Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XIV

Ein Donnern und Heulen ging durch die sturmbewegte Luft, ein Brüllen, wie die Hetzjagd böser Geister, die in dem strudelnden Nebel- und Wolkenmeer ihr Wesen trieben.

Zwei Gewaltige rangen da miteinander: der Föhnsturm und das Matterhorn.

Aus dem Süden, aus der Glut der italienischen Sonne kam der Föhn daher und stürzte sich gierig in die kalten Alpentäler. Die Lärchenwaldungen krachten und prasselten, in hundertästigem Gewirr zusammenstürzend unter seinem flammenden Hauch; die Sennhütten fegte er, einen Haufen wirbelnder Schindeln und Balken, spielend über die Matten und blies mit seinem Sturmesatem die Wolken am Himmel in Fetzen auseinander.

Aber an dem starren Steingespenst, das höhnisch über diese Wolken hinausgrinste, da zerschmetterte sich seine Kraft. Die Felswände hielten den Anprall auf. Wohl stürzten von ihnen haushohe Blöcke zu Tal, und rieselndes Schuttgeröll glitt über die schroffen Platten nieder; wohl schien es, als wanke der ganze Riesenbau, wenn ihn der Orkan brüllend an den Schultern faßte und schüttelte und rüttelte, aber immer wieder teilten sich machtlos die zerschellten Luftwogen an den Klippen und strudelten ziellos an den Schründen des Abhangs dahin. Es stöhnte in allen Klüften, es fauchte in den Spalten des Gesteins und zischte wütend um die ragenden Zacken, und in diesen Wirbeln tanzten und stiegen, zusammengeblasen, auseinandergerissen und in tollem Spiel zu neuen Fetzen und Klumpen sich einend, die ungeheuren grauen Schwaden.

Weiter unten, gegen das Tal hin, entströmte triefender Regen dieser schwankenden, haltlos durcheinanderflutenden Dunstwelt. Hier oben aber sprühte es in der Ferne glitzernd weiß aus den herantreibenden Wettern. Was sie an Schneeflocken besaßen, das schüttelten die Wolken in wilden Würfen, in millionenfachem, weißem Gewimmel in den Sturm hinein aus, der jauchzend das Spielzeug empfing. Hier stäubte er es wagerecht über die aufgepflügten Schneehänge hin, dort mußte es in schrägen Strahlen an der Felswand branden, da wieder ließ er es durch Felsentrichter in sausendem Gewirre kreisen und blies es nach oben, nach den Wolken zurück, von denen es stammte.

Sein ungeheures Gebrüll verschlang alles andre. Sein Feind, das Matterhorn, konnte dagegen nicht aufkommen. Das bißchen Lawinendonner und Krachen abstürzender Bergmassen, das verhallte spurlos in dem Jauchzen und Gellen der entfesselten Sturmgeister, die, in wirbelnde Schneeflocken gehüllt, die Wände umkreisten.

»Da sind sie! ... ich seh' sie!« schrie der Maler im Aufwärtsklettern seinem Freunde zu, »heut' faß ich euch, ihr Burschen ... heut' entgeht ihr mir nicht ...«

Seine Augen glühten, der lange Bart flatterte, schneeweiß überreift, im Sturm weit von dem dürftigen Körperchen ab, das mit unheimlicher Gelenkigkeit die senkrechten Felsen hinaufklomm.

»Was, zum Teufel, sehen Sie nur?« dröhnte hinter ihm durch das Heulen des Föhns die Stimme des Barons, »seit drei Stunden kraxel' ich nun mit Ihnen bei drohendem Schneesturm in die Höhe ... bei drohendem Schneesturm am Matterhorn! ... 's wär' ja wahrhaftig zum Lachen, wenn's nicht so verflucht ernsthaft wäre.«

Eine senkrechte Felswand, Tausende von Fuß über ihnen aufgetürmt, zweitausend Fuß unter ihnen, bis zum Gletscher reichend, und an diesem schreckenvollen Gebilde der Natur, an winzigen Kanten und Vorsprüngen klebend, zwei menschliche Wesen, an denen vorbei alle paar Minuten ein niederstürzender Stein seine dräuende Bahn zieht – jawohl, das war ernst.

Der Maler hatte sich an einem Felsvorsprung hingekauert und starrte verzückt in das Chaos von Sturm und Nebel, das auf zwanzig Schritt in der Runde sie umgab. Die gnomenhafte Gestalt da oben flößte dem nachkletternden Begleiter plötzlich ein unerklärliches Grauen ein.

