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33. Kapitel.
Michalina.

Als Abraham Real am fünften Februar das ausbrechende Feuer der »Blendlaterne« bemerkte und als er mit aller Kraft und Wucht auf den Verbindungsgang zwischen dem Atelier Schnarp und dem Platanenhof einhämmerte, um den Flammen das Übergreifen zu erschweren, hatte sich ihm ein Fräulein zur Seite gestellt. Wacker griff es mit seinen schmalen Händen zu, zerrte Bretter weg, riß an den Latten. Wie andere Vorübergehende auch, die hinzukamen und die Absicht des alten Herrn verstanden. Das Fräulein warf den Fohlenpelz, in den es eingehüllt war, von sich, packte so kräftig an, wie man es ihm bei seiner grazilen Gestalt gar nicht zugetraut hätte, schlitzte sich erst noch im Eifer an einem hervortretenden Nagel sein rotes Seidenkleid auf, das von einer Schärpe umgürtet an ihm herabfloß und gar nicht zum Handwerk, mit dem es sich da plötzlich betätigte, geeignet schien.

Als dann mehr Menschen hinzugelangten, auch Feuerwehrleute, und den Zwischenbau endgültig niederbrachen, schaute das Fräulein sich etwas hilflos um, zog seinen Pelz wieder an, begegnete dabei dem Blick des alten Arztes und trat auf ihn zu.

»Herr Doktor Real, es ist eigentlich gar nicht so zufällig, daß ich Sie hier oben antreffe, war ich doch mit der Absicht auf den Berg gestiegen, Ihnen heute meine Aufwartung zu machen.«

»Da wir hier weiter nicht mehr vonnöten sind, darf ich Sie trotz Lärm und Aufregung bitten, bei mir einzutreten.«

»Gerne.«

Oben stellte sich dann heraus, daß das Fräulein am Arme, wo der rostige Nagel den Rock aufgeschlitzt hatte, blutete. Real fand die Wunde auszuwaschen für nötig und fragte das Fräulein, ob Jungfrau Hermine einen Stich am Kleide nähen könne. Ungewollte Zärtlichkeit zu der neuen Bekannten keimte in ihm auf.

Was jedoch merkwürdiger war: Jungfrau Hermine rumorte zwar in der Küche herum, klirrte aber schon gar nicht mehr mit dem Geschirr, brummte nur vor sich hin: »Das schöne Fräulein! Das doppelsokratisch anmutige Fräulein!«

Es fiel diesem Fräulein, das sah man ihm an, im ersten Augenblick keineswegs leicht, sich mit Körper und Kleid vor dem alten Arzt zu befassen. Nach einer Art Kampf, der merklich in ihm vorging, sagte es lächelnd:

»Entschuldigen Sie mich, Herr Doktor. Wenn auch Ihre Jahre und etwas anderes, das Sie später von mir vernehmen sollen, mir manches erlauben, so bin ich doch ungern gerade in dieser ›Situation‹ vor Ihnen.« Das Fräulein sprach fließend deutsch, mit slawischem Akzent, die Vokale gedehnt.

»Es wird Sie sonderbar anmuten, wenn ich gleich so viel rede, und noch dazu etwas geheimnisvoll tue«, fuhr das Fräulein fort. »Außerdem kostete es mich einen gewissen Entschluß, Sie aufzusuchen. Ich wäre wohl auch heute nicht gekommen, obschon es mich täglich dazu trieb, wenn nicht ein eigentlicher Auftrag mir dies geboten hätte.«

Das Fräulein kehrte in den Korridor zurück und holte aus dem Fohlenpelzmantel einen gelben Briefumschlag.

