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1. Kapitel.
Doktor Tadischs Ankunft im »Maulbeerbaum«.

Dem Doktor Erich Tadisch mußte gerade ein Furunkel mitten auf der Nasenspitze sitzen, als er den Zug, der von der Landesgrenze gekommen war, verließ. Er hatte daran herumgedrückt, daß ihm die Tränen übers Gesicht flossen. Er mußte sein Taschenspiegelchen, er trug wirklich eines, in rotes Saffianleder eingefaßt, immer wieder konsultieren, und das Wachstum seines sonst eher langgezogenen Vorgebirges in die Breite mit steigender Unruhe verfolgen. Abgesehen von der Röte, die einem alten Schnapssäufer alle Ehre eingelegt hätte. Trotzdem Doktor Tadisch Abstinent, fanatischer Alkoholhasser und Vegetarier war.

Natürlich besaß Erich Tadisch seine Theorie dafür, seine Lehre, die er mit todernster Miene vorbrachte, wenn er sich ausnahmsweise einmal einem anderen Menschen anvertraute. Seine »prophetische Erkenntnis«, von der er jederzeit geschworen hätte, die Menschheit wäre, sofern sie sich nämlich zu einer Art Buddhismus bekehrte und das Töten der Schlachttiere aufgäbe, durch sie zu erlösen. Dann würde jeder Mordinstinkt dahinschwinden und jeglicher Hang zum Kriegführen und zu blutigen Revolutionen ausgerottet werden. Er betrachtete diese Anschauung übrigens als literarisches Eigentum und hätte, falls es möglich gewesen wäre, das Amt für geistiges Eigentum dafür angerufen.

Jedesmal, wenn er an der geschwollenen Nase fingerte, empfand er ohnmächtigen Groll gegen Himmel, See, Schneeberge, vergnügte Reisegenossen, die unverschämterweise nicht zu bemerken schienen, daß er aus einem kriegführenden, hungernden, ausgemergelten, gepeinigten Lande kam, erfüllte ihn Wut gegen Kreaturen, die mit Generalstabsberichten verschmierte Zeitungen lasen, Mundvorräte unbegrenzt aus Reisetaschen beförderten, Schieber- und andere Geschäfte verhandelten, sich je nach Beruf und Bildung, nach Zweck und Ziel der Fahrt über die Gegend äußerten, als ob sie deren Urheber gewesen wären. Kurz, er befand sich in aschgrauer Verfassung, während er in der verrußten Bahnhofshalle dem Wagen entstieg.

Doktor Tadisch pflegte sich durch die Welt zu bewegen wie einer, der stets besorgt sein muß, um seines Schriftstellerruhmes willen erkannt zu werden. Er bildete sich sogar ein, daß ihm dies peinlich sei, verriet aber dadurch nur zu sehr den beiläufigen Wunsch, wie gern er von Groß und Klein als sein Abbild aus einer Illustrierten gegolten hätte. Die Purpurnase bot ihm für diesmal wenigstens den Trost, man werde ihn nicht sofort bemerken, was alles ihm schließlich die Illusion gewährleistete, im Grunde von soundso vielen bedingungslosen Verehrern vergeblich erharrt worden zu sein. Denn er gehörte zu jenen Menschen, die möglichst in Verdrehungen und Umkehrungen der Wirklichkeit leben, schon weil sie die Wirklichkeit nicht zu ertragen vermögen.

An beiden Armen behängt mit zwei mäßig eleganten Koffern, keineswegs aus Leder, übertrug er sie gegen seinen Vorsatz – er wollte sparen – doch einem Dienstmanne und beobachtete unverzüglich eine Gruppe stutzerhaft gekleideter exotischer Jünglinge, wie sie an den Vorbereitungsinstituten zur Maturität in unserer Stadt massenweise herumliefen. Doktor Tadisch erlauschte, als er sich durchs Gedränge schleppte, ganz bestimmt seinen Namen. Und er glaubte nun fest, seine entstellte Nase habe die Jünglinge davon abgehalten, ihn als den längstersehnten Führer der modernen Geistigkeit willkommen zu heißen.

