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35. Kapitel.
Selbstmord und Sühne.

Es läßt sich denken, daß Abraham Real seine Tochter, nachdem sie sich als solche zu erkennen gegeben hatte, bei sich behielt. Daß damit auch zwischen Staatsanwalt Calden und Michalina ein herzliches Einverständnis entstand, war natürlich. Unerwarteter kam es dem Platanenhof vor, daß auch Herr Brander-Wildthaußen sich seit den wenigen Tagen, da er Michalina vorgestellt worden war, recht häufig auf dem Stadtberg anmeldete und nicht selten einen größeren Blumenstrauß deponierte. Calden hatte die Dokumente des Tadischhandels auf den Platanenhof getragen und Michalina versetzte sich, wie er, in alle Einzelheiten des Falles.

Die Fahndung nach Tadisch, dem Mörder, wurde in erster Linie durch unser Polizeikommando betrieben. Es hatte eine erhebliche Prämie auf seine Auffindung ausgesetzt. Das Bildnis des kamelhaarbemäntelten Dichters wurde an allen Litfaßsäulen angeschlagen. Man überklebte die wenige Tage früher dort angebrachten Steckbriefe, die mit dem Konterfei des ermordeten Hektor Schit geprangt hatten. Unsere wackere Tagespresse unterstützte die Polizei voll arbeitsfreudigen Eifers. Der Rundfunk stand damals noch nicht zur Verfügung. So waren es Journalisten, Doktor Wanklung voran, welche die amtliche Personalbeschreibung Tadischs durch mancherlei charakteristische Züge in überaus wertvoller Weise ergänzten. Die abstehenden Ohren hatten sie vor allem ins Signalement eingeführt. Nicht nur die Mitarbeit der Presse war außerordentlich, sondern auch das Publikum überschwemmte die Untersuchungsbehörde mit Nachrichten.

Zuschriften liefen ein, man solle den Mörder im Innern der Litfaßsäulen, auf dem Estrich seiner Wohnung, jenseits des großen Heringsteiches und wer weiß wo, suchen.

Aber neben diesen und ähnlichen Ratschlägen traf bei Staatsanwalt Calden ein telephonischer Bericht ein, der ihn in der Nacht des zwölften Februar zur sofortigen Abreise nach dem Süden unseres Landes veranlaßte. Nachträglich erregte es bedenkliches Kopfschütteln beim Herrn Justizminister, bei dessen Gattin, beim Milizobersten und einigen anderen ihrer intimeren Freunde, sowie auch in weiteren Kreisen unserer guten Gesellschaft, daß Doktor Calden in Begleitung einer jungen Russin seinen Amtsobliegenheiten nachgegangen sei. Wo sich nichts im Verborgenen abspielte, wo weder Michalina noch Calden ein einziges Wort über die gewöhnlichen Höflichkeitsformen heraus einander schenkten, heftete sich Empörung an ihre Schritte. Von schlechtem Beispiel wurde gesprochen, das den Staat in seinen Grundfesten erschütterte.

 

Wie dem auch sei – als am Morgen des elften Februars in den Zeitungen das Signalement Erich Tadischs erschien und am Abend des nämlichen Tages gar die besagten frischen Plakate über den noch wie neu prangenden Steckbrief für Hektor Schit geklebt wurden, geriet ein Arzt im südlichen Landeshauptort, Doktor Spindelin, in helles Entsetzen. Besonders, als er die abstehenden Ohren Erich Tadischs auf den Bildern wahrnahm. Schon als die Abendblätter des zehnten Februars mit der Meldung eingetroffen waren, daß nicht Tadisch der Ermordete, sondern der Mörder war, hatte Spindelin, ohne recht zu wissen, warum, etwas wie Beklemmung gefühlt. Er erinnerte sich unwillkürlich eines Patienten, den er am Morgen des siebenten Februars, also am übernächsten auf den Mord in der »Blendlaterne« folgenden Morgen, in die in einer halben Stunde Autofahrt erreichbare Landesirrenanstalt eingeliefert hatte.

