Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XII

Wäre nur die erste Begegnung vorüber ... die ersten Worte gewechselt! Sie blieb unschlüssig stehen.

Wie würde er sie empfangen? Vorstellen konnte sie sich das nicht recht. Anfangs wohl verlegen, mit halben Vorwürfen und unsicherem Zorn. Zu erwidern vermochte sie darauf nichts. Sie wollte es ruhig über sich ergehen lassen. Das einzige, was sie ihm sagen konnte, das traurige: »Ich hab' Mitleid mit dir!« – das blieb besser unausgesprochen!

Aber gerade ihr Schweigen mußte ihm neuen Mut geben! Das hielt er für Schuldbewußtsein. Daran gewann sein armer kleinlicher Geist neuen Halt. Sie sah ihn vor sich, wie er, sich immer mehr in näselnden Zorn hineinredend und seinen blonden Schnurrbart drehend, im Zimmer auf und nieder ging, wie er sie halblaut, in gedämpfter Heftigkeit ausschalt, Viertelstunde um Viertelstunde, wie neulich in Grindelwald, und durch ihr müdes Schweigen nur noch mehr gereizt wurde.

Das war unsäglich traurig und niedrig. Aber vielleicht war es gut so. Der Widerwille, der sich dann in ihr regen mußte, der Grimm, der sich dann immer wieder in ihr aufbäumte, der mußte ihre Lippen entsiegeln, und von ihnen fiel jenes entscheidungsschwere Wort, das sie selbst in ihrem Innern noch nicht auszusprechen wagte, vor dem ihr heimlich graute. Dann würde es kalt und tonlos wie eine fremde Stimme von ihrem Munde klingen: »Gib mich frei! ... ich liebe einen andern!« Die erlösende Tat war geschehen! Mochte daraus werden, was da wolle ... Sie holte tief Atem und öffnete die Tür. Er stand nicht auf, als sie eintrat. Vom Tisch, an dem er saß, hob er langsam den Kopf und wandte ihr sein bleiches, gramzerstörtes Gesicht zu.

Sie erschrak. Wie hatten sich diese glatten, gutmütigen Züge seit gestern verändert! Verzweifelte, bittere Traurigkeit sprach aus ihnen, ein klagender, hoffnungsloser Ausdruck lag in den wasserblauen Augen, die ganze Gestalt schien wie gebrochen von einem schweren Schicksalsschlag.

»Nun ... bist du zurück?« sagte er leise und traurig. Sie nickte und trat an den Tisch. Sie wußte nicht, was sie zu ihm sprechen sollte.

»War es schön oben?« Seine Stimme behielt den müden Klang. »Sehr schön!« Sie legte die Hand auf seine Schulter und sah ernst auf ihn hinab. Er war so ganz anders, als sie gedacht. Er tat ihr sehr leid.

Er wehrte ihr ab. »Zieh dich um, Kind«, flüsterte er, ohne sie anzusehen, »du erkältest dich sonst in deinen feuchten Kleidern!«

Sie ging gehorsam zum Nebenzimmer. An der Schwelle blieb sie noch einmal stehen. »Bist du mir böse?« fragte sie scheu.

»Böse?« Ein trübes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ach, liebes Kind ... was hilft das jetzt, ob ich dir böse oder gut bin ...«

Und wieder sank sein Haupt auf die Tischplatte nieder, während sie behutsam, wie um einen Kranken nicht zu stören, die Tür schloß. Als sie zurückkam, fand sie ihn noch in derselben Stellung. Er hörte ihre leichten Tritte nicht. Erst als sie seine Hand ergriff, zuckte er zusammen und machte eine Bewegung, als wollte er sie ihr entziehen.

Sie hielt sie fest und setzte sich neben ihm nieder. Das Mädchen brachte Tee. »Ich hab' ihn gleich für dich bestellt«, murmelte er. »Du brauchst etwas Warmes nach dem großen Marsch.«

Sie nickte dankend und schenkte sich ein. »Bist du gut heruntergekommen?« fragte sie nach einer bangen Pause.

Da fühlte sie sich am Arm ergriffen, daß sie die Tasse klirrend auf den Tisch setzen mußte. Zum erstenmal sah er ihr voll ins Gesicht, verstört und irre, wie ein Mensch, der furchtbare Schmerzen leidet.

»Sprich nicht davon!« stieß er hervor, »du weißt nicht, was das für mich bedeutet ...« Er stand langsam mit gesenktem Haupte auf und ging, nach seiner früheren Gewohnheit, ein paarmal durch die Zimmer. Dabei schien er ruhiger zu werden.

»Weißt du auch, Elisabeth«, sagte er endlich, vor ihr stehenbleibend, in beinahe gleichgültigem Ton, »weißt du auch, daß du mich um ein Haar gar nicht mehr vorgefunden hättest? ... Ich war auf dem Punkte, mich heute mittag umzubringen ...« setzte er halblaut hinzu, als sie ihn fragend ansah.

Sie sprang entsetzt vom Stuhle auf.