»Es war vorhin unvorsichtig, als ich mich Ihnen zur Seite stellte, um mit Ihnen die Holzwand zusammenzuschlagen, daß ich den Mantel und die inliegenden Papiere hinwarf, wo es sich gerade traf. Denn Ihnen und mir hätten Unannehmlichkeiten daraus erwachsen können, falls jemand Unberufener sich sie angeeignet haben würde. Ich möchte Sie auch um eines bitten, – lassen Sie mir das Vergnügen, Ihnen meinen Namen vorderhand nicht zu nennen. Man schilt mich Michalina oder Michna und wenn Sie sich dieses Anrufs bedienen wollen, so kann ich Ihnen versichern, daß es Ihnen zusteht. Wollen Sie nun die hiemit überreichten Briefe lesen. Da Sie russisch verstehen, brauche ich Ihnen wohl nicht zu übersetzen.«

Reals Erstaunen wuchs mehr und mehr. In der Tat empfing er, übrigens nicht auf Papier, sondern auf weißen Futterstoff geschrieben, Nachrichten von Freunden, von denen er seit Kriegsausbruch nichts mehr gehört hatte. Das heißt, vom einen wußte er, daß er nach Sibirien verbannt, vom andern, daß er sich unter falschem Namen in einer großen Stadt des Zarenreiches verborgen gehalten hatte. Man darf nicht vergessen, daß zu jener Zeit unverfälschte, unzensurierte Nachrichten noch sehr selten durch die hermetisch abgeschlossenen Grenzen drangen. In den übermittelten Zeilen fand sich Gewißheit, daß eine ungeheure Sturmflut der Volksmassen einsetzte, daß sich das russische Volk vom Druck der bisherigen Machthaber endgültig befreien sollte. Reals Freunde, welche direkt um Lenin und Trotzki herum am Werk waren, ersuchten ihn, sich von unserer Stadt aus zu beteiligen und im Moment, wo es drüben ausbrach, auch bei uns eine Bewegung zu entfachen.

»Kennen Sie den Inhalt der Briefe, Fräulein Michalina?« fragte der alte Arzt.

»Ja, sie wurden Bekannten von mir in die Kleider eingenäht und auf Stoff gekritzelt und, wie Sie sehen, so mitgegeben.«

»Was denken Sie darüber?«

»Daß es herrlich wäre, wenn das Weltproletariat, oder sagen wir besser, wenn die großen Massen sich wie ein Mann erheben könnten, die lästigen Fesseln des Militarismus abstreiften, dem Krieg und Morden ein Ende bereiteten und sich, verzeihen Sie die Phrase, – die Hände zu kultureller Arbeit, zur Umformung der Weltwirtschaft reichen würden. Aber so wird es einstweilen nicht geschehen.«

»Kennen Sie die hiesigen Verhältnisse?«

»Ich bin seit einigen Monaten hier. Die Briefe sind zwar eben eingetroffen. Sie werden mir aber eines Tages sehr böse sein, daß ich so lange im Lande weilte und noch nicht bei Ihnen vorsprach.«

Real schien das alles unwirklich, romantisch, fast überspannt. Auch der Ton des Mädchens (er nannte es so bei sich). Etwa fünfundzwanzig mochte es sein.

Michalina hielt ein, da sie beobachtete, daß er über etwas nachdachte. Als er sie anschaute, fuhr sie fort:

»Ja, Sie werden mir eines Tages sehr böse sein. Aber ich mußte wissen, ob ich Ihnen lästig falle oder nicht.«

»Mich dünkt vieles so ungereimt, so lückenhaft, was Sie erzählen.«

»Ist ganz natürlich, wenn Sie den Schlüssel dazu besitzen.«

»Öffnen Sie doch!«

»Noch nicht, obschon ich Sie aufrichtig, inniglich verehre.«

»Fast eine Liebeserklärung.«

»Fast.«

Dann schwiegen beide. Michalina lächelte vor sich hin. Hermine brachte den notdürftig geflickten Rock.