Seit der Lektüre des Morgenblattes vom elften Februar war Doktor Spindelin herumgestürmt, arbeitsunfähig, fassungslos darüber, daß er vielleicht den Faden in Händen halte. Allmählich dämmerte ihm auf, was ja bei seiner finanziell aus gewissen Gründen, die wir noch erörtern werden, bedrängten Lage immer wichtiger wurde, daß er auch Anspruch auf die Entdeckungsprämie haben dürfte. Nun erst recht versteckte er sich, damit ihm ja niemand etwas anmerken und ihn ausfragen könne. Damit er ja derjenige blieb, welcher. So schaute er dem Plakatkleber bei der Arbeit zu, sah das Bild Erich Tadischs, dort zwar im Kamelhaarmantel, mit Lodenhütchen, den Kopf in die Schultern eingezogen, während er einen Mann im Sportanzug, ohne Hut, aber mit den gleichen abstehenden Ohren und den nämlichen Gesichtszügen ins Narrenhaus begleitet hatte. Nun freilich, nachdem er sich am Bilde Gewißheit verschafft, eilte er, Richtung Polizeihauptwache des Städtchens, überlegte sich's unterwegs, lief gegen seine Wohnung zurück, kehrte noch einmal um, führte dann schließlich den erstgehabten Einfall aus: Sich von zu Hause mit Staatsanwalt Calden, dessen Namen er im Zusammenhang mit der Aufdeckung des wahren Tatbestandes in der Zeitung gelesen hatte, in direkte telephonische Verbindung zu setzen.

Es schlug sieben Uhr abends, als er den Anschluß mit unserer Stadt erhielt. Calden am Hörer, zählte darauf, daß bei der damaligen Unterstellung des Fernsprechverkehrs unter die politische Polizei die Unterhaltung mit dem nicht nur aufgeregt in den Apparat hineinschreienden, sondern geradezu in ihn hineinfaustenden Nervenarzte im südlichen Landeshauptort der P. O. brühwarm mitgeteilt wurde. Zugleich rechnete jedoch der Staatsanwalt aus, daß Leberstein und Windfaner am betreffenden Abend just an einer Männerchor-Generalversammlung festgelegt waren. In aller Seelenruhe schrieb er denn seinen Bericht über das Gehörte an den Justizminister nieder, begab sich um acht Uhr zu Abraham Real und fragte Michalina, ob sie zur Verfolgung der Mörderspur mit ihm in den südlichen Landesteil reisen wolle. Sie möchte ihm mit ihrem klaren Verstand liebe Gefährtin sein. Michalina wurde rot wie ein kleines Mädchen und sagte zu.

Unterdessen irrte, wie erwähnt, Doktor Spindelin in abgelegenen Gäßchen, in den Parkanlagen der südlichen Landeshauptstadt herum und redete und gestikulierte mit sich selber. Ein Glück, daß ihn niemand dabei beobachtete.

»Welche Fügung, daß mich der Herr Karl Brander, mein edler Lebensretter, mit all den literarischen Größen vertraut gemacht hat! Fügung des Himmels, daß mir die Namen Schit, Tadisch, Wratocek, Wenkermann und wie sie alle heißen, geläufig sind! Wie hätte sich's der brave Student, der ich war, mit höchster Examenspunktzahl, träumen lassen, daß er in der Literatur einmal eine solche Rolle spielen sollte? Mein Schubladengehirn brauchte doch immer so viel Zeit, bis ich alles auswendig wußte.«

Doktor Spindelin fächelte sich mit seinen sorgfältig zusammengefalteten, grauen Glacéhandschuhen Kühlung zu. Er trug sie immer bei sich, zog sie aber im Gegensatz zu Tadisch nie über die Finger. »Puh, diese Bedeutung, zu der ich da komme! Ich hab' doch nie oben hinausgewollt. Ich kann mich nur immer verwundern, wie ich überhaupt Nervenarzt wurde. Schließlich, wenn man so lange an allen möglichen Anstalten herumhockt. Weil man sich nicht ins Leben hinaustraut, ins feindliche Leben! Und die Geldklemme, verflucht nochmal! Immerhin ging's bis vor kurzem noch leidlich. Die Idee war famos. Setzte mich mit ein paar schrullenhaften Kurgästen zum Tarock. Verschrieb ihnen Pflanzenkost und Abstinenz. Und dann meine subaqualen Klistiere! Kommt schließlich doch alles vom Darm. Nicht von den Geschlechtsdrüsen. Die sind bei mir Nebensache!«

Spindelin hatte sich auf eine Bank unter Magnolien geflüchtet, die eben zu blühen begannen. Eine grausam magere kleine Katze, voller Flöhe, strich um seine Beine und miaute aus Leibeskräften. Spindelin kramte in der Tasche seines Jackettanzuges und fand etwas Brot. Er pflegte auf seinen Spaziergängen die Vögel zu füttern. Er hatte Muße. Seine Praxis zehrte ihn nicht auf. Das hungrige Tier stürzte sich auf die Brosamen.

