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18. Kapitel.
Abraham Reals Verhaftung.

Zur sechsten Stunde am folgenden Morgen, nachdem Tadisch seinen Bericht abgeliefert hatte, standen acht Detektive um das Haus Reals herum. Doktor Leberstein in Person war im Auto vorgefahren und hatte sich gleich in die Wohnung des alten Arztes begeben. Genau so selbstverständlich wie in irgendeiner Posse warf ihm Reals Haushälterin Hermine den Inhalt eines Nachttopfes an, den sie gerade zum Reinigen trug, und sollte deswegen unverzüglich abgeführt werden. Aber sie vollführte ein derart mörderisches Geschrei und schlug so ununterbrochen mit Händen und Füßen um sich, daß man schließlich an einen Tobsuchtsanfall dachte und die Sanitätswache auf den Berg kommen ließ, die sie in die Irrenanstalt versorgte.

»Dieser untersuchungsrichterliche Doppelschmieriker – Saumagen –, dieser ungebildete Sprechbewegungen machende Hinterteil eines untersokratischen Bösewichtes, dieser betrunkene Trunkenbold, dieser elende, elende Doppelschweißbürger, Saumagen, Saumagen!« hatte Hermine den ganzen Berg hinunter geschrien.

Leberstein schoß in der Wohnung Reals herum wie ein Wind in der Laterne, bis er die Küche fand und den Kopf unter die Wasserleitung stecken konnte. Den urinduftenden Mantel übergab er einem der Polizisten.

Real erwachte erst, als Leberstein mit vorgehaltenem Revolver an seinem Bette brüllte: »Wenn Sie alter Verbrecher gegen unser Staatswesen, Sie Verführer der Jugend, Sie Mißächter der heiligsten nationalen Güter, auch nur mit der Wimper zucken, schieße ich Sie über den Haufen. Und merken Sie sich das, wenn ich Ihnen überhaupt je, falls Sie wieder in Freiheit gelangen, begegnen muß, halte ich mich für berechtigt, Sie einfach niederzuknallen, wie einen räudigen Hund.«

Die Dogge Doris stellte sich auf ihre Hinterpfoten und legte die vorderen, schmutzigen, auf Reals Steppdecke. Hinten in der Türe standen zwei Detektive.

»Haben Sie dem da Ihre Stimme zum Untersuchungsrichter auch gegeben?« sagte Real, unverhohlen angeekelt, zu ihnen. »Im übrigen schaffen Sie erst mal Ihren Hund zur Stube hinaus!«

Der alte Herr sah so vornehm ruhig aus, daß Leberstein automatisch die Waffe einsackte und der Dogge befahl, abzutreten. Sie gehorchte knurrend.

»Und nun lassen Sie mich meine Kleider nehmen. Einem so die Ruhe zu stehlen!«

Unter neuerlichem Geschimpfe Lebersteins kleidete Abraham Real sich an, wurde in ein Auto verfrachtet, mußte aber im Frost draußen – es war zwischen Weihnacht und Neujahr – warten. Während Doktor Leberstein in den Atelierflügel zu Schnarp eingetreten war und sich bei ihm und seiner sehr im Negligé anwesenden Dame für die frühe Morgenstörung entschuldigte. Man tätschelte die Dogge, schaute sich die abstrakten Gemälde Schnarps an, die das Atelier auskleideten, hoffte sich unter erfreulicheren Umständen wieder zu begegnen. Immerhin äugte Doktor Leberstein bei dieser Gelegenheit im Raume herum. Aus Tadischs Berichten war er genugsam über die Person Schnarps unterrichtet. Das hinderte ihn aber nicht, sich mit freundlichem Händedruck von ihm und mit einem Handkuß von der Gnädigen zu verabschieden.

Dann flankierte er sich neben Real und kommandierte Abfahrt. Vorher hatte Leberstein noch eine besonders empfindliche, schwer zu vergessende Handlung an Real vorgenommen. Er ließ das ganze Büchergestell hinter des Arztes Schreibtischsessel, die Schutzkartons voller Notizen und Konzepte, die Mappen und Kästchen samt dem Staub, der von der Haushälterin Hermine nie hatte beseitigt werden dürfen, in eigens dazu mitgebrachten Säcken fortschleppen. Da der vermeintlich hochverräterische Inhalt bei der fast unleserlichen Schrift Reals beim Durchblättern für Leberstein unverständlich war, gab er später den Befehl, den »Bettel« zur Makulatur zu werfen. Wenn auch Real nicht der Mann war, seine Ideen und Aufzeichnungen für unersetzliches Menschengut zu betrachten, so würgte die Erinnerung daran ihn doch immer wieder. Es blieb vielleicht eine der tiefsten Wunden, die ihm bei dem hochnotpeinlichen Verfahren geschlagen wurden.