»Also, ich wollte vorhin sagen, daß ich schon seit geraumer Zeit zu Ihnen kommen sollte.«

»Wozu?«

»Um Ihnen etwas sehr Geheimnisvolles mitzuteilen.«

»Mehr als in den Briefen da steht?«

»Völlig anders. Was mich selber betrifft.«

»Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Sie erkundigten sich vorhin, ob ich die Verhältnisse hier kenne? Ja, einigermaßen, wiewohl ich mir nicht einbilde, daß es leicht ist, in das Wesen dieses Landes, seiner Bewohner und Einrichtungen, die durch Geschichte und Tradition, durch ihre Abhängigkeit von der draußen brandenden Welt sehr verwickelt sind, einzudringen. Ich verkehrte hauptsächlich in den Arbeitervierteln und sah die Aussichtslosigkeit, auf eine baldige, allgemeine Aktion, die erfolgreich sein könnte, zu hoffen.«

»Und hoffen Sie dies?«

»Heute noch nicht. Wann, weiß ich ebenfalls nicht. Meiner Ansicht nach solange nicht, als die einzelnen Menschen nicht ganz gewandelt sein werden. Das hat für mich folgenden Sinn: Unsere sozialrevolutionären, maximalistischen und minimalistischen Führer sind ebenso in der Tradition ihrer einseitig orientierten Lehren befangen, wie die Führer der heute bestehenden Ordnung. Die unsrigen kennen ausschließlich die wirtschaftliche Umgestaltung, ausschließlich den historischen Materialismus. Die heute Regierenden ausschließlich den Materialismus ihrer privilegierten und durch den Gegenwartserfolg, den Bestandeserfolg geheiligten Tradition. Also den traditionellen Materialismus im Gegensatz zum geschichtlichen.«

»Sie sind doch eine echte Russin. Kaum eingetreten, fängt es zu diskutieren an.«

»Sie fragten mich ja.«

»Reden Sie nur weiter. Was wäre nach Ihnen noch nötig, um einer Revolution den geeigneten Boden zu schaffen?«

»Eben die Umwandlung des einzelnen Menschen in der Gesellschaft. Ich weiß, Doktor Real, Sie lachen nun über mich. Sie werden mich gleich bürgerlich schelten. Sie werden mich gleich belehren, daß die wirtschaftliche Verbesserung der Welt auch deren Ethik bestimme. Und doch sage ich Ihnen hier nein und Sie werden mich, so sehr Sie mein Vater sein könnten, nicht belehren.«

Real gestand sich, daß er von jeder andern dieses Gespräch nicht ertragen hätte. Er wußte, daß er, wenn es sich um das Problem der wirtschaftlichen Umwälzung handelte, intolerant wurde. Aber hier gelang es ihm auf einmal, sich gesellschaftlich zu beherrschen. Mehr noch, es war ihm so zumute, daß er dem Mädchen aus der Fremde am liebsten gleich jetzt schon alles, was er hatte und vermochte, unter die Füße gelegt, ihr irgend etwas Liebes, Zärtliches zugefügt hätte.

Hermine brachte von sich aus Tee und Gebäck.

»Und was fiel Ihnen denn auf, daß Sie glauben, eine Erhebung und Bewegung, auch bei starkem Sturm draußen, werde bei uns zu nichts führen?«

»Soll ich wirklich antworten? Eigentlich schäme ich mich, Ihnen zu bestätigen, daß jede Russin gleich mit Diskutieren anfange. Sie meinen natürlich die russische Studentin. Was ich mitzuteilen weiß, haben Sie ja so oft schon gepredigt und durchgedacht. Kennen Sie übrigens die russischen Studentinnen gar so gut?«

Michalina lächelte schalkhaft und zeigte, so abgebraucht das Bild für einen Romanschreiber und Chronisten ist, zwei Reihen blendender, ausnehmend schön aneinandergefügter Zähne. Ihr Gesicht war oval, mit einer leichten Andeutung tatarischer Backenknochen, echt weiblich, frisch, lebendig, sogar etwas sonnverbrannt, um seines Ausdrucksreichtums willen schwer zu beschreiben, bis auf die Augen, die rehfarbig, immer wieder glanzvoll aufstrahlten und durch das stets wache Spiel um die Lider eine schaffende Intelligenz verrieten.

