Rudolf Stratz
Der weiße Tod
Rudolf Stratz

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XVII

Nicht leichten Kaufes geben die Berge ihre Opfer her. Wer ihnen lebend gehörte, soll ihnen auch im Tode verbleiben.

In Schnee gehüllt, in Felsenriffe und Gletscherspalten gebettet, suchen sie den Leichnam vor den Blicken der Suchenden zu verstecken. Und hat man ihn endlich doch gefunden, dann ist's, als wehre sich diese starre leblose Masse selbst dagegen, von ihrem Berg, mit dem sie eins geworden, zu lassen. Sie haftet sich an ihm an. Das Eis kittet sie am Boden fest, und hat der Pickel auch diese Bande gesprengt, dann eint das Blut als schwarze Kruste den Kopf mit dem Gestein, an dem er zerschmetterte, und sorgsam gilt es da mit dem Taschenmesser und der dünnen Spitze der Eisaxt die harten, klebrigen Brocken zu teilen.

Schwerer noch ist's, mit dem leblosen Körper ins Tal hinab zu gelangen! Tragen kann man ihn ja nicht. Man braucht die Hände selbst zu notwendig. So läßt man ihn an Seilen vorsichtig von Klippe zu Klippe, von Schneehang zu Schneehang. Unzähligemal verfitzt sich dabei das Manila-Tau im Gestein und bleibt der steife, spröde Leib zwischen Felsen stecken, in denen man ihn nur mit Lebensgefahr aufsuchen und von neuem befreien kann.

Und oft ist selbst diese Beförderung unmöglich. Ein paar von den Führern, die die Leiche des kleinen Malers bargen, erinnerten sich sehr wohl noch an das Schicksal eines ihrer Genossen, der in der alten Matterhornhütte gestorben war. Den hatten sie, weil es nicht anders ging, über eine weit über tausend Fuß hohe Felswand hinabwerfen müssen, und als der steinhart gefrorene Leib unten ankam, da ergab sich's, daß er unterwegs einen beträchtlichen Teil seiner Gliedmaßen eingebüßt hatte ...

Langsam, in ruckweisem Zucken und Nachlassen des Seiles glitt der kleine Professor steif und starr die Höhen hinab, die er gestern so behend erklommen. Sein wachsgelbes Gesicht war leidvoll verzogen. Die bläulichen Lippen standen wie in schmerzlichem Erstaunen halb offen, daß zwischen ihnen sich die spitzen weißen Zähne bleckten, und in ohnmächtigem Zorne hatte sich die Hand, die so viel geheimnisvolle Farbenglut auf die Leinwand gezaubert, zum letztenmal zusammengekrampft.

Das war gestern ein Mensch gewesen! Die Führer, deren braune Wettergestalten überall von den Kanten und Rissen des grauen Gesteins sich abzeichneten, während sie das blutige Bündel sorgsam mit spähenden Augen und halblauten, ruhigen Zurufen am straffen Seil über die gefrorenen Hänge rutschen, an steilen Platten herabschweben ließen, wußten freilich nicht, was für ein bedeutender Mensch! Für sie war ein »Herr« wie der andre und der Unterschied nur, ob er gut oder schlecht über die Berge ging.

Aber gestern hatte das da, das stille, blutige Dings da, noch geatmet wie ihresgleichen. Heute fühlten sie sich der leblosen Masse fremd. Sie griffen sie hart und fühllos an wie ein beliebiges Gerät. Was aber war das Unfaßbare gewesen, durch das dieser zerschlagene Haufe zu dem Menschen gehörte – wo war es hingekommen? Das ewige Welträtsel ging dumpf durch ihre armen, ungeschulten Köpfe. Sie sahen ernst aus und sprachen kein Wort, das nicht zum Handwerk gehörte. Zuweilen nur warf im Niederklettern einer einen Blick ins Tal hinab. Dort leuchteten in freundlichem Weiß durch die sich aufhellende Luft die Kirchen, dort klangen die Glocken und dröhnte die Orgel, dort war das Heil und die Wahrheit. Dort offenbarte es sich ihren gläubigen Seelen an jedem Sonntagmorgen im Weihrauchdunst der Frühmesse, woher der Mensch kam und wohin er ging, wenn die Berge seinen Leib zerstörten, und frei von Zweifeln atmete beim Heraustreten ihre Brust den kalten Hauch der Höhen ...