Doktor Tadisch war überzeugt, daß Kriegsereignisse, Friedensvermittlungen, Revolutionen, Staatsverträge von den wenigen expressionistischen Zeitschriften abhingen, an denen er mitarbeitete. Er zweifelte nicht daran, daß ein von ihm veröffentlichtes und in bizarrem Deutsch geschriebenes Bändchen Antikriegslyrik, wie es nur wenige Auserlesene nachzuempfinden vermochten, erstaunlichen Einfluß auf den Verlauf der Weltgeschichte ausgeübt hatte.

In Doktor Tadischs längliches, trotzdem leichtverquollenes und quittengelbes Gesicht senkte sich jetzt ein mißmutiger Zug, der im natürlich gewachsenen, aber wie sorgfältig assyrisch gepflegten und feuerroten Bärtchen verlorenging. Künstlermähnen, Locken waren ihm greulich. Da ihm zu seinem Leidwesen von Natur aus Kraushaar wuchs, sah er sich häufig genötigt, an irgendeinen Brunnen einer Toilette – er lebte fast ausschließlich in Kaffeehäusern – zu verschwinden, um sich mit genässten Händen das widerspenstige Gekräusel glattzustreichen. Auch wäre er lieber vollrasiert gegangen. Dieweil sich beinahe sämtliche anderen Literaten bartlos trugen, nahm er sich eben durch sein rotes Gesichtsanhängsel aus. Zudem verdeckte es einigermaßen die immer mit Wattebäuschchen verpfropften Ohren, die senkrecht zum konisch nach oben zustrebenden Schädel abstanden. Er war vierzig Jahre alt.

Doktor Tadisch ärgerte sich im Bahnhofhallengedränge letzten Endes doch, daß ihn die »Kollegen« nicht empfingen. Wozu war ihm denn auf Postkarten, engbekritzelt und immer einige Witzlein über die eigene Person entbietend, die Nachricht von seiner Ankunft vorangegangen?

Auf der Fahrt dem See entlang, seine Wut- und Schmerzenstränen um seines Furunkels willen mit des Sees strahlenversengender Bläue begründend, hatte er zugleich am Entschluß herumgegrübelt, ob er sich nicht bei den Provinzliteraten mit einem Wort über die Kitschigkeit und Hotelprospektästhetik unserer heimatlichen Natur einführen solle. Etwa folgenderweise:

»Noch mästet ihr euch an verbeulten Emailtöpfen bukolischer Heimatkunst. Gott schnarcht euch aus grünfaulen Uferwiesen edelweißmäulig entgegen. Kropfwasser seifert ihm aus den Mundwinkeln wasserfallähnelnd hernieder.«

Wenn Doktor Tadisch zwar genau wußte, daß er solchen Spruch aus Vorsicht – er war äußerst vorsichtig – nie ausgesprochen hätte, war er doch mit einem erneuten Spannen in der vermaledeiten Nase ungehalten, daß ihm solcher Effekt verlorenging. Hoffte ihn wenigstens im Kaffee »Maulbeerbaum« anzubringen, über das er als einzige Information für seine Auswanderung verfügte.

Äußerlich erschien Doktor Tadisch nichts weniger als eitel. Seinen Kamelhaarmantel legte er unter keinen Umständen jemals ab. Auch jetzt nicht, trotzdem die Septembersonne heiß genug auf den Asphalt brannte, der am Kai längs dem Seeausflusse zum Maulbeerbaum geleitete. Im Gegenteil, Doktor Tadisch umwickelte sich den dünnen Hals mit einem graufarbenen Schal, sommers und winters, so daß sein Dichterhaupt daraus und aus dem dicken Überzieher ragte, wie der Kopf einer auf den Hinterbeinen wandelnden Schildkröte.

