Täsch, St. Niklas oder in andern Dörfern des Tales zu besuchen. Wären nicht die vierstöckigen Hotels gewesen, die da und dort über die Bauernhütten aufragten, so hätte sich in diesem Augenblicke Zermatt in keiner Weise von irgendeinem ärmlichen Hochgebirgsflecken unterschieden, durch dessen aufgeweichte Gassen allenfalls einmal eine Kuh im Regengeriesel zur Tränke trottet oder ein paar Hirten im Wettermantel und Schlapphut dahinschlendern.

Je mehr sie sich dem Hotel näherten, desto langsamer wurden wieder Elisabeths Schritte. Bei dem Gedanken, in wenigen Augenblicken vor ihrem Gatten zu stehen, empfand sie eine beklemmende Angst, wie vor etwas Niedrigem und Häßlichem, das ihr da unbestimmt drohte. Sie schämte sich selbst dieses erstickenden Widerwillens, sie suchte ihn niederzukämpfen – aber schließlich blieb sie doch stehen und sah ratlos um sich.

Gerade neben ihnen war die Kirche und an sie sich anschließend der Friedhof, ein Gewimmel verwetterter, niedriger Holzkreuze, über die sich ein wohl dreißig Schuh hohes Riesenkreuz mit den Worten »Nur kein' Todsünd'« schräge und dräuend neigte. Zwischen den Hügeln stand einsam und trotzig ein dreieckig behauener Felsblock. »Was ist das für ein Denkmal?« fragte sie ihren Begleiter. Es war das erstemal, daß sie wieder das Wort an ihn richtete. Er stieß die Tür auf und ließ sie eintreten. »Da liegt der Croz begraben!« sagte er, ... »der Michel Croz ... so ein Führer war einmal da und nicht wieder. Der war der Erste auf dem Matterhorn ...«

»Und blieb dabei tot?«

Er nickte. »Er und die andern. Hudson und Douglas liegen dort drüben unter der Steinplatte. Der dritte daneben ist nicht Hadow – dessen Leiche hat man nie gefunden –, sondern ein andrer Engländer, der erst später am Matterhorn umkam.«

»Und da?« Elisabeth buchstabierte den in einen Grabstein gemeißelten Wappenspruch: »Semper idem!«

»Das ist Herr von Grote, am Findelngletscher verunglückt. Da ein Straßburger – blieb, glaub' ich, am Lyskam tot ... da ein Engländer, der allein vom Gletscher aus das Riffelhorn ersteigen wollt' ... und dabei ist der Zacken von der andern Seite kinderleicht ... jeder Schulbub klettert mit irgend'nem Führer da hinauf ...« Sie waren wieder zu den Holzkreuzen auf der andern Seite getreten. Nachdenklich stand Elisabeth vor den bunt geschmückten, kreuzweise zusammengenagelten Holzplatten, unter denen der Führer Biener von seinem Sturz vom Matterhorn für immer ruhte. Ein ungefüges Gedicht war auf dem Grabmal eingeschrieben, eine von dem Bruder verfaßte Widmung des Verstorbenen an seine lieben Freunde und Brüder, die Bergführer von Zermatt. Darin war das große Unglück beklagt, in das ihn das Bergsteigen gebracht. Anders aber wandte sich der Schluß:

»Ihr Brüder, verzaget darum nicht!
Es tu ein jeder seine Pflicht!
Gott der Herr übt ein gnädig Gericht!«

Elisabeth wandte sich ab und zog wie fröstelnd den Mantel über den schmalen Schultern zusammen ... »Es tu ein jeder seine Pflicht!« Ihre Lippen wiederholten es halblaut, in ratlosem Bangen. Wie kam der Tote da unten, der armselige, ungebildete Knecht, dazu, ihr plötzlich in das Innerste ihres Herzens zu leuchten, sie bei dem Besten, was in ihr war, dem herben Stolze, zu fassen? Sollte sie auch den verlieren, ihre Selbstachtung, die Vornehmheit der Gesinnung? Der rohe Älpler, der da unten moderte, der hatte die Pflicht übernommen, einen andern durch Fährde und Nöte treulich zu begleiten, und war lieber gestorben, als daß er seinem frei gegebenen Worte untreu ward. Und sie ... sie schritt langsam die menschenleere Gasse entlang, die Augen auf die glänzenden Pflastersteine geheftet, und fühlte, wie ihr Herz immer gewaltiger, in mahnenden Schlägen pochte.

Nun standen sie vor dem Hotel am andern Ende des Dorfes. Aber sie konnte nicht hinein. Wenige Minuten mußte sie sich noch gönnen.

»Da drüben liegt auch noch mancher begraben«, sagte ernst ihr Freund und wies nach der weißleuchtenden englischen Kirche auf dem Hügel gegenüber, »da müssen wir auch noch einmal hin!«

Sie folgte der Richtung seiner Hand. »Warum nicht gleich?« sagte sie halblaut, ohne ihn anzuschauen. »Das ist die rechte Stimmung und das rechte Wetter!«

So gingen sie die hundert Schritt hinauf. Der Führer hatte sich mit Handschlag entfernt, ohne ein Zeichen der Verwunderung zu äußern. Der Verkehr mit den schrullenhaften englischen Montanisten hatte ihm derlei abgewöhnt.