»Ja, ich war mit einer russischen Studentin verheiratet.«

»Waren Sie?«

»Ja, hab' mich aber scheiden lassen.«

Real brach kurz ab.

»Ich bin übrigens keine Studentin. Das heißt, ich habe mehr für mich selbst studiert. Meine Mutter, Ärztin, erzog mich ausschließlich mit Hilfe von Hauslehrern. Nicht luxuriös. Hingegen verwandte sie alles auf mich und hat es, wie Sie zugeben müssen, nicht schlecht angelegt.«

»Auch das Selbstbewußtsein fehlt bei Ihnen, wie bei Ihren übrigen Landsmänninnen nicht.«

»Selbstverständlich. Ich weiß, was ich kann und bin. Ich habe viel gelesen, gearbeitet, wenn's darauf ankam, mit Ehrgeiz. Sie wundern sich, daß ich mich Ihnen so vorstelle. Ich will Ihnen noch mehr sagen: Ich erlebte mancherlei. Den ganzen Krieg hindurch leitete ich ein Hospital, obschon also nicht Ärztin und bekleidete, wie Sie aus den überreichten Briefen ersehen, eine gewisse Stellung in der Bewegung. Verliebt war ich unzählige Male, geliebt habe ich nicht. Ich liebe es aufrichtig, wenn man mir den Hof macht und ich bin auch gewohnt, daß man dies tue.«

»Meine grauen Haare sind nicht wegzuleugnen, Fräulein Michalina, aber auch ich möchte zu Ihrem Hofe gehören.«

»Den ich nicht besitze. Hier hause ich ganz für mich. Das heißt, wie ich Ihnen schon andeutete, ich besuchte Arbeiterversammlungen. Ich bildete mir meine Meinung. Ich hörte auch Sie schon sprechen und ich möchte mich mit Ihnen herumstreiten, wenn sich Gelegenheit bietet. Jetzt muß ich gehen. Ich werde wieder erscheinen, wenn ich darf.«

»Jeden Tag.«

»Ich nehme Sie beim Wort.«

Und Michalina ging.

»Das schöne Fräulein, das doppelsokratisch anmutige Fräulein«, brummte ihr Hermine fast liebkosend nach.

»So sah meine Frau aus. Nur blond. Und ihr Haar ist schwarz, gerade wie meines war.«

 

Michalina stieg in der Tat seither jeden Abend zu Abraham Real auf den Berg und lernte dort auch Staatsanwalt Calden kennen. Den beiden Freunden kam es keinen Augenblick in den Sinn, wie sehr sie sich mit der so eigenwillig gekleideten, gar nicht so recht an die modische Welt angepaßten Fremden heimisch fühlten und wie sie keine Geheimnisse vor ihr bewahrten. Während sich Real gerade in diesen Tagen mit allen möglichen Strömungen in unserer Arbeiterbewegung stark beschäftigte, angeregt durch die Briefe, welche ihm Michalina überbracht hatte, nahm daneben doch auch der Mord in der »Blendlaterne« die Freunde lebhaft in Anspruch.

Gleich in den ersten Stunden schon erwies Michalina dem alten Arzte jede erdenkliche Aufmerksamkeit. Sie gab sich lustig und natürlich um ihn herum, erklärte ihm bei jeder Gelegenheit, er sei nun ihre neueste und innigste Passion. Sie zeigte dazu ein so strenges Gesicht, daß Real das Herz klopfte. Ernstlich ermahnte er sich, bei seinen Jahren keine Streiche mehr zu begehen. Gleich nachher mußte er darüber lachen, daß er überhaupt auf einen derartigen Gedanken hatte geraten können. Den Staatsanwalt behandelte Michalina borstig und aggressiv.