»Armes Vieh, ob du dich auch im Stadium der Erleuchtung befindest? Jedenfalls opferst du dich nicht. Aber ich Schaf, ich dreimal gehörnter Ochse! Was hab' ich mit Wissenschaft zu schaffen? Ich Diätmärtyrer, mit Retorten-, Urin- und Kotuntersuchungen, mit Gas- und Stoffwechselapparaten. Wie hab' ich im eigenen Dreck rumgewühlt! Was hab' ich gemessen und gepröbelt, der ich in den Zustand der Erhellung, der Luzidität kommen wollte. Für die Katz war alles!« Und damit gab Spindelin dem immer noch um ihn herummiauenden Tier einen Stoß, daß es in die Parkbüsche flog. Spindelin rannte nach seiner Untat davon.

»Zwar, als ich fast nichts mehr aß«, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, »fühlte ich mich doch sehr glücklich. Wie mich jedes Ding begeisterte! Allerdings, genauer besehen, hatte ich auch früher schon und ohne zu fasten, meine euphorischen, überschwänglichen Perioden. Auch mein großartiges Experiment hätte mir nicht weiter geschadet, wenn ich nicht diesmal gerade aufs ewig Weibliche geraten wäre. Wie lang ist's eigentlich her, daß ich in dieses verfluchte Theater ging? Vier Monate? Erst vier Monate? Da war ich so lustig, so froh, zu allen Streichen aufgelegt. Da saßen die Bühnensterne, Männlein und Weiblein, im Kaffee ›Orlando‹ und zwinkerten sogar mir mit den Augen zu. Wie die Pest hatte ich alle Schürzen gemieden. Und nun diese Herrlichkeit! Dann kam Karl Brander mit seinem ›Narrenseelsorger‹. Unvergeßlich der Abend, als er das Stück vorlas. Dieser große Mann, der meine tiefsten Empfindungen so wundervoll erkannte. Noch heute begreif' ich's kaum, wie er mich offensichtlich mit seiner Gunst überschüttete. Noch heute glaub' ich's nicht, was böse Zungen behaupten. Er habe sich mit Schmuggel und Spionage befaßt, habe seine Komödianten in die Spielhölle jenseits der Grenze geschickt. Ach was! Dummes Zeug! Mit mir diskutierte er über nichts als über dramatische Probleme, und über die Organisation unserer Kammerspiele. Wozu hätte mich der nötig gehabt? Und wozu mein Geld? Der schwamm ja drin. Ganz richtig. Er brauchte als Ortsfremder den einheimischen Mäzen, den privaten Kunstliebhaber. Böse Zungen lästerten zwar auch hier wieder: ja eben grade drum, weil er dann seine Agenten ungeschoren zusammenhalten konnte.«

»Dummes Zeug! Gemeinheit!« rief Spindelin ganz laut, so daß sich andere Spaziergänger nach ihm umdrehten. Er war an die Kaistraße gelangt und rannte nun wieder in den schützenden Park. »Dummes Zeug! Eine schöne Zeit war das, mit Brander und alle den Schauspielerinnen! Ja, und da machten sie sich vielleicht auch etwas lustig über mich. Aber damals merkte ich jedenfalls nichts davon. Ich war selig. Einfach selig. Und als es hieß, man müsse für die Uraufführung des ›Narrenseelsorgers‹ Geld beschaffen – wer wäre berufener gewesen als ich, bei unseren Stadtvätern und Honoratioren herumzulaufen und sie zu Zeichnungen für das Unternehmen zu bereden? Und warum sollte ich mich nicht verbürgen? Verflucht, verflucht nochmal, wie ich hängen blieb! Aber zu wissen, wo der Mörder, wo Tadisch steckt – welche Fügung des Himmels! Welch Entgelt für das bittere Erwachen nach unserer herrlichen Theatergründung! Ich begriff ja damals so gut, als die Helden und Heldinnen sich hinter der Bühne in Reih und Glied stellten, um mit der Probe zu beginnen, daß sie nun auch ihre Gage erwarteten. Was verstand ich von Gagen? Später lachte man mich aus, ich hätte das Dreifache bezahlt. Die haben gut lachen. Als sie insgesamt so schön dastanden – hätte ich mich drücken sollen? Nein, ganz am Platz war meine Rede. Meine einzige Rede! Alle Unkosten lud ich mir auf. In Edelmut wallte ich auf. Und die wundervolle Truppe etwa nicht auch? Nein, ins ›Orlando‹ mußten wir zunächst. Anders ging's gar nicht. Champagner ließ ich fließen, ich, dem nie ein Tropfen Alkohol über die Lippen geraten war. Und der Schwips, in dem sie mich heimbrachten, gehörte auch zu den zünftigen! Damit war der Zusammenbruch da. Jetzt kamen sie von allen Seiten gelaufen. Ihre Gagen wollten sie haben! Und die Bürgschaftskredite wurden gekündigt. Alle Ersparnisse futsch. Mein Vermögen hin. Schulden bis über die Ohren. Ein wahres Glück, daß Karl Brander da war. Er sorgte dafür, daß die Truppe, meine wundervolle Truppe, aufgelöst wurde. Sein Werk war's, daß sie von der Bildfläche verschwand. Giftige Mäuler lügen, er habe sie für seine Zwecke nicht mehr verwenden können. Sie seien ihm zu übermütig, schwatzhaft geworden. Um mich jedenfalls kümmerte er sich wie ein Vater. Mein wahres Glück, daß er zum Sindaco ging und ihn unterrichtete. Man möge mir Einhalt gebieten. Sonst schnappte ich ganz über. Und nun diese Fügung des Himmels. Und wieder Karl Brander, der mir das Künstlervolk nahebrachte, der mich lehrte, wer Hektor Schit, wer Tadisch war. Und der unglaubliche Mord auf der ›Blendlaterne‹. Und der Tadisch, der verrückt geworden ist, den ich selbst einsperren half. Immer klarer sehe ich, immer klarer. Ohne luzid zu sein. Bei normaler Kost, zu der ich zurückgekehrt bin. Komm, armes Katzenvieh«, das hungrige Tier hatte sich irgendwie wieder zu ihm gefunden, war Spindelin nachgeschlichen, »komm! Jetzt gehn wir zusammen nach Hause! Milch kriegst du dort, soviel du magst. Schwarz und verlaust wie du bist, mir sollst du ein Glücksbote sein.«

