Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX

Wie ein Hohn erschien ihr heute der goldene Schein und die Menschen, die sich fröhlich unter dem seit drei Tagen vermißten blauen Himmel tummelten. Die Hotels unten im Tal und das Dorf mußten fast ausgestorben sein, so wimmelte es überall auf dem steinigen Zickzack der Saumwege, den bräunlichen geschlängelten Fußpfaden, auf den steilen lichtgrünen Matten und in den düsteren Fichtenwäldern von Wanderern und Führern.

Hochtouristen waren es natürlich nicht. Die klommen um diese Zeit entweder schon hoch, oben auf eisigen Gipfeln oder frühstückten behaglich in ihren Gasthäusern, um gegen Mittag sich nach der Berghütte in Marsch zu setzen, die sie als Nachtquartier für die nächste Ersteigung in Aussicht genommen hatten. Was hier Edelweiß ausraufend sich an den Hängen umhertrieb, was sich mit hellem Jauchzen von Tal zu Tal grüßte und den Bergstock an der Seite und sich den Schweiß von der Stirne trocknend im Schatten der Bäume ausruhte, das waren genügsame Seelen, denen der Gornergrat schon als eine schwindelnde Höhe und der Schneemarsch über den Theodulpaß als eine alpine Leistung vorkam.

Elisabeth empfand einen Widerwillen vor all diesen guten, vergnügten Leuten und der bewundernden Neugier, mit der die meisten ihr nachschauten. Neben dem Zweifeln und Bangen, das sie quälend erfüllte, regte sich in ihr noch der unabwendbare Hochmut, mit dem der Hochgebirgstourist, dem die wahren, der Durchschnittsmenschheit unnahbaren Wunder erdentrückter Alpenpracht sich erschlossen, auf diese verzückt durch die engen Täler streifenden, in Herden jodelnden und Edelweiß bindenden Herren und Damen herabschaut.

Das ist ungerecht ... gewiß! Und unschön ist's dazu! Aber der Mensch ist nun einmal kein Heiliger und verfällt dem Gletscherdünkel so leicht wie irgendeinem andern Größenwahn. Erst die Meister des Fachs, die ganz großen Könner, die vermögen vielleicht auch da sich zum Teil wenigstens wieder zur freundlichen Unbefangenheit durchzuringen.

Und stärker und stärker wurde das Gewimmel, als man nun, sich Zermatt nähernd, durch das Wiesental längs der rauschenden Visp dahinschritt. Hier promenierten alte rundliche Engländerinnen, auf Schirmstöcke gestützt, ihre Gatten dehnten sich, die »Times« studierend, auf Bänken oder Wiesenplätzen, Familien, denen man das Rundreisebillett schon von weitem ansah und die auf einen Tag von Visp mit der Bahn heraufgekommen waren, schoben sich staunend dahin, der unvermeidlichen »Klamm« zu, um für eine Mark Entree die kümmerlichen Wasserschnellen zu besehen, und starrten, wie einen Menschenfresser aus Zentralafrika, einen Montanisten an, der, früher als die Genossen, in der Mitte seiner Führer schweren Trittes aus Zermatt ausging. Durch die deutschen Witzblätter waren sie ja unermüdlich belehrt worden, daß ein »Bergfex« sich aus einer lächerlichen Mischung von einem Narren und einem Selbstmörder zusammensetzte. Aber wenn sie jetzt hoch über sich die herrlichen, unersteiglich scheinenden Gipfel in den blauen Himmel aufragen sahen, denen der Gletschermann freudig und kraftvoll zustrebte, dann empfanden sie, so komisch es war, doch beinahe eine Art Achtung, ja geradezu Neid gegen den verblendeten Bergkraxler ...

Menschen ... Menschen ringsumher! Blumenpflückende Mädchen auf der Wiese, spielende Kinder, Lärm und Gelächter überall. Sie schritt schneller, um all dem Frohsinn und Sonnenschein zu entgehen.

Aber man mußte aufpassen, der Kleinen wegen, die sich auf dem Wege tummelten, daß man nicht eines der Geschöpfchen unversehens anstieß. Unwillkürlich regte sich in ihr die Mutter. Sie blickte leise lächelnd auf das Deutsch, Französisch und Englisch lallende Völkchen, das sich auf der Wiese neben ihr im Sonnenschein gütlich tat.