Sie hatte eine Art, den Leuten das, was sie für wahr hielt, ins Gesicht zu sagen, daß man ihr mit Recht den Ausdruck des enfant terrible beilegte. Zudem stimmten und trafen ihre Beobachtungen. Sie fand gleich heraus, daß Calden in seiner Beamtung gar nicht auf so sicheren Füßen stand. Sie konnte nicht verkennen, daß er am liebsten den ersten Teil seines Titels abgesägt hätte. Es bot sich nur keine Gelegenheit. Sie stellte fest, daß er ein vorzüglicher Anwalt derjenigen sei, die er von Rechtes wegen anklagen mußte. Sie sah den vornehmen Kameraden und unbeirrlich treuen Freund, der das, was er einmal in langsamer, sorgfältig wachsender Neigung lieben gelernt, nicht mehr missen mochte. Sie durchschaute dagegen auch, wie er knietief in allen Vorurteilen seiner Erziehung und unserer Zeit drinsteckte und mit der Loslösung davon nicht zurechtkommen wollte. Sie machte Abraham Real Vorwürfe, daß er ihn inmitten seiner Nöte zappeln ließ und ihn einfach gern hatte, ohne an ihm herumzuflicken. Es bliebe ihr nichts anderes übrig, als diese Aufgabe zu übernehmen. Wo Calden sich nur die geringste Blöße gab, zwickte und zwackte sie ihn, so daß er schwor, sich mit ihr nicht mehr abzugeben, um bei nächster Gelegenheit glatt in die Fallen, die sie ihm legte, einzusteigen.

Real fand all dies kurzweilig, um so mehr, als er dadurch aus der Frontnähe selber herausgerückt wurde und sich an dem körperlich und geistig schönen Spiel, das Michalina solcherweise entwickelte, weiden konnte.

Der ruhige Calden geriet nach einigen zu dritt geführten Gesprächen gleichsam aus seiner ganzen Art heraus. In den wenigen Tagen schon wurde er beweglich, parierte die Hiebe, redete sich in Eifer, in Leidenschaft und verteidigte aus Opposition Dinge, die seine Lage nur verschlimmerten. Bis er, dem man das nie zugetraut hätte, fuchswild zu werden begann, heftig gestikulierte und manchmal sogar mit der Faust auf den Tisch schlug.

Dann erklärte Michalina, sie verkehre nicht mehr mit solchem Grobian, werde nicht mehr den Berg herauf zu so ungesitteten Gesellen und Hagestolzen klettern. Calden wiederum leistete Abbitte und kam über sein ganzes Benehmen aus der Verwunderung nicht mehr heraus.

Beriet man aber etwas Grundsätzliches, wurde Michalina sehr sachlich. Durch Kenntnisse in jeder Hinsicht, durch praktischen Blick überraschte sie den alten, erfahrenen Arzt ebenso, wie den viel naiveren Staatsanwalt. Sie verwahrte sich gelegentlich, daß man sie mit den russischen Alltagsstudentinnen verwechseln wolle. Halte sie unter ihren eigenen Altersgenossinnen Umschau, so stoße sie äußerlich wohl auf den einen oder anderen Zug, der die gemeinsame Jugenderziehung verrate. Zweifellos griffen sie alle bei jeder Gelegenheit eine Diskussion auf. Aber damit habe es dann bei den meisten sein Bewenden. Sie, Michalina, das wolle sie sehr unterstreichen, sei eine handelnde Natur und gehe ihrer Arbeit nach, wenn sie zunächst auch nichts davon verlautbaren möge.

Warf man ihr, sofern sie sich in dieser Weise selbst rühmte, vor, sie gebärde sich als Maß aller Dinge, fing sie den Pfeil vergnügt auf, erklärte, sie bedeute noch vielmehr, nämlich den lieben Gott in eigener Person. Sie wünsche als solcher behandelt zu werden. Dagegen ließ sich nicht aufkommen. Ihr Urteil stimmte, ihre kritischen Bemerkungen trafen ins Schwarze und wurmten, so daß man sich Besserung schwur und eigentlich das Gefühl hatte, einer von Natur aus überlegen geformten, vollkommenen Gestalterin in die Hände gefallen zu sein.