Am Hotel Schwarzsee zimmerten sie eine Bahre und legten den Toten darauf. Eine Decke kam darüber, auf der er, der böse Spötter, nun doch gewaltsam die Hände falten mußte, und ein paar Alpenblumen, die man im Herabsteigen gefunden, Edelraute und Edelweiß schmückten das Tuch, das sich um sein zerschmettertes Haupt wand.

Aus dem Hotel waren alle die Engländer gekommen und standen ergriffen ringsumher. Die Sonne brach durch die Wolken und übergoß mit rosigem Schein die hübschen, bleichen Mädchengesichter, die sich entsetzt im Kreise drängten.

Dumpf dröhnten die letzten Hammerschläge, die ein loses Stück der Bahre besser befestigten. Leises Geflüster ringsumher: »Hat man denn den zweiten auch schon gefunden?«

Einer der Führer schüttelte den Kopf. »Die andern suchen ihn noch!« sagte er in hart akzentuiertem Englisch, Silbe für Silbe buchstabierend, wie er es im Winter gelernt.

Da klang von der Seite, von den Felshügeln, das Rutschen und Kollern von Geröll! Alle Köpfe wandten sich dorthin. Ein junger Bursche, der wegen seiner achtzehn Jahre noch kein Patent besaß, aber als Freiwilliger mit seinen Vettern und Brüdern, den Bergführern, hinausgegangen war, sprang in mächtigen Sätzen den Abhang herab. Er flog von Stein zu Stein, er schlitterte, auf seinen Stock gestützt, blitzschnell durch das Geriesel der Schutthalden und schrie schon von weitem in seinem unverständlichen Patois den Genossen eine Nachricht zu.

Unter denen entstand eine lebhafte Bewegung. Der Führer von vorhin wandte sich nach kurzem Überlegen, in dem er seinen Wortschatz zusammenraffte, zu den umstehenden Briten. »Man hat ihn gefunden!« sagte er in seinem pedantischen Englisch. »Er ist am Kopf verwundet, aber er lebt!«

»Oh ... indeed« klang es in froher Erleichterung von Albions offenen Lippen.

»Sie können ihn heute abend nicht mehr herunterbringen«, fuhr der Mann fort, »sondern nur zur neuen Hütte oben, zwei Stunden von hier, weil er noch ganz bewußtlos ist. Jetzt müssen wir von Zermatt den Arzt holen!«

Ein junger Amerikaner trat vor. Er war Arzt und natürlich bereit, die erste Hilfe zu leisten, wenn man ihn hinaufführe. Der Führer lüftete den Hut. »Sind Sie Bergsteiger?« fragte er, »der Weg zur Hütte ist leicht. Aber an ein paar Stellen muß man doch klettern!«

Jawohl, der Neuyorker Doktor traute sich das zu! Er machte sich rasch fertig, versah sich mit dem Nötigsten und eilte mit einem Führer im Laufschritt, seinen langen Bergstock schwingend, davon.

Die andern nahmen indessen schweigend die Bahre auf. Je sechs Männer trugen, sich zuweilen abwechselnd, den Verunglückten zu Tal. Es dämmerte schon, während sie auf dem Saumpfad hinabstiegen. Ab und zu begegneten ihnen aufwärts gehende Knechte und Treiber, die ernst die Mütze vor dem Toten abnahmen, dann eine Gesellschaft von Yankees, Herren und Damen auf Maultieren. Plaudernd und lachend ritten sie heran und rissen dann plötzlich ihre Saumtiere verstört zur Seite, während die Unterhaltung jäh verstummte.

Unten am Dorf erwarteten Hunderte von Menschen den Zug, der sich langsam durch die Straßen bewegte. Schrecken und Teilnahme lag auf den Gesichtern der Bevölkerung, aber kein Erstaunen. Denn nur zu oft begab es sich, fast alljährlich, in der Hochgebirgssaison, daß solch ein stiller Gast seinen Einzug in Zermatt hielt ...


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