»Was sehen Sie denn nur?« schrie er noch einmal.

Der andre wandte den Blick nicht von dem Kampf der Elemente vor sich.

»Viel!« zischte er dem Herangekommenen ins Ohr, »viel ... aber noch nicht alles! ... das letzte Geheimnis hab' ich noch nicht geschaut!«

Und hastig begann er weiter zu klettern, eine schwindelnd steile Wand empor, an der der Tod aus allen Spalten und Klüften grinste.

Sie hatten sich als geübte Kletterer nicht angeseilt. Das war hier nutzlos. So blieb der Gefährte stehen und legte die hohle Hand an den Mund.

»Wir müssen umkehren, Professor!« schrie er durch den Sturm. »Sie haben genug für Ihr Bild geschaut! Ich geh' nicht weiter ...«

Der Zwerg wandte sich um. Antworten konnte er nicht. Seine Stimme war zu schwach. Aber seine Hand deutete nach oben, und ein irres, tückisches Lächeln spielte um seine Lippen.

Es ging nicht anders. Man mußte ihn einzuholen suchen und mit Gewalt zur Umkehr bringen. Der kräftige Bergsteiger kletterte ihm nach, den Blick unverwandt auf die schwächliche Gestalt gerichtet, die rastlos durch den Sturm aufwärts klomm und ihm zuweilen erbost mit der Hand zur Eile winkte.

»Man könnte meinen, ein Gespenst klettere einem da voran«, ging es ihm durch den Kopf, »ein böser Geist, der mich in diesem Schreckenswetter irreführt und hohnlachend auf irgendeiner Klippe verloren stehen läßt. Wenn ich den kleinen Professor nicht so genau kennte ...«

Ein nußgroßer Stein, den jener oben abgelöst, kollerte herab. Er duckte sich an einem Felsen, um die Gefahr über seinen Kopf springen zu lassen, und plötzlich erfaßte ihn ein Gedanke: der kleine Professor war schon einmal vor Jahren im bayrischen Hochland von einem Stein am Kopf getroffen worden! Er lag damals lange krank. Dann erst, als er genesen war, begann er jene wundersamen, unheimlich geschauten Alpenbilder zu malen, denen er seinen Weltruf verdankte. Die Verwundung hatte irgend etwas in seinem Geistesleben geändert! Aber vielleicht mehr, als man ahnte?

Wieder blickte er zu dem wütend kletternden Männchen empor, und es fiel ihm ein, daß ein berühmter Wiener Nervenarzt den höchsten Alpensport, dem er und seine Genossen huldigten, das bewußte Aufsuchen der Gefahr, um die Nerven zu kitzeln und den Todesmut zu prüfen, bereits als eine Form geistiger Verirrung bezeichnet hatte.

Am runden Tisch im Hotel Mont-Cervin hatte er mit den Genossen darüber gehöhnt: Wenn er abstürzte, war das seine Sache; ihm war das Leben gleichgültig. Noch vor wenigen Tagen hätte er so gesprochen. Jetzt aber lag ihm etwas am Dasein, und mit Grauen sah er, wie da oben sein gespenstiger Genosse ihn weiter und weiter dem Tode in den Rachen führte.

Sollte wirklich sein Verdacht wahr sein? Mit äußerster Anstrengung arbeitete er sich empor, und das Glück wollte ihm wohl. Vor einer Felsenplatte, über die sich der kleine Körper nicht schwingen konnte, fand er den Professor, sich an dem Gestein haltend, in halb liegender Stellung.

»Helfen S' mir 'rüber, Baron«, keuchte er atemlos.

»Unsinn!« – der andre packte ihn derb an der Schulter – »jetzt wird umgekehrt! Jetzt hab' ich's dick!! ... das Wetter wird jede Minute schlechter. Haben Sie Lust, am Matterhorn in einen Schneesturm zu kommen?«

Der Kleine sah irre um sich, wie wenn er aus einem Traume erwachte. »... 's ist so schön hier ...« flüsterte er geheimnisvoll ... »wunderschön ... ich möcht' nicht weg ...«

»Aber jedes Kind sieht doch ein, daß wir nicht weiter können ... es ist gar keine Möglichkeit, auch nur die alte Hütte zu erreichen ...«

»Doch!« schrie der Professor, »doch ... wir müssen ... und wenn wir zehnmal ...«

Seine nächsten Worte verhallten in dem betäubenden Donner, mit dem plötzlich der Orkan herauffegte. Sie klammerten sich mit abgewandten Gesichtern an die Felswand, deren lebloses Gestein selbst im Zittern der Luft mitzuschwingen schien. Mit eisigen Armen umfaßte der jählings wachsende Sturm die beiden Männer. Er raubte ihnen den Atem, er zwang sie, die Augen zu schließen, und hauchte erstarrende, tödliche Kälte über die festgekrampften Hände.