 

Calden saß mit Michalina am Fenster von Reals Arbeitszimmer. Nebel tauchte in den februargrauen Seen ein. Lichter glommen auf und bildeten im Dunst, der alles einhüllte, feinste Sternzacken um sich.

»Wo haben Sie eigentlich die vielen Kenntnisse her, auf die man bei Ihnen immer wieder stößt, Fräulein Michalina?« fragte der Staatsanwalt.

»Das meiste verdanke ich meiner Mutter.«

»Warum geben Sie mir so karge Antwort?«

»Weil Sie mich auskundschaften. Aber ich werde artig sein. Weiter im Text!«

»Wie und wo wuchsen Sie auf?«

»Im zaristischen Rußland. Wo anders sonst.«

»Sie brechen Ihr Wort, Michalina!«

»Also denn: Mutter widmete sich, neben ihrem Arztberuf, dem sie im Semstwo nachging, ausschließlich mir. Haben Sie je ein verwöhnteres Wesen gesehen? Äußerlich war die Mutter eher eine kalte, harte Natur. Ihre Praxis war ausgedehnt. Von weither Zugereiste konsultierten sie. Ökonomisch stellten wir uns von Jahr zu Jahr besser. Für mich war kein Hauslehrer gut genug. Mit Geld hat sie an ihnen nicht gespart. Einige meiner Erzieher dozieren heute an Universitäten. Die besten von ihnen helfen gerade jetzt die anglimmende Revolution schüren und gehören zu denen, die nicht reden, sondern tätige Arbeit verrichten.«

»Studierten Sie, Michalina?«

»An vielen, auch an auswärtigen Universitäten. Hauptsächlich Naturwissenschaften und Medizin. Aber, da meine Mutter wenig auf Diplome gab und ich noch weniger, will ich Ihnen meine Mandarinenknöpfe nicht vorweisen. Die Aufgabe ist wichtiger als das Diplom. Und mit der Arbeit geht's wie mit dem Spiel der Kinder. Je schöner das Spiel, desto heißer die dabei geleistete Arbeit. Der Zweck der Arbeit wird mich nie verzehren. Spielend arbeiten, arbeitend spielen, was meinen Sie dazu, Herr Staatsanwalt?«

»Mich haben Sie manchmal verblüfft, wie Sie in den Rechtsbegriffen Bescheid wissen. Und unseren Freund Real nicht minder, wenn Sie über medizinische Theoreme mit ihm die Klinge kreuzen. Sonderbar, wie sich in solchem Frauenkopf alles zu drehen vermag.«

»Sie schäbiger Antifeminist! Sie hochnäsiger Herr der Schöpfung! Sie geruhen, sich über die Dame lobend zu verwundern, die den Anschein macht, als könne sie ebensoviel wie ein Mann.«

»Aber Fräulein Michalina! So war es doch nicht gemeint. Erzählten Sie nicht, Sie hätten sogar Kriegsdienst getan?«

»Ja, Verehrtester! Wenn Sie nichts dagegen haben, sogar Lazarette, sogar ein Spital geleitet. In Unterständen haben wir gehaust. Haben eigenhändig vom Schlachtfeld die Verwundeten und Kranken in Sicherheit geschleppt. Männer gaben sich dazu nicht mehr her. Jahrelang sind wir nicht aus klobigen Schaftstiefeln herausgekommen.«

»Es fällt mir schwer, mir dies heute vorzustellen«, sagte Calden und dachte, wie aus feinen, sämischledernen Halbschuhen, von weißen Seidenstrümpfen umspannt, die Fesseln Michalinas gazellenschlank in den farbigen Kelch ihres Rockes aufstrebten.

»Eine Nacht werde ich nie vergessen, – bin lange nachher von Kräften gewesen – wie wir in einer Scheune die Lebenden unter den Toten herausgruben. Lebende und Tote hatte man auf dem einen der wenigen Vormärsche unserer Armee übereinandergeworfen und liegen gelassen. Aber reden wir nicht davon!«

»Mir tut heute noch das harte, gefühllose Stiefelleder für Sie weh!« sagte Calden mit gerührterer Stimme, als er es zeigen wollte.