Die Kate-Greenaway-Kleidchen da kannte sie wohl! Ein ähnliches hatte sie selbst dies Frühjahr für ihren Liebling gemacht – sie wußte es noch genau, wie sie auf der Gartenveranda saß und oft unter der Arbeit sinnend zu den alten Ulmen des Schloßparkes aufsah, die über ihr rauschten – gerade ein solches Kleidchen, wie es die Kleine, die ihr den Rücken zudrehte, trug. Sogar die kapriziösen Änderungen, die sie selbst an dem Schnittmuster vorgenommen, stimmten ganz genau.

Sie blieb befremdet stehen. Ihr Herz pochte heftig. Wenn dem so war ... wenn unter dem großen Strohhut ein süßes ernstes Gesichtchen, das sie wohl kannte, aus großen Kinderaugen fragend in die Welt schaute ... nein ... das war ja undenkbar! Wie sollte das geschehen?

Aber doch ging sie leise, um die Kleine nicht zu erschrecken, auf den Fußspitzen über die Wiese zu dem Kate-Greenaway-Püppchen hin. Sie beugte sich, leicht die Hand auf seine Schulter legend, zu ihm hinab, sie starrte ihm einen Augenblick ganz fassungslos ins Gesicht und fiel dann lachend und schluchzend neben ihm auf die Knie ...

»Ja ... wußten es denn die gnädige Frau nicht?« – das hübsche junge Kindermädchen stand ganz verdutzt dabei – »dann sollt' es wohl eine Überraschung von dem Herrn Baron sein. Ach, ach, das ist doch schade!«

Sie stand auf und trocknete sich die Augen. »Das ist gar nicht schade!« sagte sie zwischen Weinen und Lachen, »aber wie ging denn das zu?«

Die kleine Thüringerin berichtete: vor vier Tagen sei die Depesche gekommen, sie sollten sofort hierherreisen, und der Hausverwalter, ein erfahrener Mann – er sei ja früher lange Hotelportier gewesen –, sie begleiten. Da hätten sie sich gleich auf den Weg gemacht, eine Nacht in Basel gerastet und nun seien sie seit gestern abend um zehn Uhr da – und die Kleine sei munter und guter Dinge.

Vor vier Tagen! Das war nach jener Stunde, als sie sich oben auf dem Hochgipfel getrennt und er einsam und gebrochen in das Tal hinabgestiegen war. Da hatte er in seiner bitteren Not an das Kind gedacht. Sie wußte wohl warum.

Sie nahm ihr Töchterchen bei der Hand und ging langsam mit ihm dem Dorfe zu. Es war, als ströme aus dieser Kinderhand, die sich vertrauensvoll in die ihre schmiegte, eine ruhige Wärme in sie über. Befreiend und lindernd kam die Überzeugung über sie: »Von meinem Kinde trennt mich niemand. Auch der Mann da oben in den Bergen nicht, dem sonst mein ganzes Sein und Wesen gehört!«

Die Kleine neben ihr jauchzte auf. »Papa!« rief sie mit ihrer hellen Stimme und wies auf Herrn von Randa, der suchend umherschaute und dann, Elisabeth erkennend, plötzlich stehenblieb.

Als sie näher kam, schloß er sich ihr mit schweigendem Gruße an. Eine Strecke gingen sie so, die Augen auf den Boden geheftet, ohne sich ein einziges Mal anzusehen. Am Dorfeingang wandte er sich zu dem Mädchen: »Bleiben Sie mit Edith noch etwas hier draußen ... aber ja nicht in der Nähe des Gletscherbachs da! Ich gehe mit meiner Frau voraus! ...«

Es kam Elisabeth wie eine Ewigkeit vor, dieser Gang durch die Dorfgasse zu dem entscheidungsschweren Augenblick. Die bunten Kramläden zu beiden Seiten, die klingelnden Maultierzüge, die schwatzenden und grüßenden Führergruppen, das eintönige Läuten von der alten Kirche – das alles schien kein Ende nehmen zu wollen.

Nun waren sie endlich in ihrem Zimmer. Sie hatte sich gesetzt und harrte stumm, was er ihr zu sagen habe. Sie empfand keine Erregung mehr. Es war alles in ihr wie erstarrt in tödlicher Erwartung.

