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7. Kapitel.
Abends bei Abraham Real.

Wie alles, was hier geschah und geschieht, Tropfen für Tropfen zusammenfließt, so fängt sich auch erst nach einer gewissen Zeit das Wasserglas der Geschehnisse zu füllen an. Erst, wenn es überlaufen will, registriert der Zuschauer die Dinge lebhafter. Folglich, weil es im Glas noch nicht zu stürmen begann, darf man sich einstweilen die Szenen zwischen Tadisch und von Wildthaußen keineswegs allzu dramatisch vorstellen.

Rasch, selbstverständlich, Schlag auf Schlag, äußerst geschäftsmäßig und doch verbindlich, wickelte sich alles ab. Weder Tadisch, noch von Wildthaußen hoben nur eine Sekunde lang die Stimme. Und doch wußte Tadisch, als er nun den Weg zur Niederstadt suchte, daß es keinen Widerstand gab. Daß er in der Falle saß. So hatte ihn die Realität nie gepackt. Ihn, der immer auszuweichen pflegte, ließ sie diesmal auf keinerlei Zickzackwegen entrinnen. Niemand konnte sich rühmen, ihn je in solch gefährliche Fesseln gelegt zu haben. Sein Leben war immer irgendwie spielerisch dahingerollt. Ein bißchen literarischer Betrieb, ein bißchen Giftspritzerei da und dort. Aber hier, was geschah ihm hier?

Was beabsichtigte von Wildthaußen?

Sonst eigentlich eine ganz verwandte Seele. Auch Brander-Wildthaußen korrespondierte mit der halben Welt, mit allen erdenklichen Zeitungsredaktionen, durch welche Belletristik auf den Markt geworfen wurde. Man sagte, er besitze eine pedantisch sorgsam gesichtete Zeitungsausschnittesammlung, eine Kartothek für literarischen Versand von Zweit- und Drittdrucken. Geborener Journalist, nährte er freilich die höhere Ambition, Dichter, das heißt, etwas zu sein, das seiner ganzen seelischen Verfassung so fern lag, wie einer Rechen-, nein besser, einer Berechnungsmaschine die gesamten menschlichen Beziehungen.

Noch nie wie jetzt hatte Tadisch ein solches Gewoge in sich verspürt: Wut, Haß, Angst, Erstaunen, Verdutztheit, Hilflosigkeit. Außerdem nach einiger Zeit etwas wie leise aufkeimendes Vergnügen, Schadenfreude, Wichtigkeit. Das war ja nun eine wirkliche, offizielle Intrige. Ungeheuerlich, daß er plötzlich von einem literarischen Zeitgenossen zu Spitzeldiensten für den Staat, dem er glücklich entwischt zu sein glaubte, bestellt worden war. Man wußte offenbar aufs genaueste über ihn Bescheid. Aber er konnte schließlich immer noch tun, was ihm beliebte.

Interessante Geschichte das, – im Grund.

Eine eigentlich hervorragende, diplomatische, welthistorische Rolle, die man ihm da zu spielen zutraute. Gesinnung? Handelte er nicht solchenfalls für den Krieg? Was sagte von Wildthaußen? Gar nichts hatte er, richtig besehen, gesagt. Er solle helfen den Krieg sabotieren. War das Sabotage? War Korruption aufdecken, von höherem Gesichtspunkte bemessen, nicht auf jeden Fall verdienstvoll, auf welcher Seite man sich auch beteiligte?

Tadisch fühlte sich fast gehoben durch diesen Gedanken. Das Spiel konnte Bedeutsames ergeben. Er mußte sich vor allem für seine Person in acht nehmen. Ihm durfte man nicht beikommen. Es drehte sich schließlich um Sein oder Nichtsein. Und zwar um sorgloses Sein, wie's ihm zu genießen noch nie bislang beschieden gewesen.

Aber von Wildthaußen? Den Mann mit der Nasenrinnenfliege durfte man nicht unterschätzen. Das heißt – Agent war er, einfach Agent, Söldling einer Gesandtschaft. Es sollte ihm nie vergessen werden, wie er ihn heute behandelt hatte!

Im späteren Nachmittag überbrachte der Diener von Wildthaußens Doktor Tadisch eine Karte, daß es ihm ein Vergnügen bereiten werde, ihn persönlich zu Herrn Abraham Real zu begleiten. Tadisch stand unter Aufsicht.

 

Am Abend des nämlichen Tages plauderten Staatsanwalt Calden und der alte Doktor zusammen. Real erwähnte, daß ihm Brander telephoniert und sich selbst, sowie den Schriftsteller Tadisch zu einem Besuch angemeldet habe.