»Da schauen S'!« Der Baron war bleich geworden. Da kam der Schneesturm ... der Schneesturm am Matterhorn!

Einzelne Flocken flogen weit voraus, dann immer dichtere, windgepeitschte Schwärme, endlich ganze Wolken von stiebendem Schnee, die im Augenblick Felsen und Menschen verhüllten. Die Luft verfinsterte sich. Man konnte kaum mehr ein paar Schritte weiter sehen. Es war, als bräche die Nacht herein, als legte sich eine tiefe eisige Dunkelheit über die Gebirgswelt, in deren Schluchten und Schründen der Föhn heulend wie eine gefangene Bestie hin und her fuhr.

»... 'runter, wenn uns unser Leben lieb ist!« Der Baron zerrte mit mächtigem Ruck den kleinen, jetzt nicht mehr widerstrebenden Begleiter zu sich herab und begann mit ihm den Niederstieg.

Das war ein böser Weg über das mehr und mehr vereisende Gestein in der Tiefe. Mit äußerster Vorsicht, so langsam und behutsam wie möglich mußte man klettern, und dabei drängte doch die Gefahr, die mit jeder Sekunde wuchs.

In einem Felsloch ruhten sie einen Augenblick erschöpft aus. Wie die beiden Männer da kauerten, unförmlich eingemummt, gestrickte Wollkappen über dem Kopf, dicke Tücher um den Hals, und das alles überschneit und mit Reif überzogen – da sahen sie selbst zwei Eisklumpen zum Verwechseln ähnlich.

Der Sturm hatte plötzlich aufgehört.

Auf kurze Zeit herrschte jene unheimliche Ruhe des Hochgebirges, durch die schon ganz aus der Ferne unheilverkündendes Grollen das Nahen eines neuen wütenden Anpralls verkündet.

»So muß sich's an 'nem gotischen Kirchturm außen klettern«, sagte der Kleine plötzlich und warf einen Blick auf das zerrissene Gestein, an dem sie mehr hingen als standen. »Sie wissen doch ... im Mittelalter haben s' Brot ganz oben auf die Kirchturmspitze gesteckt und die Verbrecher unten bei der Glockenwölbung heraus auf den Steinsims gestellt. Dann mußten die Schelme, wenn sie nicht verhungern wollten, durch das Steingeschnörkel aufwärts kriechen und sich die Hälse brechen ...«

»Das wird uns gerad' so gehen!« – der Baron kletterte ärgerlich weiter – »wegen Ihrer Dummheit ... Das Matterhorn ist auch so ein Kirchturm ... nur ein vierzehntausend Fuß hoher ... und oben gibt's nicht einmal Brot, sondern Steine ...«

Er konnte nicht weitersprechen, kaum durch Zeichen sich dem andern verständlich machen, so betäubend brach jetzt wieder der Sturm los. Ein verwirrendes Flockengewimmel drehte sich um die beiden atemlosen Männer, die verzweifelt mit den Windstößen rangen, um nicht bei einem unvorsichtigen Tritt in den Abgrund geschleudert zu werden. Der feine Schnee drang durch alle Ritzen der Kleidung, er erfüllte Mund und Nase und umkrustete die dicken Handschuhe mit einer zähen, glitschrigen Eisschicht, unter der sich die erstarrten Finger kaum mehr zu regen vermochten.

Und das Schlimmste stand bevor: der Weg über das lange, schmale Felsenband, über das sie nach dem gefährlichen Aufstieg zum Furggletscher den Berg nach rechts in der Richtung zum Kamm hin traversiert hatten. Jetzt, da sie umkehrten, hieß es, den schweren Weg noch einmal machen. Waren sie erst an dessen Ende angelangt, dann bot, sofern der Steinschlag sie verschonte, der weitere Abstieg keine außerordentliche Gefahr mehr.

Aber jetzt hieß es, das rechte Band finden ... inmitten dieses wütenden Kampfes, in dem die geblendeten Augen, durch den Schneesturm blinzelnd, kaum die ausgestreckte Hand mehr erkennen konnten.

Der Professor lachte plötzlich laut auf und schwang sich, den bisherigen senkrechten Abstieg verlassend, nach rechts auf eine schmale vereiste Steinkante.