Und dann hörte sie seine leise müde Stimme.

»Ich hab' die Kleine kommen lassen, Elisabeth«, sagte er, langsam im Zimmer auf und nieder schreitend, »damals ... vor vier Tagen ... du weißt schon, was da geschah. Daß das einen Riß zwischen uns geben mußte, das wußt' ich wohl, und da dacht' ich mir: Zeig' ihr das, was trotz alledem uns gemeinsam bleibt. Wir haben etwas, was uns beiden gehört, unsre kleine Edith, die wir beide mehr lieben als sonst etwas auf der Welt. Wenn sie die sieht, dann wird sie vielleicht erkennen, daß wir es dem Kinde schuldig sind, einander zu achten und wenn möglich zu lieben!« ...

Er brach ab und starrte eine Weile schweigend zum Fenster hinaus.

»Das ist ja nun anders gekommen, als ich dachte«, fing er mit erstickter Stimme wieder an, »du hast mir unterdessen gesagt, daß du mich nicht lieben kannst ... und mehr als das ... du hast unser Heim verlassen ... wenn es auch nur ein paar armselige Hotelzimmer sind, es ist doch in diesem Augenblick unser Heim ... und bist da hinaufgegangen, um am Krankenlager eines fremden Mannes zu wachen. Die Welt mag sich's erklären. Er wurde oft in unsrer Gesellschaft gesehen, er war unser Freund ... das hab' ich auch den Leuten hier gesagt ... aber wir beide wissen, was dieser Schritt für uns bedeutet. Du hast mir damit, schonungsloser, als man es mit Worten überhaupt ausdrücken kann, erklärt: Du hast nichts mehr für mich ... ich kümmere mich nicht mehr um dich. Ich will dich verlassen und dem fremden Mann da oben folgen!«

»... Es geht ihm ja besser!« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »dein Führer, der vor dir ankam, hat's mir gesagt! Er wird am Leben bleiben und dich mir entreißen. Ich könnte ihn ja fordern ... auf Tod und Leben ... so viel Mut, denke ich ... besitze selbst ich ... aber was ist damit gewonnen, wenn einer von uns den andern tötet? Nicht darum handelt es sich für mich, sondern um deine Liebe. Die läßt sich nicht erbitten und nicht erzwingen. Die muß frei gegeben werden. Ich bin zu stolz, sie von dir zu fordern. Wenn du sie mir nicht mehr geben kannst, weil du mich nicht mehr achtest, wenn ich dir nichts mehr, gar nichts mehr bin – gut – dann verlange ich nur noch eins: eine Bedenkzeit von einem Vierteljahr. Sagst du mir auch nach dieser Zeit: Ich kann dir nichts mehr sein ... laß mich von dir! ... so bist du frei!«

Sie schaute auf. Die entscheidende Frage wollte kaum über ihre zuckenden Lippen.

»Und Edith?«

Ihre Stimme klang ihm rauh und tonlos ins Ohr, wie die einer Fremden. Er neigte trübe den Kopf. »Das ist das schwerste!« sprach er langsam, »Gott weiß, wie ich mit mir gerungen habe und mir immer wieder eingeflüstert: das Kind gehört dir! behalte es! gib es nicht dem fremden Manne, der dir ohnedies schon alles nimmt. Aber dann sagte ich mir wieder: du, Elisabeth, liebst unser Kind zu sehr. Ich weiß es. Um des Kindes willen wirst du bei mir bleiben, wenn ich darauf bestehe!«

»Und dann?« Sie sah in banger Spannung zu ihm empor.

»Dann!« – er zuckte die Achseln – »dann werden wir freudlos nebeneinander hergehen. Du wirst mich hassen lernen, weil ich dich mit Gewalt an mein Heim fessele, und es geschieht gerade das, was, wie ich dir eben sagte, mir mein Stolz verbietet: daß ich einen Menschen zwinge, mit mir zu leben, der mich nicht mehr liebt und nicht mehr achtet. Und das Mittel zu diesem Zwang ist das eigene Kind! Nein ... das ist mehr als grausam. Das ist eine Entwürdigung und Erniedrigung des Besten, was in euch ist, der Mutterliebe!«

Sie wagte kaum zu atmen. Sollte es denn möglich sein? Und wirklich, da sprach er es aus: »Ein Kind gehört der Mutter. Nicht nur um ihretwillen. Denn sie hat es mit Schmerzen geboren. Sondern mehr noch um seinetwillen. Denn ein Kind ohne Mutter ist ein unglückliches Wesen. Es hat ein Recht, denen nie zu vergeben, die ihm die Mutter genommen haben! Und darum: willst du mich verlassen, so nimm Edith mit!«

Sie erhob sich. Lautlos, wie betäubt stand sie da. Er trat vor sie, legte die Hände auf ihre Schultern und sah ihr starr ins Gesicht.