 

Dreißig Tage saß Abraham Real in Einzelhaft, ohne je die Kleider wechseln zu können, ohne daß er jemand anderen erblickte, als die aufwartenden Polizisten und den Gefängnisverwalter. Ein freundlicher Mann, der sich in freier Zeit gern mit ihm unterhalten kam, in den Gang der Untersuchung aber nicht einzugreifen vermochte. Doch, den invaliden Feldweibel erlebte Real noch, der ihn photographierte und seine Maße, sowie die Fingerabdrücke dem Verbrecheralbum einverleibte.

Staatsanwalt Calden hatte von Hermine einen konfusen Brief aus der Anstalt erhalten, er möchte sich nach ihr umtun, nahm aber an, daß sein Freund Real selbst genötigt gewesen sei, sie zu internieren. Weitere Briefe bekam er nicht, da Leberstein verfügt hatte, daß Hermine als Untersuchungsgefangene zu behandeln sei und man ihre Post an sein Büro schicken müsse. Der erste Brief war von einem jungen Assistenten zufällig übersehen worden. Sonst hätte auch er den Staatsanwalt nicht erreicht. Als nun Calden, der sich mindestens am Wochenende jeweilen mit Real traf, gar nichts mehr von ihm hörte, ging er zur Wohnung auf den Berg, fand Tür und Tor verriegelt, mochte sich aber bei Schnarps nicht erkundigen. Wenn auch nicht bestimmt orientiert, wußte er ungefähr, welchem Schlage die Schnarps angehörten.

Real war schon verschiedentlich für einige Wochen abgefahren. Es schmerzte zwar Calden, der den alten Freund letzterdings eifersüchtig liebte, daß er ihm so gar keine Nachricht hinterlassen hatte. An etwas wie das Vorgefallene, dachte der Staatsanwalt auch entfernt nicht. Und Dr. Leberstein hatte streng verfügt, daß man gerade Dr. Calden nichts von der Untersuchung mitteilen dürfe. Ja, der Untersuchungsrichter hatte sich persönlich zu Justizminister Windfaner begeben und ihm in einer geheimen Unterredung eröffnet, daß die Stellung Caldens eigentlich durch den Verkehr mit den Anarchisten schwer erschüttert sei. Jedenfalls dürfe der Genannte als befangen kein Einsprache- oder Beschwerderecht in der Angelegenheit erhalten.

So gingen Wochen vorbei, bis Calden, nun in ernster Sorge, und weil er die Wohnung immer verschlossen antraf, selbst auf der Polizei nachfragte und kurzerhand vernahm, daß Real in Haft sitze, eingemengt in die Bombenaffäre.

Calden, den Real selbst immer Aljoscha Karamasoff nannte, magerte sichtbar ab, fand Tag und Nacht keine Ruhe, fand den Entschluß zum Handeln nicht. Das war nun so bei ihm. Gebunden an seine Erziehung, an die Parteiansichten, in denen er aufgewachsen war, suchte er sich ununterbrochen Rechenschaft zu geben, ob gegen die Staatsordnung, wenn sie Unrecht ausübte, zunächst mit auch nur rein demokratischen Mitteln revoltiert werden dürfe, oder ob nicht die Erhaltung der staatlichen Macht unter allen Umständen das höchste Gesetz sei.

Es lag darin vielleicht auch ein wenig Sorge um die eigene Existenz. Er war keineswegs ellenbogenkräftig. Hatte ja in seinem Beruf genug gelitten, bis fast zur Gemütsverstimmung, wenn er an die starre Wand der herkömmlichen Begriffe geriet. Und konnte sich doch von seinem Amte, in dem man ihn hoch achtete, nicht trennen. Als Rechtsanwalt hätte er keinesfalls die kaufmännische Gewissenseinstellung gehabt, um sich durchzusetzen.

Schließlich ging er dann zu Windfaner. Der aus dem Bauernstand hervorgegangene, untersetzte Herr mit schwarzem Knebelbart und dicken Brillengläsern, der seine freie Zeit mit Vorliebe hinter Jaßkarten verbrachte, fuhr ohne weitere Einleitung auf Calden los.