»Weiter unten!« brüllte der Baron, der über ihm mit dem Bauch auf einer Felsenplatte lag, »mindestens hundert Schritt weiter unten ... ich weiß es ganz genau ...«

Das Männchen lächelte und schüttelte das Haupt, um das Bart und Haar zerzaust im Winde flogen. Wieder kam ein seltsamer Blick aus seinen Augen.

»Das ist der Weg! Wenn ich's sag', ein Mann, der siebenmal auf dem Matterhorn war und im Jänner Montblanc und Monte Rosa gemacht hat ...«

»Aber ich erinner' mich doch ...«

»Vorwärts!« Der Kleine huschte den Sims entlang und schlug Stufen in einen schmalen Schneehang, jenseits dessen das Band sich fortsetzte.

Ja ... allerdings ... hier im Wallis war der Professor Meister. Hier kannte er Berg und Tal.

»Vorwärts!« klang wieder im Gellen des Windes das dünne unheimliche Stimmchen herüber, »im Oberland können Sie mich führen ... fürs Matterhorn bin ich der rechte Mann ...«

Der Baron folgte ihm. Wieder regte sich in ihm das unerklärliche Grauen vor seinem Genossen. Aber fast gleichzeitig gewann auch er – er wußte selbst nicht warum – die Überzeugung, daß jener dort recht hatte! Das war der richtige Weg, und er folgte ihm in den Kampf auf Tod und Leben.

Denn nichts andres war dies Vorwärtsschreiten und Klettern im Sturme auf vereister, kaum fußbreiter Rampe, während unausgesetzt durch das Schneegestöber hoch von oben, wie vom Himmel herunter, die Steinblöcke flogen. Die Pickel klirrten auf dem Fels, bis sich, in Stücke zerspringend, die Eiskruste löste, die ihn spiegelglatt umglast hielt, und der Nagelschuh sicher auftreten konnte. Das Seil schlang sich um Zacken und hielt in der Arbeit des Stufenhauens über Firnrinnen den sturmgerüttelten Leib in seiner halb schwebenden Lage; die pelzverhüllte Hand fegte den tückischen Neuschnee von den Klippen und forschte nach den Griffen und Tritten, die seine weiße Decke verbarg. So ging es langsam in atemlosem Ringen vorwärts.

Das Schlimmste blieb der Kampf mit dem eisigen Sturm. Es war, als habe man ein lebendes Wesen vor sich, das mit allen Kräften, mit List und Gewalt die beiden Eindringlinge aus seinem Reiche herauszuschleudern und zu vernichten strebte. Mit eisigen, unsichtbaren Gespensterarmen griff es nach ihnen und drängte sie in den Abgrund, es fuhr ihnen unversehens mit gewaltigem Stoß in den Rücken, wo es sie einen Augenblick auf schwankendem Stande glaubte, und warf sich ihnen beim Weiterdringen Brust an Brust als zähnefletschender Feind zum Ringkampf entgegen. Dann plötzlich verschwand es wieder, die Wanderer in trügerische Sicherheit lullend, und fuhr mit jähem Aufheulen aus der nächsten Bergspalte auf die Taumelnden los, um durch sein gräßliches Gebrüll ihre Sinne zu verwirren. »Da bin ich!« klang es in eisigem, Mark und Bein erstarrendem Hauch um ihre Ohren, »da bin ich ... der Tod im Hochgebirge! Ihr habt mich ja gerufen. Ihr wolltet ja mit mir spielen! Wohl! Da bin ich und mache Ernst! Ich scherze nicht. Eure Genossen wissen's, die da unten in Zermatt unter den Holzkreuzen und Steinplatten ruhen. Und die andern wissen's, die ich in meinen Gletscherspalten aufbewahre, bis einmal nach Jahren die Sonnenstrahlen das Gerippe zu Tage lecken. Und die Skelette wissen's, die irgendwo im ewigen Schnee, fern von den Augen der Menschen sitzen, noch mit Sturmhut und Joppe und Bergschuhen angetan, während die Alpendohlen die letzte Fleischfaser von dem grinsenden Schädel lösen.«

Der Tod im Hochgebirge! Aber noch lebten sie ja ... noch atmeten sie ja! Weiter ... immer weiter ... Einmal muß ja das Band ein Ende nehmen.