»Ich verbitte mir dringend jegliches Mitleid. Ich bin weder ein weiches, noch ein gütiges, noch gar ein sentimentales weibliches Wesen. Im Gegenteil, ich bin streng, böse, tätig und tätlich, ein Draufgänger, immer zum Handeln und Händeln, zum An- und Zugreifen bereit!«

 

An diesen und ähnlichen Dingen nährte sich ein Teil der Unterhaltungen, die seit Michalinas Eintreffen in der Realschen Wohnung oder besser, in Reals Arbeitszimmer stattfanden. Denn in den anderen Räumen des Platanenhofs hämmerten und reparierten die Handwerker an dem durch die Feuerwehr angerichteten Wasserschaden. Auch der alte Arzt gelangte aus der Verwunderung über sich selbst nicht hinaus. Tatsächlich band er sich farbige Krawatten um, weil Michalina geäußert hatte, daß sie zu seinem grauen Haare gut stünden. Er widmete sogar seinen Kleidern mehr Sorgfalt, obschon er nie nachlässig darin gewesen war. Kurz, er prüfte sich ernstlich, ob er verliebt sei.

»Was meinen Sie, Michalina«, erkundigte er sich am Montag, am vierten Abend ihrer Bekanntschaft, »sollte sich ein Mensch wie ich nicht wieder an den Gedanken gewöhnen, einen Kameraden wie Sie dauernd um sich zu haben?«

»Aber dazu gehören doch mindestens zwei.«

»Und wenn man die Zweite zu fragen sich getraute?«

In diesem Augenblick trat Calden ein.

»Herr Staatsanwalt, was meinen Sie, wenn mir Doktor Abraham Real eine Art Antrag machen würde, bei ihm zu wohnen, was soll ich ihm darauf antworten?«

»Konnte er tatsächlich an derartiges denken?« entgegnete der Staatsanwalt leise. Aber er schien gar nicht besonders guter Laune zu sein. »Eigentlich müßte ich ihm abraten, einem Quecksilber wie Ihnen auch nur im Spaß einen so überaus gefährlichen Gedanken vorzutragen.«

»Für Sie möchte das allerdings nichts taugen. Denn ein Staatsanwalt sehnt sich nach Ruhe. Oder nicht?«

»War das nun ein Antrag an mich?«

»Und wenn?«

»Um Gotteswillen, nur mir nicht! Aber Reals Alter, das vielleicht jünger ist, als unser beider zusammen, würden Sie farbig und lebendiger, kurzweiliger, wie er sagt, gestalten.«

»Im Ernst, Doktor Real, wollen Sie nicht doch einmal wissen, wer ich eigentlich bin?«

»Ist das nötig?«

»Wenn ich es für gut finde, dann sicher. Aber vorerst habe ich noch etwas zu bemerken. Meine Mutter weiß selbstverständlich, daß ich in hiesiger Stadt weile. Sie erlaubte mir, als ich mich von ihr verabschiedete, ich dürfe mich dort nach einem gewissen alten Herrn umtun, wenn ich es für gut fände. Ich könne unter Umständen auch bei ihm bleiben, wenn er mir gefalle und mich behalten wolle.«

»Sie reden auch merkwürdig. Wenn wir Sie nicht schon so genau kennten, möchte man denken, Sie hätten es zielbewußt und versorgungshalber auf einen ergrauten Knaben abgesehen.«

»Doch nicht ganz. Ich bin völlig unabhängig. Ich bin für die Zeit, die ich hier ausharren will, mit Geld ausgerüstet, brauche niemand. Ich habe auch wenig Bedürfnisse. Außer den paar Fähnchen, meinen Kleidern, einem anständigen Zimmer und meinen Büchern, auf die ich nicht gerne verzichte, würde ich nichts entbehren.«

»Was meinten Sie denn vorhin?« fragte Real verstimmt.