Ferner hatte er die Gewohnheit, den mit einem olivenfarbigen Filzchen kaum bedeckten, übrigens recht großen Schädel öfters zwischen die Schultern einzuziehen, desgleichen die Hände in die vielzulangen Ärmel, Hände, die der braunen Handschuhe nie entblößt wurden, solange man Tadisch im Freien und unter Menschen sah. Selbst in seiner Klause pflegte er meist mit bekleideten Händen zu wirtschaften. Es hing dies mit einer merkwürdigen Furcht zusammen, fremde Gegenstände anzufassen, um nicht mit irgendwelchen unerwünschten Bakterien behaftet zu werden. Wie er sich in seinen Kamelhaarmantel zurückzog, schlüpfte er in sich hinein, wenn ein Gefühl von außen an ihn herantreten wollte. Irgendein bindendes Gefühl, das zu erwidern er sich hütete, weil er selbst kein einziges nach außen aufzubringen fähig gewesen wäre. Eine kleine, menschähnliche Beziehung, die er nicht annehmen wollte, nur um sie nicht beantworten zu müssen. Er hielt jeden Zweifüßlergeruch fern, um ja nicht unter die Botmäßigkeit der anderen zu geraten. Angst vor seelischer Berührung und seelischem Austausch kam in seinen ewig behandschuhten Händen und seiner Bazillenphantasie erkennbar zum Ausdruck.

Wenn Doktor Tadisch, mit zwischen Schal und Schultern eingezogenem Kopf, immer auf die Erde vor sich hinblickend, dem Kai entlang schritt, mußte er den Vorübergehenden auffallen. Unwillkürlich drehte man sich nach ihm um. Solche Wirkung hatte er keineswegs beabsichtigt. Aber er empfand es gleichwohl als eine gewisse Genugtuung, indessen er in seiner Abgeschlossenheit das Aufsehen, das er erregte, in seine literarische Bedeutung umwertete.

Einem genaueren Beobachter wäre in diesem Augenblicke auch aufgefallen, daß sich sein verdrossenes Gesicht merklich aufhellte, weil er im Gehen darüber nachdachte, wie er sich an dem kleinen, alten Dienstmanne gerächt hatte. Weshalb bot er sich an? Weshalb verleitete er ihn durch seine Existenz auf dem Bahnsteig, das Gepäck tragen zu lassen? An der Grenze war Tadisch ein ungültiges Zweilirestück angehängt worden. Als der Dienstmann dann aus kleinen Äuglein für seine Kommission einen Fünfziger verlangte, marktete er um den Preis, ausrechnend, wieviel es in Kronen, Rubel oder Mark der zunehmenden Geldentwertung betragen würde. Der Dienstmann – in der Erinnerung Tadischs haftete dessen Seehundschnauz – hatte vornehm mit den Achseln gezuckt und dann, ja dann hatte er doch etwas merkwürdig Sinnloses gemurmelt: »Tauben … Glocken …« Sonderbar, daß er sich dieser Worte entsinnen mußte. Und schließlich hatte der dumme Kerl in die Westentasche unter seiner geflickten, blauen Burgunderbluse gegriffen und ihm ein Silberstück und fünf Zehner herausgegeben.

»Tauben, Glocken? Der Mann war offenbar verrückt. Nette Bevölkerung, die einem schon zur Ankunft ausbeutete«, grollte Doktor Tadisch, als er das Aushängeschild des »Maulbeerbaums« gewahrte. »Lauter Crétins!«

 