Und zum erstenmal inmitten dieses Todesganges stieg in dem Baron die Erkenntnis auf: Es ist ein Wahnsinn, was wir treiben und alle die andern, die ohne Zwang und Not in den Bergen mit der Vernichtung spielen. Unser Leben gehört uns nicht allein. Und wenn wir noch so einsam sind, andre haben ihr Teil daran. Freilich ... eine so tolle Tour, wie sie sie heute unternommen, die war selten! Ihre eigenen Klubgenossen, das wußte er, würden ihnen bei der Heimkehr Vorwürfe machen und die Einwendungen des Malers, daß es sich um die Kunst handle, nicht verstehen. Aber ob sie überhaupt heimkehrten? Wenn ja, dann war das seine letzte derartige Expedition. Der Entschluß stand fest.

Nach seiner Berechnung hatten sie jetzt noch etwa eine Viertelstunde, bis die Traversierung der Bergwand beendet war. Da plötzlich blieb der Maler dicht vor ihm stehen, griff mit beiden Händen, um sich vor den wütenden Rissen des Föhns zu schützen, in die Steine und schaute über die Schulter hin vor sich nieder.

Mühsam drängte der andre sich, so gut es die schmale Kante erlaubte, an ihn heran und suchte, die Augen mit der Hand gegen das tolle Schneegestöber schützend, die Fortsetzung des Bandes zu erkennen.

Es war keine da! Der Felsenleisten brach jäh und unvermittelt ab. In glattem Absturz zog sich die Wand weiter hin, über ihrem Haupte stieg sie senkrecht auf, und unter ihnen war kein fester Punkt zu sehen. Da stäubte und tollte es von Schneeflocken, die der Sturmwind über der unergründlichen Tiefe im Wirbel hin und her trieb.

Kein Zweifel mehr: sie hatten das falsche Band gewählt. Sie hatten sich verstiegen ... im Schneesturm und bei sinkendem Tag am Matterhorn verstiegen.

Das war keine Gefahr mehr ... das war schon der nahe Tod! Vorwärts konnte man nicht, und diesen furchtbaren Pfad mit dem immer noch wachsenden Sturm im Rücken zurückzuklimmen, um ein paar hundert Schritt unterhalb ihres Ausgangspunktes sich aufs neue einem übereisten, windumpfiffenen Felsenband anzuvertrauen, das vielleicht auch nicht das rechte war – das versprach wenig Hoffnung auf glückliches Gelingen.

Er schaute den Professor schweigend an, der neben ihm, zwischen die Felsrippen gepreßt, mit glitzernden Augen in das Chaos starrte, als wolle er all den Wirrwarr der Elemente in sich aufsaugen und zu einem neuen, nie gesehenen Gebilde gestalten. Vorwürfe zu machen, das hatte jetzt keinen Zweck. Der Maler war ebensogut in Lebensnot wie er. Aber zu merken schien er das nicht. Er sah ganz heiter aus, und seine Lippen murmelten unhörbar abgerissene Worte durch das Brausen des Föhns.

»Was nun, Professor?« Der andre schrie es ihm mit aller Anstrengung ins Ohr.

Das Männchen machte eine abwehrende Bewegung. »Stören S' mich net!« stieß es hervor, und sein hageres Gesicht, um das der Bart jetzt in vollkommenen Eiszapfen schlotterte, nahm einen bösen, feindseligen Ausdruck an, »wir kommen noch lang 'runter. Jetzt lassen S' mich schauen! Das ist der große Augenblick ...«

Und wieder blickte er gierig in den Tanz der Nebelfetzen und Schneeflocken zu seinen Füßen. Es war, als zöge es ihn gewaltsam in diese geheimnisvolle, dumpf donnernde Tiefe hinab.

Sein Gefährte wandte sich ärgerlich von ihm ab. Mit dem irren, verzückten Gnomen jetzt zu reden, hatte keinen Sinn. Er tastete sich allein ein paar Schritte auf der Kante nach rückwärts.

Ein Windstoß, der ihn heulend von hinten an den Schultern packte, zwang ihn stillzustehen. Aber von demselben gewaltigen Hauch zerrissen auch unter ihm die treibenden Schwaden. Einen Augenblick konnte er dreißig, vierzig Meter tief hinabsehen, und da ... jawohl ... da war die Rettung! Da zog sich, als ein enger halbdunkler Riß, ein Kamin senkrecht von oben nach unten durch den Abhang.

Die Schwierigkeit war nur, hineinzukommen! Denn eine Felsplatte vom Umfang eines kleinen Zimmers schloß die obere Öffnung ab, sie gleichzeitig vor Steinfall schützend und dem Menschenfuß verwehrend.