 

Michalina erklärte dem Staatsanwalt, als man auf der Station vor dem großen Tunnel Seite an Seite neben dem von der südlichen Landesgrenze entgegenfahrenden Nachtzuge hielt, sie hätte schwören mögen, Herrn von Wildthaußen in einem Abteil erster Klasse bemerkt zu haben. Aber der habe noch eben bei den Begräbnisvorbereitungen für Doktor Tadisch eine Rolle gespielt. Wäre ihr nicht die Schnurrbartfliege in der Nasenrinne aufgefallen, sie hätte sich mit der Feststellung beruhigt, daß derlei im Grunde undifferenzierte Junkergesichter nachgerade in den für allerhand Kuriere gleichsam reservierten Polstern etwas Alltägliches geworden seien. Der Mann habe direkt zu ihnen hinübergeschaut und sei zusammengezuckt, als er Caldens ansichtig wurde. Andererseits habe er gleich nachher die Reisemütze bis zur Nase heruntergezogen, tief schlafend ausgesehen. Gerade soviel, wie hier wiedergegeben, hatte Michalina über die Begegnung erwähnt und war dann nicht mehr auf sie zurückgekommen, weil man sich in einer viel wichtigeren Diskussion über die Neugestaltung des Strafrechtes befand. So eifrig, daß die Wangen davon glühten.

 

Im südlichen Landeshauptort stand Doktor Spindelin um fünf Uhr an der Bahn. Er hatte es fast nicht ausgehalten, Caldens dringenden Befehl, niemandem etwas mitzuteilen, bevor er ihn gesprochen, Folge zu leisten.

Doktor Spindelin mußte unverzüglich, schon auf dem Wege zu seiner Wohnung, alles erzählen:

»Es war ein wenig später als gerade jetzt – – –«

»Heute vor einer Woche, nein, warten Sie, am Morgen des Samstag, doch, genau vor einer Woche – – –«

Calden zu Michalina: »Er dürfte den gleichen Zug benutzt haben, wie wir heute.«

»Genau vor einer Woche, als gegen sechs Uhr morgens jemand wie wahnsinnig an meiner Glocke läutete.« Doktor Spindelin wurde nachdenklich. Er rechnete, zählte an den Fingern. »Nein, nun sehe ich's deutlich. Übrigens habe ich das Einweisungszeugnis auf mir. Nein, es war nicht vor einer Woche, sondern vor sechs Tagen. Nicht am Morgen des sechsten Februar, sondern am Morgen des siebenten. Sehen Sie, hier oben, auf dem ärztlichen Zeugnis. Siebenter Februar. Sonntag morgen. Natürlich, Sonntag morgen war's.«

Michalina zu Calden: »Am fünften, Freitag, geschah der Mord. In der Nacht wurde Tadisch von Nüsperli gesichtet. Es liegen demnach ein Tag und eine Nacht dazwischen, bis Tadisch, auf den freilich damals noch nicht der geringste Verdacht fiel, bei Doktor Spindelin eintraf.«

»Also, es läutete wie wahnsinnig«, fuhr dieser fort, »und richtig, als ich hinausschaute, brauchte ich auch nicht mehr zu zweifeln, daß ich es mit einem Verrückten zu tun hatte.