Stärker und immer stärker wurde der Regen, als sie an den armen, im Drahtkäfig eingesperrten Adlern und Gemsen vorbei zum Friedhof emporstiegen.

Ganze Güsse trieften von den Dachrinnen des Gotteshauses und spülten über die Steindenkmäler hin, die die Kirche rings umgaben. Ein Engländer ruhte hier neben dem andern, fast alles Männer in der Blüte der Jahre.

»Aged of 21« stand auf der einen Grabplatte, die eine trauernde Mutter gewidmet, und auf der nächsten hieß es: »Aus Lebensmitte riß ihn ein Sturz vom Lyskamm in den Tod!« Gleich daneben beklagt eine junge Witwe den Tod ihres Gemahls, ein Bruder den Tod seiner Schwester, die am Zinnal-Rothorn der Steinschlag ereilt.

Elisabeth sah zum Himmel auf. Die Wolken verhüllten das Matterhorn, den Lyskamm und die andern bleichen Riesen, deren Namen hier in Gold gemeißelt auf den Grabsteinen prangten. »Verunglückt in furchtbarem Schneesturm am Matterhorn« – »Abgestürzt vom Lyskamm«, das war da immer wieder zu lesen, und darunter das stehende »I am the resurrection and the life!« »Ich bin die Auferstehung und das Leben!«

Innen in der Kirche schien man zu üben. Leise dröhnend, in gedämpfter Wucht zitterte der Orgelklang durch die Spitzfenster in die graue Welt hinaus, und silberhelle Mädchenstimmen schwangen sich aus seinem feierlichen Schwalle, wie lachende Sonnenstrahlen zum Himmel auf. Durch das Rauschen des Regens, durch das leise Stöhnen des Windes klang glockenklar der süße Laut, als stiege er aus den Wolken hernieder, die er doch sehnend suchte. Elisabeth stand reglos da. Die Tränen drangen ihr aus den Augen. Sie konnte ihnen nicht wehren. Ein unendliches sehnsüchtiges Mitleid erfaßte sie ... sie wußte nicht, ob mit sich selbst, ob mit dem Armen da drüben ... ob mit den Menschen überhaupt, dem vergänglichen, schwachen Geschlecht, das da unter Stein gebettet zu ihren Füßen lag, wie sie in wenigen Jahrzehnten einst ruhen würde und der neben ihr – und der andre – und alles ein Traum, was sie erlebt und erlitten ... verschollen alles, weswegen sie einander gehaßt und geliebt, einander gefürchtet und gesucht. Was war dann von solch einem ganzen kampfreichen Menschenleben übrig? Was war dieses Leben überhaupt? ...

Heller und jauchzender klang von innen das Gebet durch das gewaltige Rauschen der Orgel. Ein Sturmstoß umfaßte sie, als wollte er sie wachrütteln aus Verirrung und Sünde. Sie hob das schöne Haupt nicht. Auf dem Grabstein vor ihr glänzte in Goldbuchstaben das letzte, ergebene Gebet eines jungen Bergsteigers: »Thy will be done!« – Jawohl ... »Dein Wille geschehe!« ... ich bin schwach und hilflos geworden ... gib du mir meine Kraft zurück ... zeig du mir den rechten Pfad ... und tu an mir, wie es ebenda im Vaterunser heißt: »Führe uns nicht in Versuchung!«

Führe uns nicht in Versuchung ... Sie hatte die Hände gefaltet ... Aber das war kein Gebet, was ihre schlanken Finger zusammenkrampfte und die Tränen über ihre blassen Wangen rollen ließ, das war ein verzweifelter, innerlicher Kampf. Jawohl ... jener dort war schwach. .. er war klein ... er war ihrer nicht wert ... es war das Recht der Natur, wenn sie, die Andersgeartete, ihn verließ! Aber aus den Klängen, die von da innen warm und freudig durch die trostlose Regenwelt dahinströmten, da klang milde und mächtig zugleich eine andre Stimme: »Eben, weil er arm ist ... eben, weil er schwach ist, sollst du ihn lieben, wie er dich liebt! Eben, weil er deiner nicht wert ist, sollst du ihn nicht verlassen, denn höher als alles andre steht das Mitleid. Das hast du ihm zugeschworen, das bist du ihm schuldig bis zu deinem letzten Atemzug!«

Sie erfaßte die Hand des Freundes und sah ihm zum erstenmal wieder fest ins Auge. »Wir wollen uns morgen nicht sehen!« sagte sie langsam, »erst übermorgen, wenn es klar geworden ist in mir und vielleicht auch in Ihnen! Bis dahin leben Sie wohl!«

Er nickte schweigend und öffnete ihr die Tür des Friedhofs. An das Gitter gelehnt, sah er ihr nach, wie sie mit gesenktem Haupte, aber raschen und festen Schrittes auf das Hotel zuging ...


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