Es mußte gewagt werden, über ihren Rand hinab ins Ungewisse zu turnen. Rasch wickelte er das steif gefrorene, sich widerwillig entrollende Seil los, verknotete ein Ende über einem schräg aufstarrenden Zacken und warf es dann über die Deckplatte hinab in die Tiefe. Dann streifte er die Handschuhe ab – denn mit deren bereifter Fläche wäre er an dem glitschrigen Tau rasch und ohne Halt in den Abgrund gesaust, und steckte sie in die Tasche. Reden konnte man in dem Sturm nicht mehr. So machte er durch Zeichen dem Professor klar, was er vorhabe. Dann verkrallte er beide Hände in dem Seil und ließ sich über den Felsrand in das brausende Luftmeer nieder.

Ein Zucken der Finger, ein Nachlassen des Arms, und er wäre, wie er, vom Schneegestöber umwirrt, vom Föhn gierig geschüttelt, da frei in dem wesenlosen Nebelraum hing, gleich einem abstürzenden Stein durch Sturm und Wolken auf den Gletscher unten im Tal niedergeflogen, um auf ihm in Atome zu zerschellen. Mit hastigen stählernen Griffen sank er an dem Seile abwärts. Jetzt wölbte sich die Platte schon über ihm. Er gab sich einen Schwung und erreichte, von dem schlenkernden Hanftau getragen, einen Stützpunkt im Kamin.

Hier war er für den Augenblick geborgen. Selbst der Grimm der Windsbraut brach sich in dieser dumpfen schluchtenartigen Rinne, die sich unter ihm ins Wesenlose senkte. Eng genug war sie freilich und was das schlimmste: er wußte nicht, wie weit das Seil reichte! Geopfert mußte es an dieser Stelle werden. Es war keine Möglichkeit, einen Teil abzuschneiden und an einem neuen Vorsprung zu befestigen. Denn dergleichen gab es nicht in diesem unheimlich glatten, nur hie und da von vereisendem Schnee überfrorenen Kamin. Wie es aber unterhalb der Stelle aussah, an der das Tauende im Wind hin und her schwankte, das mochten die Götter wissen. Gab es da keinen Halt für Fuß und Hand, so war man wiederum so gut wie verloren.

Mühsam glitt er, halb schwebend, halb mit Schultern, Ellenbogen, Knien und Stiefelspitze sich an das Gestein stemmend, hinab. Zuweilen wurde die Rinne so schmal, daß sein Körper kaum mehr darin Platz hatte und er mit halbem Leibe über die Felswand hinaushing, an der die Glieder niederstrebten, dann wieder trat sie auseinander, daß er ungehindert klettern konnte.

Nun stand er schwer atmend auf einer Felsenleiste am Ende des Seils. Ein Blick in den stiebenden Schneedunst zu seinen Füßen brachte ihm neue Hoffnung. Völlig konnte sein Auge zwar durch die Flocken nicht durchdringen – aber täuschte es ihn nicht ganz und gar, so schimmerte da, zwölf, fünfzehn Fuß unter ihm, eine weiß überschneite feste Platte.

Noch einmal packte er das Seil, glitt bis zu seinem äußersten Knoten hinab, schloß die Augen und ließ es los. Beinahe im selben Moment schon empfand er das Aufschlagen seiner Schuhabsätze auf hartem Schnee, er stürzte auf ihn hin, er glitt zwei, drei Schritt über den spiegelnden Firn nach dem Rande zu, dann gewann er Halt und saß aufrecht da.

Der Orkan hatte sich etwas gelegt. Nur von ganz oben, auf den höchsten Höhen des Berges klang zuweilen ein wütendes Pfeifen und Donnern, mit dem der Sturm die äußerste Spitze des Matterhorns umfegte. Sonst aber löste er sich jetzt für eine kurze Ruhezeit in langgezogenes Klagen, in ein Winseln auf, das langsam die eisigen Halden entlang strich.

»Aufgepaßt!« Eine unsichtbare Stimme, heiser und scharf wie die eines Raubvogels, warnte aus dem Nebel herab. Gleich darauf flog sausend ein langer, dünner Gegenstand durch die Luft, ein Eispickel, der sich im Winde überschlug und blitzschnell verschwand.

»Na endlich!« murmelte der unten finster und rieb sich die erstarrten Finger, ehe er wieder die Handschuhe anzog. So hatte sich der Professor doch entschlossen, ihm zu folgen und sich in der Not seiner Bergaxt, die er beim Klimmen doch nicht mehr halten konnte, entledigt.

Richtig ... da tauchte er in dem Kamin auf. Eine schwärzliche, ruckweise durch die weißen Flocken niedersinkende Masse, die mit einem neuen »Aufgepaßt« und plötzlichem Aufschlag ihm vor die Füße kollerte.