›Doktor Spindelin!
Nässen Sie nicht Ihre Windelin!
Lassen Sie mich sofort iin!‹

schrie er in einemfort. Sie können sich denken, daß mir das Herz fast in die Hosen rutschte, das heißt, nein, ich war damals im Nachthemd. Ich also in höchster Aufregung zum Telephon, kurbelte aber nicht an.

Der unten drückte ununterbrochen auf die Klingel. Ich wieder zurück in meine Unterkleider und dann mit den Schlüsseln durchs Treppenhaus hinab. Der unten spuckt mich einfach an, rennt in meinem Korridor, schießt zur Haustüre zurück, reißt mir die Schlüssel aus der Hand und sperrt die Türe hinter uns zu. Ich habe noch nie so viel Angst ausgestanden.«

»War denn der Mann irgendwie bedrohlich?«

»Im Gegenteil. Wachsbleich. Schlotterte an allen Gliedern und grinste dazwischen. Grimassierte, wie es eben die Dementia-praecox-Kranken tun. Denn die Diagnose stellte ich sofort. Bald drückte er sich schizothym aus, bald zeigte sich dereïrendes Denken, sein Autismus, dann sprach er Wortsalat, ja sogar eine Kunstsprache, zeigte Stereotypien, äußerte Wahnideen, halluzinierte, kurz, das Bild war absolut klassisch.«

»Und der Mann simulierte nicht?«

»Der simulieren? Sagen Sie selbst, entschuldigen Sie Fräulein Doktor, wenn ich es vor Ihren zarten Ohren erwähnen muß, simuliert einer, wenn er sich in den Hausgang hinkauert, die Hosen aufknöpft und auf die Treppe …? aber nein. Es läßt sich nicht sagen. Simuliert einer, der in mein Wartezimmer kommt, dort die nächste Blumenvase nimmt und hineinuriniert? Kann ein Gesunder auf solch einen Gedanken geraten?«

»Was produzierte er sonst?«

»Bald sang er: ›o du lieber Augustin‹, bald quietschte er wie eine Fastnachtsmaske; dann wieder machte er ein Sprüchlein:

›Ich bin der Doktor Spindelin,
und reime auf Schauspielerin.‹

Das war nämlich eine sehr peinliche Anspielung auf eine Episode in meiner Vergangenheit, von der ich nicht gern spreche.«

»Wie kann er von ihr gehört haben?«

»Weiß ich es. Weiß ich überhaupt, wie er ausgerechnet direkt vom Bahnhof, wenn es so ist, wie Sie sagen, daß er damals mit dem nämlichen Zug, wie Sie heute angekommen sein dürften, an meine Türe gelangte? Man muß doch ins Städtchen hinunter und durch allerhand Gäßchen herfinden.«

»Und Sie dachten gar nicht, daß er Theater spielte?«

»Ausgeschlossen. Auch heute denke ich's nicht. Das Bild war zu echt. Bald kreischte er, daß er verfolgt werde, daß man ihn gleich einsperren wolle. Dazu grinste er, übers ganze Gesicht grinste er. ›Hören Sie die Polizeihunde kläffen?‹ fragte er plötzlich. ›Wauwauwau, rauraurau, Schildkröte, Krildschröte, Schrötkrilte, Schrotflinte, Flintibilinte, Flintibitinte, schwarze Tinte, rote Tinte, schwarze Tante, rote Tante, blaue Tante, alles sind mir Wohlbekannte, alles sind mir Ungenannte, denen ich den Steiß einrannte, Steiß, Sterz, Feiß, Ferz, Furz …‹ und nun begann er eine Reihe der obszönsten, fürchterlichsten Worte zu gebrauchen, die man sich überhaupt ausdenken kann. Darin tat er sich dann ununterbrochen gütlich. Auch auf der Fahrt nach der Irrenanstalt sprach er ohne Aufhören, zotete und witzelte, daß man es gar nicht für möglich halten sollte.

Ich fragte ihn nach Namen und Herkunft. Er hörte und redete vorbei. Kein Wort war darüber aus ihm herauszubringen. Nur, als ich ans Telephon ging, wurde er still. Dann zog er die Sporthosen aus und setzte sich auf meinen Stuhl am Schreibtisch, nahm sich Papier mit meinem Briefkopf und fing sich an zu reinigen. Scheußlich waren seine Manieren. Kann man das simulieren? Fällt das einem gesunden Verstand ein?