Der »Maulbeerbaum« war ein halbkreisförmig an eine Hotelkaserne angebauter Saal, dessen Fenstern entlang sich eine Galerie zog. Alles von einer entzweigeschnittenen Kuppel überdacht. Wenn man durch den trübmuffigen Mittelraum des Kaffees hinblickte, das auch tagsüber stets von elektrischen Lampen im Jugendstil erhellt wurde, schien sich in ihm gegenüber der Vorkriegszeit nicht viel geändert zu haben. »Internationale« Gestalten umhockten, als ob es die Tage der blühendsten Fremdenindustrie gewesen wären, die von geschliffenem Granit beschwerten, runden Tische. Dünn krümmten sich darunter bronzierte, gußeiserne Renaissancebeinchen. Der Dunst im Innern des Kaffees schwelte im Vergleich zu früher noch ein wenig vermischter. Hände flogen gestikulierend umher oder zeichneten auf den Steinplatten herum, von Mokka, Milch und Wasser zurückgelassene Ringe in Additionen und Subtraktionen verwandelnd.

Aus dem Redegeschwirr, aus den Gesichtern entsprangen für jedermann ablesbar Multiplikationen und Divisionen, Zins- und Perzentrechnungen. Häufig wurden Papiere, Geschäftsbriefe mit schlichten oder überladenen Firmenköpfen, Verträge und Fakturen hervorgezogen, unterschrieben, weitergegeben, zerrissen, Schecks ausgefertigt – kurz: Börse. Demnach mußte sich der »Maulbeerbaum« vergangenen Zeiten gegenüber für degradiert ansehen, wenn ihm sein Ruf als Literatenkaffee ehedem höhere Bewertung hatte verleihen können.

Wäre nicht der Eindruck durch die unentwegt die Galerie außenherum besiedelnden »Künstler« doppelt und dreifach ausgeglichen worden. Was an Schriftstellern der und journalistischer Boheme oder Bourgeoisie unsere Stadt barg, was als d. u. (dauernd untauglich), als Refraktär oder Deserteur zu uns ins Exil verduftet war, saß dort beisammen. Die Deserteure freilich in der Minderzahl, weil sich offene Fahnenflucht nur mit einigem Mut vereinbaren ließ. Wenngleich die Worte, die ein Vorübergehender unter ihnen aufzuschnappen vermochte, in vielem denen, die im Innenraum fielen, verzweifelt verwandt klangen. Denn auch hier blieb von Tantiemen, Verlagsfirmen und Abschlüssen vornehmlich die Rede.

Es war eine Zeit, da die Blockade der Zentralmächte durch die Entente bei uns immer drückender zur Geltung kam. Der Geldkurs aller umliegenden Staaten schwankte und fiel fast von Tag zu Tag. Die Hoffnung der altansässigen wie der ausländischen Kaufleute, die sich in unserer Stadt als einem Welthandelszentrum angesammelt hatten, rechneten damit, daß sich nach Friedensschluß, der inbrünstig ersehnt wurde, die Geschäftsbeziehungen der in äußerstem Haß erbitterten Gegner über unser Land anbahnen dürften. Gewiß würden sie noch jahrelang jede direkte Verbindung verabscheuen. Kaum war aber der Waffenstillstand im Oktober 1918 da, überfluteten schon die amerikanischen, englischen und französischen Angebote den deutschen Markt. Und die auf einmal ohne jeden Chauvinismus fühlenden Kaufleute suchten, wo es nur ging, die direkten Anschlüsse von früher her wieder anzuknüpfen.