Er packte ihn und hielt ihn fest. Die beiden saßen im Schnee nebeneinander.

Der Professor lachte laut auf und faßte mit beiden Händen die Rechte seines Freundes. Er schien in rosigster Laune. Seine Augen strahlten. »Jetzt dank' ich Ihnen aber auch recht schön!« rief er mit verklärtem Gesichtsausdruck, »recht von Herzen dank' ich Ihnen, lieber Freund! Jetzt hab' ich's!«

»Was denn? ... einen Weg da hinunter?«

Der Kleine machte eine verächtliche Handbewegung.

»Lassen S' mich aus mit dem Weg! Wir finden schon einen! Uns beiden tut doch das Matterhorn nix! Aber das Bild hab' ich ... das Bild, wissen S' ... das mir seit Jahren vorgegangen is ... jetzt hab' ich erkannt, was die Berge sind ... jetzt haben sie mir ihr Geheimnis geben müssen ... Jetzt mal' ich ein Bild, daß die Leut' mit gefalteten Händen davorstehen und mich kaum anzuschauen wagen, wann ich unter sie tret'! ...«

Der Baron erhob sich mühsam. Ihm wurde immer unheimlicher bei den irren Reden des Zwergs.

»Machen S' voran!« sagte er finster, »wir müssen halt die Wand immer weiter 'runter, wie's eben geht, wenn man kein Seil mehr und nur einen Pickel hat ...«

Ein mächtiges Poltern wurde über ihnen hörbar. Es kam rasch in dröhnenden Sprüngen näher. Ein Felsblock von riesenhaftem Umfang schoß über die Steilwände zu Tal. Unter der weißen Schneedecke sprühten die roten Feuerfunken, wo er auf das Gestein aufschlug, und lange noch klang von unten der wüste Lärm. Und andre, kleinere Geröllbrocken folgten ringsum. Im Wetterbrauen sah man sie ihre rasche tödliche Bahn ziehen, durch die Pausen des neu erwachenden Sturms hörte man ihr unheilverkündendes Prasseln und Kollern.

Nur vorwärts ... so rasch wie möglich aus dem Bereich dieses furchtbaren Steinschlags heraus! Wieder begann die Kletterei auf Leben und Tod, über vereiste Klippen schräg hinab, auf hastig gehauenen Stufen über steile Eishänge, halb rutschend, halb niedersteigend zwischen Felsgewirr und Schnee, weiter, immer weiter unter dem Steinhagel, den der Berg an dieser seiner gefürchtetsten Flanke entsendet.

Man konnte den Feind kaum sehen und kaum hören. Aus dem Schneesturm, der sein Nahen überbrüllte, schoß er plötzlich heran und verschwand ebenso schnell in der Dämmerung. Wie der Soldat in der Schlacht über sich die stiebenden Granatenwolken schaut, an seinem Ohr das scheußliche Singen der Kugeln vernimmt, so erblickten sie über ihren Häupten die in weitem Bogen springenden, in Stücke zerschellenden Steinklumpen, fühlten sie, wie neben ihnen, rings um sie her die oft kaum faustgroßen Unholde niederschossen.

»Vorwärts!« schrie der Baron durch den Sturm. »Vorwärts, wenn das Wunder geschehen soll, daß wir da lebend herauskommen ...«

Mit unheimlicher Geschwindigkeit ging es hinab. Und noch immer verschonte sie der Tod.

Der Professor lachte ... »Das hat keine Not!« rief er von oben seinem Gefährten zu. »Wissen S', wie's im Volkslied heißt: ›Eine jede Kugel, die trifft ja nicht!‹«

»Lästern S' nicht«, erwiderte der andre dumpf und schwang sich mit rascher Schulterdrehung an einer überhängenden Platte vorbei, »das steht nicht bei uns! Hier sind wir in einer höheren Hand ...«

Der Zwerg wollte etwas Spöttisches erwidern, als sein Blick auf ein breites, sich unter ihnen öffnendes Couloir fiel. »Triumph!« zeterte er, »Triumph, Baron! da führt ja das Couloir 'runter ... das hab' ich schon lang gesucht ... das ist der rechte Weg ... die reine Chaussee für Leute wie wir ...«

Allerdings ... durch das Couloir waren sie aufgestiegen! Man sah noch an den vereisten Stellen schwache, vom Schnee überdeckte Überreste der am Morgen gehauenen Stufen.