»Nun, meine Mutter wies mich folgendermaßen an: Wenn du in die und die Stadt, eben in die, in welcher ich jetzt bin, gehst, kannst du dich auch um jenen alten Herrn bemühen, der oben auf dem Berge wohnt, Arzt ist und den Namen Abraham Real trägt.«

»Ich kenne Ihre Mutter?«

»Genau.«

»Nicht möglich. Studierten wir zusammen?«

»Freilich.«

»Im Ernst?«

»Wollen Sie meinen Paß visitieren?«

Zitternd griff Real darnach, strich sich dann mit der Hand über die Augen und rannte aus dem Zimmer.

Michalina trat ans Fenster und lehnte sich weit hinaus.

Calden hob den Paß auf, der Real entfallen war.

»Michalina Real heißen Sie? Die Tochter Abrahams? Die Tochter der Marja Jakowljewna Romanowa? Um Gotteswillen, habe ich richtig gelesen?«

Michalina nickte und fuhr sich mit dem Handrücken gleichfalls über die Augen.

»Ja, aber Real hatte doch keine Kinder?«

»Er wußte nie davon, daß ich geboren wurde.«

»Wie war das möglich?«

»Meine Mutter galt immer als Sonderling, wie übrigens in seiner Art auch der Herr Vater«, sagte nun Michalina, trat wieder ins helle Zimmer zurück und lachte vergnügt. »Dummes Wesen, der Mensch, der zu heulen anfängt. Die Sache ist ganz einfach. Als meine Mutter in der Verbannung lebte und am Typhus erkrankte, – –«

»Ich kenne die Geschichte«, nickte Calden. »Abraham gab mir einmal seine Jugendaufzeichnungen zu lesen.«

»Als meine Mutter wieder gesundet war, kurz vor dem Abschied, wohnte mein Vater ihr, so schilderte es mir meine Mutter, die mir immer alles erzählte, ein einziges Mal bei. Und ich bin die Frucht dieses einzigen Mals. Nettes Früchtchen, nicht wahr?«

Michalina brachte dies alles absichtlich sachlich, fast geschäftsmäßig vor, denn sie fürchtete, wieder gerührt werden zu wollen. Plötzlich aber lief sie ins andere Zimmer, wohin Abraham Real verschwunden war, umarmte ihn, küßte ihn auf beide Wangen und lächelte ihm zu:

»Bei uns Russen macht man dies, wie Sie ja wissen, so! Ich werde Sie von nun an doch Papotschka nennen. Aber Du kann ich Ihnen noch nicht sagen. Und ich bin zärtlicher, als meine Mutter gewesen. Ich muß zärtlich sein und ich will zärtlich sein und will Ihnen eine Weile Gesellschaft leisten, heraufkommen, wie bisher, jeden Abend, wenn Sie mich rufen, denn ich liebe Sie schon lange, kenne Sie schon seit Wochen und Monaten, weil ich Sie immer beobachtete und weil ich mich immer fürchtete, an Sie heranzutreten. Wären Sie ein Scheusal gewesen, hätte ich mich nie zu Ihnen bekannt. Und auch die Mutter wollte es dieserweise. Aber, ich bin wirklich voll Freude, Sie lieber alter Herr Vater. Entsinnen Sie sich, daß Sie grade im Begriff waren, mich mit einem Heiratsantrag zu beglücken? Ist es für uns beide jetzt nicht viel schöner und einfacher geworden?«

Und dann saßen die drei noch tief in den Abend. Sie diskutierten auf die ihnen schon vertraute Art, während Abraham Real Michalinas Hand ununterbrochen streichelte, sie immer wieder anschaute.

Jungfrau Hermine, als sie von der unglaublichen Geschichte hörte, tanzte einen steifen Polka, immerhin einen Polka, in der Küche. Aber es gibt solcher unglaublicher Geschichten im Leben. Viel mehr, als man es dem Romanschreiber gewöhnlich gelten läßt.


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