Damals, als Doktor Tadisch bei uns eintraf und sich sein grauenvolles Schicksal endgültig in die allgemeine, entsetzliche Welt- und Gesinnungsverwirrung verwob, vermeinte man die merkantilen Angelegenheiten wenigstens einigermaßen sicher vorauskalkulieren zu können. Es kauften in ihrem Geschäftszweig geschulte und nichtgeschulte Gelegenheitshändler, die sich wie Spieler am immer wahnwitziger werdenden Roulette beteiligten, alles ein, was überhaupt aufzutreiben war, und es galt der Satz, daß Geld keinen, Ware unbedingten Zuwachs bedeute. Sie sammelten Materialien jeglicher Qualität: Abfall- wie kostbarstes Luxusfabrikat, Stoffüberbleibsel, Ersatzprodukte, Lumpen, Metallreste, Knochen und alte Zeitungen, Gold, Juwelen und das Geld selbst. War doch gerade in diesen Tagen die Friedensnote des Papstes an die Zentralmächte abgegangen. Und um imperialistischer Klauseln willen, in gewissenlosester, massenmörderischer Weise, auf Drängen unersättlicher Großindustrieller und Kriegsschieber, hatten die »verantwortlichen« Regierungen die Gelegenheit vorübergehen lassen, den Schlächtereien Einhalt zu gebieten. Zufolge der Eröffnung einiger Archive nach der Revolution sind wir heute darüber nicht mehr im Zweifel. Aber das wußte man damals noch nicht. Ob dabei durch die Aufstapelung der Ware, die man dem Kleinverkauf entzog, der Mittelstand und das Proletariat, der Konsument, empfindlich geschädigt und die Teuerung ins Unabsehbare gesteigert wurde, kümmerte die einzelnen Profitjäger nicht. Zumeist vermochten sie das Schadhafte ihres Zwischenhandels von ihrem Standorte aus nicht einmal klar zu erkennen.

 

Zwei alte Seidenherren unserer Stadt, weitgereist, sozusagen weltmännisch, ließen es sich nicht verdrießen, täglich in unserem Großstadtkaffee einen »Drink« zusammen zu nehmen, wie in den Jugendjahren, als sie noch Clerks in überseeischen Filialen unserer großen Export- und Importfirmen gewesen und zum gleichen Zwecke in die Klubs der europäischen Kolonisten gegangen waren. Heute umbraust von den Stimmen der Schieber im inneren, von denen der Literaten im äußeren Kreis, legten sie ihre glattrasierten Gesichter in Falten und raunten einander ihre sachkundigen Prognosen zu: »Da zwinkern die Kurzsichtigen fröhlich über das stete Steigen der einheimischen Produkte mit ihren verkleinerten Augen, die Nase auf dem Papier, und überblicken nicht, daß man bei diesem hohen Wechselkurse ja die Löhne dereinst zu bezahlen hat«, meinte der eine.

»Como no«, sagte der andere, der in Südamerika groß geworden, »und sie denken gar nicht daran, daß mit dem Frieden die Arbeit in den umliegenden Staaten mächtig wieder angekurbelt wird …«

»Well«, unterbrach der erste den zweiten, an seiner Einleitungsfloskel den britischen, speziell wohl den ostindischen Interessenkreis verratend. Er kicherte zu jedem Satz in sich hinein. »Well, das kommt sicher, kommt unfehlbar, sowie einmal die körperliche Erschlaffung überwunden ist.«

»Das Tier erholt sich rasch«, unterbrach hier der Zweite. Sie fielen sich mit ausgesuchter Höflichkeit beständig in die Rede.

Die alten Herren behielten in der Tat recht. Kaum den Waffenstillstand abgeschlossen, konnte im Ausland so billig produziert werden, daß für unsere einheimischen Fabrikate nach nirgends mehr Ausfuhrmöglichkeiten offenstanden. Zugleich wurde die aufgestapelte Ware für die umliegenden Staaten so unsinnig teuer, daß keine Nachfrage weiter zu finden war. Vornehmlich, da sich die feindlichen Brüder zum Handeln schon längst wieder verständigt hatten. Ein großer Teil der Aufkäufer und Schieber erlitt denn auch die gerechte Strafe, alles wieder wegschmelzen zu sehen, was man während der »günstigen« Konjunktur dem Konsum entzogen und in schwindelerregender Weise zusammengestaut hatte. Freilich ahnten das damals, als die beiden Seidenherren sich im »Maulbeerbaum« unterhielten, nur wenige, ganz abgefeimte Spekulanten.