Er wandte sich von ihr ab. »Ich hab's nicht getan, wie du siehst. Ich hab' an jemand gedacht, als mir in der schrecklichen Stunde die Not am höchsten war. Nicht an dich! Du warst ja über alle Berge mit ... mit deinem Freund und kümmertest dich nicht um mich und ... jawohl ... du hattest ganz recht ... nachdem das geschehen war ... da brauchtest du dich nicht mehr um mich zu kümmern. Aber an unser Kind hab' ich gedacht ... das bleibt uns eben doch gemeinsam, wenn auch alles andre ... und da wurd' ich wieder ruhiger und brachte den Tag so hin und schickte eine Depesche nach Hause.«

Er brach ab und seufzte tief auf.

Wie der Arme so dastand, da durfte er von keinem Menschen andres als Trost hören. »Du mußt dir das nicht so zu Herzen nehmen ...« sagte Elisabeth mit weicher Stimme und wieder seine Hand erfassend, »so schrecklich ist es ja doch schließlich nicht. Und vor allem: es erfährt es ja niemand. Wir beide, unser Freund und ich ... wir schweigen natürlich ... die Führer bekommen ein gutes Trinkgeld, und sonst hat es ja kein Mensch gesehen. Und wenn auch ... das kommt ja alle Augenblicke vor, daß jemand in den Bergen krank wird und umkehrt. Da ist doch wirklich nichts daran. Das sagt Baron Gündlingen auch.«

Er hörte gar nicht mehr auf ihre letzte, in der Eile erdichtete Behauptung, sondern schüttelte trübe lächelnd den Kopf. »Was gehen mich die andern an«, sprach er langsam, »wie es zwischen uns steht, Elisabeth ... das ist ja doch die Hauptsache ... Über das heute morgen ... da kannst du ja nicht heraus, das seh' ich selbst am besten ... eine Frau muß den Mann achten können, den sie liebt ... und seit heute ... schau, ich hab's ja immer gefühlt, daß du mir fremder wurdest ... anders als ich ... ich hab' nur nicht begriffen, wie – und dacht', es würd' sich wieder geben, ... aber jetzt ... ja freilich ... du bist stärker als ich ... du siehst auf mich herunter ... du verachtest mich ...«

Da sprach er schonungslos gegen sich selbst die Worte aus, die sie kaum auszudenken wagte. Es gab ihr einen Stich ins Herz. »Das gewiß nicht«, sagte sie warm und leise, »und vor allem ... verzeih du mir. Es ist meine Schuld. Ich hätte mich dir fügen sollen ... !«

Er schüttelte den Kopf. »Deine Schuld ist's nicht. Elisabeth! Was kannst denn du dafür, daß du ein starker, kraftvoller, mutiger Mensch bist? Sei froh, daß du's bist. Aber hart ist es, furchtbar hart für mich. Ich fühl' es ja ... jetzt ist das Band zwischen uns ganz zerrissen.«

Sie schaute ihn bange an. Es erschreckte sie, wie er alle ihre Empfindungen und Wünsche da in müden, gebrochenen Worten vor ihr entrollte.

»Wie soll das nun werden?« fuhr er fort, »derlei verwischt sich nicht. Nein ... Elisabeth ... du kannst es nicht vergessen ... beim besten Willen nicht. Und irgendein Mann muß doch dein Leben ausfüllen. Zu irgendeinem mußt du aufschauen, das ist Frauenrecht. Und da ich's nicht mehr sein kann, so wird es ein andrer werden ... vielleicht der Baron da oder sonst jemand ... und ich werde dich verlieren ...«

Sie richtete sich rauh auf: »Zweifelst du an meiner Pflicht?«

»Nein!« sagte er trübe, »ich kenne dich, Elisabeth! Du wirst nie ein Geheimnis vor mir haben. Du bist viel zu stolz und rein dazu. Aber du wirst es mir eines Tages selbst sagen. Du wirst mir sagen: ›Das ist ein unwürdiger Zustand ... solch eine Ehe, in der ein Teil den andern nicht mehr achtet. Laß mich gehen.‹ Und dann verlier' ich dich für immer ...«

Er sank auf einen Stuhl, das Gesicht in den Händen verbergend, und ein verzweifeltes Schluchzen durchschüttelte seinen Körper. »Und ich hab' dich ja so unendlich lieb, Elisabeth ... ich lieb' dich ja so von Herzen ...«

Es wurde still in dem Gemach. Sie wagte kaum zu atmen. Ein weinender Mann ... das hatte sie noch nie gesehen, nie für möglich gehalten. Und doch flößte er ihr in diesem Augenblick keinen Widerwillen ein, sondern nur ein tiefes Mitleid. Er weinte ja um ihretwillen ... aus Liebe zu ihr, die schon im Herzen das Bild eines andern trug ...

Sie setzte sich neben ihn und fuhr mit ihrer kühlen Hand über seine Stirne. Aber sie brachte kein Wort hervor. Heucheln konnte sie nicht, und das, was auf ihrem Herzen lag, das durfte sie in dieser Stunde dem Armen da nicht sagen ...


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