Wie gesagt, als ich telephonierte, wurde er still. Er schien augenscheinlich befriedigt, daß ich das grüne Kreuz, unsere Sanitätsmannschaft, herbeirief. Dann aber, gleich nachher, rumorte er wieder im Zimmer herum, schrie zwischenhinein unverständliche Worte: ›Hören Sie, hören Sie! Jetzt kommen sie, das Herdenvieh, und wie und wie, hihi, hihi!‹ Er leerte den Papierkorb auf meinen Tisch, goß Tinte darüber, stellte die Stühle darauf, schmiß sie wieder zu Boden, lehnte sie dann gegen die Türe. Ja übrigens. Plötzlich bemerkte er anscheinend geordnet: ›Gehen wir schnell hinunter und schließen wir die Hauspforte auf!‹ Begleitete mich auch dabei, verhielt sich, solange wir unterwegs waren, mutistisch, schwieg, antwortete nicht, bedeutete mir selbst, leise zu sein, die andern im Hause nicht zu wecken, um dann, ins Zimmer zurückgekehrt, einen Hexentanz aufzuführen, seine Kleider herumzuwerfen, bis die Sanitätsmannschaft eintrat und ihm einen Fesselgurt umband.

Ich war die ganze Zeit mit ihm allein gewesen. Mein Dienstmädchen schläft in der Mansarde. Verheiratet bin ich Gott sei Dank nicht. Als er nun so gebunden dasaß, immerfort redend – Schaum klebte an seinen Mundwinkeln – immer scheußlichere Koprolalien stieß er aus – konnten wir gemeinsam seine Kleider durchsuchen.«

»Besaß er einen Paß?«

»Nichts dergleichen. Kein Papier, kein Schriftstück, das uns seinen Namen verraten hätte. Dagegen eine Brieftasche, mehrere Tausender und Hunderternoten enthaltend. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Man konnte sich für den Schaden – denken Sie die Tintenkleckse! – bezahlt machen. Man konnte sich nach dem ausgestandenen Schrecken ruhig weiter mit ihm befassen, ihn nach der Landesheilanstalt führen, dort mit den Ärzten verhandeln, ihn unterbringen und sich entsprechend entschädigen lassen. Von da an war die Angelegenheit für mich begreiflicherweise interessanter. Ich genoß den Frühlingsmorgen. Noch freudiger war mir zu Mut, als ich gegen Mittag allein wieder zurückfuhr, während auf der Hinfahrt, wie Sie sich erinnern, der Mann seine dissoziierten Obszönitäten atemlos herunterleierte und durch und durch das Bild eines mit erotischen Wahnideen vollgepfropften Schizophrenen bestätigte.«

»Wie kamen Sie auf den Gedanken, daß der Irre mit Tadisch identisch sei?«

»Als ich von der eigentümlichen Wendung im Verbrechen der ›Blendlaterne‹ aus der Zeitung erfuhr, ging es mir durch den Kopf. Aber Gewißheit gewann ich erst, als ich des Bildes auf den Steckbriefen ansichtig wurde. Dann telephonierte ich und das Weitere wissen Sie.«

In der Tat waren Tintenspuren im Arbeitszimmer Spindelins, von blauschwarzen Landkartenmustern auf dem Schreibtisch bis zu Spritzerketten in die Gipsdecke unverkennbar. Staatsanwalt Calden setzte sich telephonisch mit seinem Amtskollegen des südlichen Landesteiles in Verbindung, holte ihn und zwei Beamte in seiner Wohnung ab und sauste in ihrer, Michalinas und Spindelins Begleitung nach der Landesirrenanstalt. Um neun Uhr trafen sie dort ein.

 

Am Einfahrtstor stand der Direktor in weißem Mantel, hinter ihm seine Ärzte, rang die Hände und rief Doktor Spindelin, noch ehe der Motor zu rattern aufhörte, zu:

»Verschwunden, lieber Kollege, spurlos verschwunden!«

Der von Doktor Spindelin eingelieferte unbekannte Kranke war, nachdem er den gestrigen Nachmittag in einem der Anstaltsgärten mit anderen aufgeregten Irren verbracht hatte, vom Wärter beim Hereintreiben der Mitpatienten nicht gleich beobachtet worden. Man hatte sich gedacht, er sei vielleicht schon früher auf die Abteilung und in den Wachsaal zurückgekehrt. Beim Abendessen merkte man sein Fehlen. Man fahndete im Garten. Es war aber schon dunkel. Heute früh hatte man an die Polizei des Landeshauptortes gemeldet, daß ein Anstaltsinsasse ausgebrochen war und dort den Bescheid erhalten, eben sei ein Auto mit dem Landesstaatsanwalt und seinem auswärtigen Kollegen, sowie Doktor Spindelin in gleicher Sache abgefahren. Der Fall stehe offenbar mit dem Mord in der »Blendlaterne« im Zusammenhang.