»Dir brauch' ich nicht erst zu sagen, was das für mich heißt! Aber es ist einerlei. Es ist gut so. Wem sein ganzes Leben zertreten und verwüstet wird, der darf sein Herz nicht noch an das letzte hängen ... denn das mußt du dir klarmachen, Elisabeth, du machst mich zu einem todunglücklichen, verzweifelten Mann. Ich hab' dich in meiner Art geliebt, wie nur ein armer Kerl wie ich lieben kann ... ich lieb' dich noch ... mein Herzblut möcht' ich für dich hingeben ... vor dir niederknien möcht' ich und dir die Hände küssen ... Denk, wie's bei mir ausschaut, wenn du fort bist. Mein Haus ist verödet ... Alles ist leer ... alles, alles, woran mein armes Herz hängt, ist weg ... was soll ich da noch viel auf der Welt ... Und denk an Edith! ... Glaub' mir ... es geht einem jeden sein ganzes Leben nach, wenn die beiden Menschen, die ihn geschaffen haben, sich in Haß und Verachtung trennen. Die Kleine wird aufwachsen und dich eines Tages fragen: ›Warum bin ich unter fremden Menschen?‹ Wo ist das Schloß und der Park, in dem ich einst gespielt habe ... wo ist meine Heimat? Und wo ist der freundliche Mann, der mich auf seinen Armen herumgetragen und geherzt und geküßt hat? Und du mußt ihr antworten: ›Das Haus ist leer, du hast keine Heimat. Dein Vater ist weg. Du wirst ihn nicht sehen. Ich hab' sein Leben verwüstet und deines, weil ich nicht die Kraft hatte, ihm die Treue zu halten, die ich ihm freiwillig und mit heiligem Eid beschworen habe ... ‹«

Aus dem Nebenzimmer tönte helles Kinderlachen. Die Kleine wurde da von dem Mädchen nach dem Ausgang zur Ruhe gebracht. Elisabeth hob den Kopf. »Es ist genug«, sagte sie tonlos, »laß mich jetzt allein sein ... da drinnen ...« – –

Sie hatte die Wärterin weggeschickt und kniete neben dem Lager ihrer Tochter. Edith schlief noch nicht. Die großen Kinderaugen schauten weit offen, ernst und klar in das schöne leidvolle Gesicht, das sich über sie neigte. Elisabeth senkte die Wimpern. Sie fürchtete sich vor diesem reinen fragenden Blick, der unerbittlich bis in das Innerste ihrer Brust drang.

Und wieder sah sie angstvoll auf. Ein demütiges Grauen erfaßte sie vor dieser Reinheit, vor dieser stillen, leidlosen Unschuld, die aus den dunklen Tiefen der Kinderaugen sprach.

Und das war doch ihr Kind ... ihr eigenes Ich? Wie eine gewaltige Mahnung klang in ihr die Antwort.

Dein besseres Ich! Das, was in dir gut und rein und leidenschaftslos ist. Es wird eine Zeit kommen, da kannst du mir nicht mehr in die Augen sehen, nicht einmal so bang und zweifelnd wie jetzt. Denn dann ist's geschehen, dann hast du das Höchste verraten ... die Liebe und die Treue. Die Liebe zu mir ... die Treue zu dem Vater ... dann wirst du vor dir selbst die Blicke niederschlagen, und wenn du glücklich wirst, bezahlst du dein Glück schwer und hart mit deinem Stolz und deinem Pflichtbewußtsein ...

Die Kleine war eingeschlummert. Sie merkte es nicht mehr, daß die junge Frau noch immer vor ihrem Bettchen kniete, in lautlosem Kampf, aus dem durch seelenerschütternde Not der letzte Entschluß emporstieg.


 << zurück weiter >>