»Unser Staatsrat«, flüsterte der Erste, sich vorsichtig umsehend, »well, unser eigener Staatsrat hat glänzend versagt!«

»Como no! Glänzend!« wiederholte ebenso leise der Zweite.

»Immerhin muß man zugeben«, meinte beschwichtigend der Erste – beide hegten im tiefsten Herzen Respekt vor der hohen Obrigkeit – »daß unsere Regierungshäupter gleich bei Kriegsausbruch daran gingen, Verordnungen zu erlassen. Well, so verboten sie die Verteuerung der Lebensmittel durch Hamstern in gewinnsüchtiger Absicht.«

»Die Guten haben also brav mit Einkauf und Sammeln von Waren vorausgerechnet«, belobigte nun auch der Zweite seine Landesväter. »Und sie haben die Kriegswucherer als strafbar erklärt für den Fall, daß sie mit ihrem Aufspeichern auf eine Preissteigerung spekulierten.«

»Well, trotz alledem haben die Herren vom grünen Tisch nicht vorausgesehen«, betonte nachdrücklich der Erste schon etwas lauter, zumal vom Literatenkreis aus irgendeinem Grunde ebenfalls ein Crescendo herüberschallte, »die dreckigen Ausfuhr- und Einfuhrbremsen, den lausigen Wirtschaftskrieg, wie wir ihn im Laufe der Jahre auskosten lernten. Nicht erwartet haben sie die schnöden Bedingungen, die man von draußen, von der Entente, an die Lieferungen von Rohstoffen und Bedarfsartikeln verknüpft hatte, damit sie ausschließlich für unser Inland gebraucht, damit sie ja nicht fürs feindliche Ausland verarbeitet werden sollten.«

»Und den Kriegswucher haben sie, unsere weisen Gesetzgeber, zwei Jahre zu spät mit genaueren Paragraphen wiederum daneben getroffen.«

»Well, auch darum hat ja unser Staatsrat glänzend, wie Sie vorhin ganz richtig bemerkten …«

»Bitte, bitte, Sie selbst!«

»... glänzend versagt, weil angebliche wirkliche ›Landesinteressen‹ mit dem Durchfuhrhandel verquickt waren, weil zwecks Ausgleichs …«

»Sie haben Ihr Juristendeutsch gut gelernt, como no!«

»... glänzend versagt, weil zwecks Ausgleichs die getroffenen Bestimmungen immer wieder durchbrochen werden durften. Amtlich bewilligt! Stellen Sie sich nur vor: Schiebung und Zwischenhandel nahmen oft genug den Anfang bei diplomatisch beschützten Einkäufern, wie gleichfalls bei einflußreichen Politiker-Geschäftskollegen unseres teuren Heimatlandes.«

Hier dämpften die beiden Seidenherren ihre Stimmen abermals bis zum unhörbaren Geflüster.

»Und man sagt, daß diese Ratsherren vielfach auch ihren kleinen Schnitt für mancherlei Gefälliges auf Gegenseitigkeit machten.«

»Man sagt? Well, und wer bezahlt die Kosten?« fragte der Erste.

»Como no, der Konsument!« stellte der Zweite trocken fest und befeuchtete sich den Gaumen mit Whisky-Soda.

»Und schließlich erwischte man zur Abwechslung wie gewöhnlich, die kleineren Diebe …«

»Well, und die großen mußte und muß man halt immer noch laufen lassen.«

Große und kleine Diebe hingen in der Tat in jener herrlichen Zeit wie Kletten aneinander, bildeten lange Reihen, die sich im Unübersehbaren verloren, züchteten eine hochspezialisierte Technik, mit der sie die zu allgemeiner Wohlfahrt getroffenen Gesetze um ihrer lieben, eigenen Tasche willen absolut lahmlegten, und fraßen heimlich Geld aus den Krippen der Hungrigen und Bedürftigen.


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