Hatte man nachgeforscht, wie der Verschwundene entwischt sein konnte?

Man war noch daran. Der Direktor hatte Befehl gegeben, die Umzäunung zu kontrollieren.

Eben in dem Augenblick, als der Direktor erklärte, man sei auf der Suche nach Ausbruchsmöglichkeiten, kam ein Wärter atemlos gelaufen und berichtete, daß eine Latte am Hofzaun defekt und herausnehmbar und ganz offensichtlich auch vor kürzester Zeit dort entfernt worden war.

Michalina und Calden stellten, als man dorthin ging, gleichzeitig und vielleicht doch früher als die übrigen fest, daß sich an der Latte ein mit roter Kreide aufgezeichnetes Kreuz befand. Eins ums andere der Anwesenden schlüpfte durch die Lücke hinaus.

Längs dem Lattenzaun führte ein Weg, von dem ein zweiter in den dahinterliegenden Anstaltspark abzweigte, mitten unter hohe Bäume, in Zypressen und Tannen hinein. Dichtes Unterholz, Brombeer- und sonstiges Dornengestrüpp wucherte zwischen den Stämmen.

Die Sonne strahlte. Leichte Vorfrühlingsdämpfe schwelten aus der betauten, aber nicht weichen Erde. Fußspuren schienen zunächst nicht sichtbar. Bevor Staatsanwalt Calden Einhalt gebieten konnte, trampelten auch alle Anwesenden auf dem Weg vor der herausgebrochenen Latte herum.

 

Um es kurz zu fassen: Man drang einige Schritte weiter vor, dem Unterholz zu, und stieß nach der ersten Wegbiegung auf die Leiche des unbekannten Patienten, die Leiche Erich Tadischs, wie man sie später als solche einwandfrei agnoszierte. Sämtliche bekannten Eigenheiten aus den Untersuchungen und Sektionen nach dem Blendlaterneereignis bestätigten sich, einschließlich der Einzelheiten des diesmal nun sorgfältig berücksichtigten Gebisses.

Die Leiche hing in Brombeerdornen, unter den Lenden von einer niedergebeugten Stechpalme etwas vom Boden hochgehoben. Sonst wäre sie auf den Rücken gefallen. Der Kopf baumelte nach unten. Die rechte Hand berührte gerade noch die Erde. Sie umklammerte krampfhaft eine Browningpistole, deren Magazin sieben Patronen enthielt. Die achte steckte im Lauf, feuerbereit. Die neunte aber hatte augenscheinlich die rechte Schläfe Tadischs gesprengt. Die Umgebung der lappig-zerfetzten Einschußwunde war von Pulverrauch leicht versengt und bläulich. Die Haut zeigte zahlreiche Einrisse, wie wenn sie unter hohem Druck geplatzt wäre. Kein Zweifel, daß der Schuß aus allernächster Nähe abgegeben sein mußte. Eine Ausschußöffnung fand sich nicht. Die Kugel war demnach steckengeblieben. Sie wurde später bei der Sektion im Gehirn freigelegt und entsprach den übrigen Geschossen, mit denen der Browning geladen gewesen war. Die rechte Hand Tadischs zeigte keine Pulverversengung. An der Wunde und an den Augen des Toten klebten Trauben von Fliegen.

Calden und Michalina traten zurück, wie auch die übrigen, außer dem Landesanwalt, der mit seinen Gehilfen eine minutiöse Aufnahme des Ortsbefundes machte. Alles lief zunächst in aufgeregtem Durcheinander um den Toten hin und her. Dann ließ man einen Photographen kommen, verfertigte zahlreiche Bilder, untersuchte die Effekten des Verschiedenen und traf in der Rocktasche des Sportsanzuges, denn einen solchen trug die Leiche, auf einen verschlossenen, mit Schreibmaschine geschriebenen Brief. Soviel erhellte schon die erste Lektüre: das Schreiben enthüllte ein volles, erschütterndes Bekenntnis zur Mordtat in der »Blendlaterne«. Oberhalb des rechten Knies unter den Sporthosen Tadischs steckten zwei offenbar in geistiger Umnachtung geschriebene Zettel voll verworrener Koprolalien. Das vorläufige Ergebnis, dem das Protokoll des Landesanwalts Ausdruck verlieh, lautete auf Selbstmord.