»Was halten Sie eigentlich von diesem Brander?«

»Er gefällt mir nicht. Mir liegen gewichtige Gründe vor, in ihm den Propagandachef für eine der auch bei unszulande sich befehdenden Mächtegruppen zu sehen. Sie haben ja sicher für verschiedene sogenannte ›Kulturanlässe‹ das Büro von Wildthaußen als zeichnenden Impresario vermerkt. Ich vermute nur, daß Brander und von Wildthaußen sich verzweifelt ähnlich sehen. Er selbst kam übrigens in den Tagen des Kriegsausbruchs zu Besuch und bat mich um ein ärztliches Zeugnis zwecks Befreiung vom Kriegsdienst. Nun wußte ich freilich, aus einer früheren Ehegeschichte Branders, anläßlich welcher sich die Frau bei mir über ihres Mannes Brutalitäten beklagt hatte, wie er in sinnlose Wut geraten konnte. Auf Grund dieser seiner Eigenschaften machte es wenig Mühe, im Verein mit dem betreffenden Konsulararzt, der ohne weiteres darauf einzugehen bereit war, für seine Ausmusterung ein Mittel zu finden. Seither erscheint Brander von Zeit zu Zeit auf dem Berge. Ich werde den Eindruck nicht los, daß er jedesmal, wenn er anrückt, wieder etwas von mir will. Er läßt sich, so schnöde ich nur mag, von mir behandeln, bleibt nachher, wenn man ihn nicht gerade höflich aufnahm, eine gewisse Frist aus, um sich unversehens wieder zu melden. Dabei fällt mir die unglaubliche Arroganz und Empfindlichkeit Branders andern gegenüber auf. Mir ist schlechterdings unerfaßlich, warum er bei mir die unverhohlene Abneigung nicht herausriecht, die ich von einem zum andern Mal zeige. Und dann seine politischen Redensarten! Trotzdem er sich immer sehr frei über seine monarchische Regierung äußert, unterhält er unverkennbar nahe Beziehungen zu ihr.«

»Wie kommen Sie nur dazu, daß sich alle diese Leute gerade bei Ihnen einfinden?« fragte der Staatsanwalt.

»Ich bin selbst daran schuld. Als ich hörte, daß sich eine größere Zahl sogenannter Intellektueller in unserer Stadt aufhielten, schien mir der Augenblick günstig, an ihrem Zusammenschluß mitzuwirken. Ich sah in ihnen allen überzeugte Kriegsgegner – wenigstens redeten sie so – und hoffte, sie unter dem Drucke der äußeren Verhältnisse für antiimperialistische Ideen zu sammeln. Darum stellte ich mich Ihnen auch, wo es ärztlich irgendwie zulässig war, zur Verfügung. Nein, eigentlich nicht darum, sondern ganz einfach, weil mir jedweder leid tat, der in diese wahnwitzige Schlächterei hinein sollte. Meine Unterstützung nahmen sie in der Folge recht gern an. Aber schon daraus, daß jeder von ihnen seinem nächsten Kollegen die Tatsache meiner Hilfeleistung verschwieg, daß jeder so tat, als ob er auf seine besonders geheimnisvolle Art freigekommen sei, merkte ich, wie sie untereinander und nach außen unsolidarisch und verlogen waren.«

 

Die Haushälterin Hermine meldete die Herren Brander und Tadisch. Brander, sehr sicher, tischte dem alten Herrn eine Menge Komplimente auf, begrüßte Staatsanwalt Calden jedoch kaum. Dann allerdings, als er seinen Titel hörte, den er zuerst offenbar nicht beachtet hatte, dienerte er, respektvoll und liebenswürdig. Tadisch blieb sich treu, war befangen und ungeschickt. Brander versuchte das Gespräch auf Tadisch zu lenken, rühmte seine letzten Gedichte, so übrigens, daß es dem Belobten, der doch viel vertrug, selbst peinlich wurde. Zusammengekauert saß er auf einem geschnitzten Lehnstuhl in einer Ecke, immer im Kamelhaarmantel, ohne die Handschuhe auszuziehen, und redete von Anbeginn sehr wenig.

»Zu seiner Belastung oder Entlastung, nach Belieben, möchte ich bemerken, daß Herr Tadisch ganz links steht – kn –. Im Ernst einer von denen, die, falls der Umsturz käme, mit auf die Straße gingen!«

Tadisch hatte sich ins Dunkel gesetzt, um ungestört an seiner Nase herumfingern zu können. Sie spannte zum Zerplatzen. Jetzt vernahm man seine Stimme:

»Mit solchen geistigen Kameraden, wie Karl Brander, wird es mir immer eine Ehre sein, an der Revolution mitzuarbeiten.«

Nie berührten derartige Phrasen unsauberer, als in Gegenwart Reals. Was sollte der Besuch der beiden bei ihm? Er antwortete einfach nichts.