»Ich verbitte mir, daß die Herren Staatsanwälte sich in meine Angelegenheiten mischen und rate Ihnen auch, sich in Ihren persönlichen Beziehungen etwas reinlichere Gesellschaft auszusuchen. Es geht nicht an, daß ein Mann in Ihrer Stellung sich mit vaterlandslosen Gesellen herumtreibt.« Mit diesen Worten schlug Windfaner auf den Tisch.

Aber sehr unerwartet für seinen Vorgesetzten, den Herrn Justizminister, donnerte Caldens Faust ebenfalls auf die Tischplatte. Dann sagte er aber ganz ruhig:

»Wenn ich auch von der Regierung gewählt bin, Herr Windfaner, so steht es Ihnen in keiner Weise zu, mich als Ihren privaten Untergebenen zu behandeln. Ich erkläre Ihnen, daß ich, obschon ich immer noch im Ungewissen bin über den Verbleib meines Freundes, doch Anspruch erhebe, in einem Rechtsstaat Beamter zu sein, und daß ich alle Mittel anwenden werde, um gegen Ihre lächerliche Willkürherrschaft, die sich bestenfalls auf ungesetzliche Ausnahmerechte stützt, die nötigen Schritte zu unternehmen.« Windfaner stand sprachlos. Dann verzog sich sein Gesicht zur Freundlichkeit und er redete von Amtsüberbürdung, in der es begreiflich sei, daß man etwas aus der Haut fahre, wenn man zu allen Straf- und Justizhändeln noch mit politischen Prozessen beschäftigt werde. Immerhin rate er doch dem Herrn Staatsanwalt, sich nicht weiter um eine Angelegenheit, die ihn kompromittieren könnte, zu bemühen.

»Man wird mich keinen Augenblick abhalten, zu tun, was ich nach den geltenden Gesetzen für recht erachte, Herr Justizminister!« Und damit griff Calden zu seinem Hut. Verließ die Amtsstube des nunmehr schwitzenden Regierungsmannes.

 

Unterdessen hatte man Real, am dreißigsten Einsperrungstage, im Büro des Untersuchungsrichters vorgeführt. Dies, nachdem Dr. Leberstein um weitere Haftfristerstreckung eingekommen war, jedoch eine ungnädige handschriftliche Notiz des Justizministers auf seinem Gesuche vorfand, mit der Aufforderung, seinen Antrag zu motivieren.

Leberstein auf seinem Thron, herrschte den in der Haft blaß gewordenen alten Herrn beim Eintreten an. Die Dogge tauchte aus dem Pult empor und streckte den Kopf über den Tisch hinaus.

»Angeschuldigter Real, Sie haben nun Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob Sie mich über Ihre Beziehungen zum Bombenkomplott aufklären wollen. Lügen Sie nicht, oder Sie sollen mich von einer anderen Seite kennenlernen!«

»Gibt es denn an Ihnen verschiedene Seiten? Gehört übrigens der Hund im Zimmer zu unseren Rechtsgebräuchen?«

Leberstein sprang von seinem Podium hinunter, an Real heran und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter, daß er zurücktaumelte. Die erhobene Faust hatte eigentlich dem Gesicht gegolten, löste sich im Herabschwung in eine Fläche, geriet vom Gesicht weg auf die Seite und konnte, wenn keine Zeugen vorhanden waren, als freundliches Klopfen auf die Schulter ausgelegt werden. Das Bewußtsein Lebersteins hatte die Umwandlung der Bewegung gar nicht vermerkt. Der ganze Vorgang spielte sich viel rascher ab, als ihn das geschriebene Wort wiedergibt.

»Werden Sie etwa behaupten, ich hätte Sie geschlagen?« Leberstein schwoll rot auf. »Pah, reden Sie, was Sie wollen! Wir sind hier allein! Sie gemeiner Lügner und Verdreher der Wahrheit! Ich kann Sie nur versichern, wenn ich meine Hand irgendwo auflege, so weiß ich, was ich tue. Verstanden? Sie sind, wie ich es Ihnen schon bei der Verhaftung erklärte, ein Hallunke, ein Hetzer, ein Schurke von Volksaufwiegler! Sie sind schuld an der miserablen Lage unseres Mittelstandes, unserer Arbeiter ebenso. Sie haben uns durch Ihre Manipulationen in die schwersten Verlegenheiten gebracht. Wollen Sie endlich zugeben?«

Leberstein hielt Real die Faust unter die Nase. Real zuckte mit keiner Wimper, sprach kein Wort mehr, streckte nur der Dogge, die sich ihm näherte, das Bein entgegen, worauf sie sich feige unter ihr Pult verkroch.