Der Baron warf einen prüfenden Blick hinunter. »Wann uns da der Steinschlag trifft ...« murmelte er.

»Ach was ... Steinschlag« – das Männchen schlüpfte wie ein Wiesel in den Ritz hinein – »solange Sie bei mir sind, hat's keine Gefahr ... das Matterhorn und ich sind zwei gute Freunde ... das hat es mir gesagt ... da oben im Sturm! ›dich hab' ich gern!‹ hat's gesagt ... ›dir tu ich kein Leid an ... ‹«

Und wirklich verstummte, während sie sich durch die Rinne herabwanden, ganz plötzlich und unheimlich das Prasseln der fallenden Trümmer. Der Wind stöhnte nur in vereinzelten Stößen hoch über ihnen, das Flockengewirr lichtete sich, und die Luft begann merklich heller zu werden.

»Sehen S' wohl!« Der Professor kletterte geschäftig voraus ... »Das hab' ich gewußt. Ganz behaglich geht's hier herunter. In ein paar Stunden sind wir daheim, und ich morgen früh, wann die Sonne aufgeht, vor der Leinwand. Sie dürfen zuschauen, Freund, wann S' still sind. Das wird schon 's Höchste, sag' ich Ihn' ...«

Er hatte den Kopf zurück nach oben gedreht, und plötzlich fuhr ein ungläubiges staunendes Entsetzen über sein Gesicht.

Der andre tat wie er, und alle Muskeln erstarrten ihm in plötzlichem jähem Krampf. »Da kommt der Tod!« das war sein einziger Gedanke.

Kein einzelner Stein prasselte da nieder. Nein, in betäubendem Krachen und Dröhnen rauschte eine ganze Schutthalde durch den Kamin herab, Steine aller Art, von walnußgroßen Würfeln bis zum ungefügen Block, rechts und links an die Wände prasselnd, in Sturmeseile niederstrebend auf die beiden Männer, die, in den Felsen gefangen, sie wehrlos erwarten mußten.

Und doch ... der Bruchteil einer Sekunde war noch Zeit. Mit einem ungeheuren Satze schwang sich der Baron schon fast unter dem herabschauernden Hagel auf eine winzige, seitwärts des Kamins in die Luft ragende Kante, die gerade noch einem Fuße Halt bot. Fast im gleichen Augenblick schon dröhnte das Wetter um ihn her, im Funkenspritzen zitterte das Gestein, durch den Dampf zerpulverten Gerölls flogen Schnee- und Eisbrocken in die Luft, und zwischen der klirrenden Felsenmasse fuhr klagend wie ein kleines Kind ein dunkles Etwas mit in die Tiefe ... ein hilfloses, lebloses, sich schwerfällig wälzendes Etwas, das eben noch ein Mensch war.

Er konnte dem Professor nicht nachschauen. Er fühlte, wie der verwitterte kleine Vorsprung unter seinen Füßen nachgab und sich von der Wand löste. Noch griff er, als kaltblütiger Berggänger, mit beiden Händen am Gestein entlang nach einem Halt, noch suchte das andre Bein in eilfertigem Tasten irgendeine Ritze, eine Kante in der schrägen Fläche ... es war nichts da ... zerbröckelnd wich alles unter ihm ... der Fuß fuhr in die Luft ... der Körper begann zu fallen.

Im nächsten Augenblick lag er auf dem Rücken, den Kopf nach unten, und fühlte, wie er schneller und immer schneller glitt. Schmerzen empfand er nicht. Er spürte wohl, wie sein Kopf hart da und dort an Felsen schlug, aber sein Geist blieb hell und ungetrübt.

In unbegreiflicher Schnelle schoß sein ganzes bisheriges Leben an ihm vorbei. Was er getan und gelitten, was er gedacht und gewünscht, das entrollte sich in bunten, leuchtenden Bildern bis zu seiner letzten, entscheidungsschweren Stunde gestern.

Und wieder sah er ihr Gesicht vor sich, das schöne, kluge Gesicht, um dessen leicht vom Hauch der Berge gerötete Wangen das goldene Lockenhaar spielte, und wieder hörte er ihre helle, klare Stimme ... immer süßer ... immer silberner ... in rauschenden Akkorden, die, mächtiger anschwellend, aus blühenden Regenbogen sich emporwölbend, sein Ohr umschmeicheln. Das hallt wie Klänge einer andern Welt, ein Farbenspiel von überirdischer Pracht gaukelt vor den Augen ... und dann ein harter Schlag ... die bunte Welt versinkt ... es wird still und stumm ... und tiefes Dunkel ringsumher ...


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