Man war mit sämtlichen Aufzeichnungen und Feststellungen bis zum zwei Uhr mittags ununterbrochen beschäftigt. Man fühlte sich durch das Gesehene und Erlebte allgemein äußerst abgespannt, ermüdet und trotzdem hungrig.

Einiges Befremden erregte Michalina. Als der Landesanwalt eben Befehl gab, Tadischs sterbliche Überreste, um sie wegzubringen, in einen mittlerweile herbeigebrachten Sarg zu legen, trat die heute im Gegensatz zu sonst schwarz gekleidete Michalina an die Leiche und fuhr mit schwarzen Seidenhandschuhen in sämtliche Taschen der Kleidung Tadischs. Dabei betrachtete sie ihre Fingerspitzen eine nach der anderen, begnügte sich aber immer noch nicht, sondern kehrte sämtliche vier äußeren und die beiden inneren Rocktaschen des Sportsanzuges, die beiden vorderen Taschen und die Revolvertasche hinten in den Sporthosen nach außen, ja, sie drehte die Ränder beider Kniehosenröhren (rechts hatte man also die Dokumente gefunden) um und um und besichtigte alles genau. Tadischs Hauptschreiben, das wir im folgenden Kapitel mitteilen werden, war während des Untersuchens und Protokollierens von Hand zu Hand gegangen.

Calden hatte es Michalina zum Lesen ebenfalls hingereicht. Sogleich übrigens, als Calden die verdutzten Gesichter der umstehenden Amtspersonen wahrnahm, trat er neben »seine« Michna, was wohl verhinderte, daß jemand ihrem Tun wehrte. Einige Fragen, die er dann, nachdem Tadisch eingesargt war, stellen wollte, sollten später behandelt werden. Man sei wirklich zu müde, bedeutete der sichtlich gereizte Landesanwalt.

Das heißt, diese Fragen wurden nach Ansicht der anderen samt und sonders im umfangreichen Dokument, welches wir »das Geständnis« betiteln wollen, von Tadisch selbst beantwortet. Ausnahmslos. Denn der eine Punkt werde sich offenbar nie aufklären lassen, nämlich, daß ein Wärter derjenigen Abteilung, welche dem Hof, aus dem Tadisch ausgebrochen war, am nächsten lag, des bestimmtesten versicherte, zwei zeitlich etwa fünf Minuten auseinanderliegende Schüsse gehört zu haben. Nicht einen, sondern ganz bestimmt zwei. Als die Patienten im Wachsaal beim Essen saßen. Er habe sich über die Schüsse gewundert, sie aber außerhalb der Anstalt vermutet und sich nicht bemüßigt gefühlt, darüber jemand Bericht zu erstatten. Es war ein etwas gleichgültiger und nicht sehr zuverlässiger Wärter. Mit der Waffe Tadischs konnte nur ein Schuß abgegeben worden sein. Jedermann unter den Anwesenden wußte über die Zuverlässigkeit von Aussagepersonen Bescheid. So wenigstens urteilten Justizminister Windfaner, Untersuchungsrichter Leberstein, die Professoren Bäuchlings und Divider, als sie im späteren Nachmittag zusammen aus unserer Stadt eintrafen und sich mit feierlicher Autorität der Annahme des Selbstmordes anschlossen. Damit war der Schlußstrich unter eines der furchtbarsten Dramen gezogen, das unser Vaterland in seiner Verbrecherstatistik aufzuzeichnen hatte.

Michalina und Calden benutzten die Frist, die ihnen bis zur Rückfahrt am Abend blieb, um einen Rundgang um den weitläufigen Anstaltspark zu machen. Sie entdeckten aber nirgends einen Defekt in der Umzäunung, keine Durchschneidung des überall reichlich angebrachten Stacheldrahtes. Es gab, außer dem Haupttor, drei massive Zauntüren. Sie waren alle verrammelt. Eines der Schlüssellöcher zeigte sich gänzlich eingerostet. Die entlegenste der drei Türen wurde wohl kaum je benützt. Die anderen beiden Pforten ließen höchstens erkennen, daß sie von Zeit zu Zeit, wohl in den letzten Tagen, in Gebrauch gewesen waren.

Sie hatten die Untersuchung der Schlösser vorher nicht miteinander verabredet. Nach dem erfolglosen Befund begegneten sich ihre Augen und beide lächelten.


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