Je selbstverständlicher Real schwieg, desto wütender wurde Leberstein.

»Sie alter Saujude Abraham«, ließ er sich schließlich hinreißen, obwohl er genau wußte, wie wenig die Abstammung Reals eine semitische sein konnte.

Nach einer halben Stunde befahl er, den stets schweigenden Real, der um einen verlorenen Schatten bleicher geworden, wieder in die Zelle zu geleiten.

Dann traf ein zweiter Vermerk Windfaners auf die Forderung um Haftfristerstreckung bei Leberstein ein und er entschloß sich, Real nach 38 Tagen abermals zu sich zu rufen.

»Herr Doktor Real«, sagte Leberstein, »obschon ich weiß, daß Sie den Doktortitel zu führen nicht berechtigt sind, das Recht zur Ausübung des Arztberufes besitzen Sie zwar – Herr Doktor!« Lebersteins Stimme wurde zusehends schmiegsamer, weicher. »Ich habe Gelegenheit gehabt, Ihren standhaften Sinn zu erkennen. Mein Versuch, Sie einzuschüchtern, den Sie als Mittel eines Untersuchungsrichters ja sicher verstehen werden, brachte Sie nicht aus der Ruhe. Ich achte Ihre Konsequenz. Sie haben aber sicher begriffen, daß ich von Ihnen doch eine andere Angabe über Ihre Beteiligung an der Bombenaffäre haben muß, als Sie mir bisher zu geben geruhten. Ich bitte Sie, mir meine Aufgabe zu erleichtern. Es tut mir leid, daß Sie die kleinen Vergünstigungen, die ich Ihnen vorgestern zu Ihrer Nahrung zu verabreichen anordnete, wie die Äpfel, die ich Ihnen aus meinem eigenen Keller schickte, nicht annahmen. Rauchen Sie vielleicht eine Zigarette?« Real schaute nicht auf.

»Ich würde mich freuen, falls Sie ein derartiges Bedürfnis hätten, daß Sie von meinem Anerbieten, sich in meinem Büro zu beschäftigen, Gebrauch machten.«

Real sah immer noch schweigend vor sich hin. Die Dogge war diesmal nicht im Zimmer.

Leberstein wollte schon wieder vom Pult hinuntersteigen, helle Wut im Gesicht. Aber sein gleich wieder erstehendes Lächeln wurde eher noch süßer.

»Ich muß Ihnen doch mitteilen, daß Ihre Inhaftierung absolut zu Recht besteht, da ich von einigen der des Komplottes überführten Häftlinge ganz genaue Aussagen über Ihre Mitbeteiligung, über Ihr Mitwissen an dem Vertriebe der Waffen, der Propagandazeitungen, über Ihren Zusammenhang mit der südländischen Anarchistengruppe besitze, um derentwillen Sie sich in Strafuntersuchung befinden. Ich könnte Ihnen Ihr Los wesentlich angenehmer gestalten, wenn Sie mir durch Angabe derjenigen Personen, die mit Ihnen wirkten, auf die Spur helfen würden, um die wirklichen Vaterlandsfeinde herauszufinden. Falls mir Ihre Mitteilungen wirklich von Wert wären, ließe sich das Verfahren gegen Sie ohne weiteres sistieren. Ja, man könnte Ihnen eventuell eine Entschädigung zusprechen.«

In dieser Weise redete er noch eine volle Stunde lang. Er zitierte und dünkte sich dabei ungemein schlau, eine Menge Akten, glaubte jedesmal Real eine Falle gestellt zu haben. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Real bestenfalls, was eigentlich gegangen war und wie glatt die angeblichen anarchistischen Unternehmungen in internationale Kriegsmachenschaften ausmündeten.

Dieweil Leberstein seine Sprüche machte, kam er sich schließlich direkt erhaben vaterländisch vor, dozierte in den plattesten Ausdrücken von der Notwendigkeit der staatlichen Institutionen und versuchte den alten Herrn, von dessen Wissen und Kultur er in seiner völligen Unbildung keinen Dunst hatte, von seiner eigenen Weltanschauung zu überzeugen, zum Eintritt in die freisinnige Volkspartei zu bewegen und ihm zuzureden, wie man einem Schuljungen Heimatkunde vorleiert.

Real schaute zum Fenster hinaus, zählte Schornsteine und wurde in die Haft zurückgeführt.

Dieses Spiel wiederholte sich in den folgenden fünf Tagen noch zweimal.


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