»Übrigens unvergleichlich, kn – wie die Zentralmächte stetsfort dastehen. Glauben Sie immer noch, daß es gelingen wird, den Kaiser und die Fürsten zu vertreiben? Als alter Rebell müssen Sie doch von den Strömungen unterrichtet sein, die sich für den so ersehnten – kn – Allgemeinumsturz ankündigen.«

»Dieser Umsturz wird kommen«, sagte Abraham Real sehr schlicht. »Aber nicht, wie Sie denken. Nicht gemacht von einigen Führern und Intellektuellen. Es werden die namenlosen Massen sich erheben, mit einem Streich die Fürsten alle von der Bildfläche fegen, der Kaiser wird sich schwächlich in Sicherheit bringen und vorher noch muß das Zarentum zerbrechen. Wenn das Volk zu stürmen anhebt, wenn es sich nicht aus Müdigkeit wie das Vieh behandeln läßt, geht es immer den großen Schmarotzern, all denen, die das Volk betrügen, an den Kragen. Aber das alles ist nicht das Wichtigste. Wohl hingegen die unausrottbaren Gedanken, die im Osten erwachen und der ganzen Menschheit für Jahrhunderte Richtung zu geben bestimmt sind. In Ihrem Lande freilich wird eine erste Woge nur alte Ueberreste wegschwemmen, die schon vor hundertzwanzig Jahren die große Revolution hätte mitnehmen müssen. Bei uns wird es dementsprechend noch lange Zeit ruhig bleiben, bis auch hier die Abrechnung mit der gesamten Weltwirtschaft beginnen kann. Mit mancherlei Verebbung dazwischen, aber Woge für Woge. Nicht Sie und nicht Doktor Tadisch und nicht ich werden dazu Wesentliches beitragen. Auch wir dürften nur mitergriffen werden von dem, was die wirklich Notleidenden in ihrer Sturmflut mit sich reißen.«

Brander (süßlich): »Und Sie glauben – kn – die Hohenzollern, die Habsburger, werden sich derweise zu enteignen gestatten? Die ungeheure, gepanzerte Macht, die heute fester steht, denn je, wird so leicht über den Haufen zu werfen sein?«

»Byzanz? Ja. – Die mechanische Weltanschauungsmacht aber, diejenige, die im Laufe der Jahrhunderte ins Volk hineingedrillt wurde? Nein, noch lange nicht.«

»Und Sie – kn – rüsten sich nicht für den Umsturz?«

Real lächelte vor sich hin. Jetzt verriet sich Brander. Daß er die Andern für gar so einfältig hielt.

»Aber Sie! – Wir? Das Volk? Wir können uns nicht in dem Sinne vorbereiten. Wir können nicht Komplotte, Vereinigungen, Vereine zur Revolution machen. Wir werden doch selber von ihr überrascht werden. Nur immer die Einzelnen vermögen sich zu rüsten.«

»Ich glaube nun«, bemerkte hier Tadisch, »daß wir Intellektuellen durch das Beispiel unserer Gesinnung voranmarschieren sollten. Die wirkliche Internationale ist allein die des Geistes und der Kunst. Wenn unsere Generation nur dereinst maßgebend wäre! Aber Berufsleute wie Sie, Herr Real, Beamte wie der Herr Staatsanwalt, werden unserem Fluge wohl nie ganz folgen. Um wieviel mehr muß dann die große Menge dazu erzogen werden?«

»Will Ihnen etwas sagen: Die wirkliche Internationale – kn – ist das Kapital und wird es ewig bleiben. Aus ihm werden sich die Regierungen die Hände reichen und jeden Umsturz zu vereiteln wissen.« Man merkte, daß es Brander diesmal aufrichtig meinte. Die Hitlerfliege in der Nasenrinne zuckte prophetisch.

»Manchmal denke ich mir, wie es fast ein Glück ist, daß ich mich noch nicht ganz links eingestellt habe«, sagte der Staatsanwalt, mehr zu sich selbst. Er sprach immer leise, mit kurzen Unterbrechungen, zögernd. »Wenn ich all das, was ich zwischen meinen Prozeßakten wahrnehme, veröffentlichen müßte, – wie möchte man dreinfahren, wie begreift man da manchmal Aufruhr- und Umsturzprediger, die Gewalt.«

Während der letzten Worte ließ sich in der Realschen Küche ein zunehmendes Krachen und Poltern vernehmen, das in einem bedenklichen Klirren seinen plötzlichen Abschluß fand.

»Hermine hat offenbar wieder ihren ›Bösen‹. Sie knurrte mich schon beim Eintreten ganz anders an«, bemerkte lächelnd der Staatsanwalt, der mit den Eigenheiten des Hauses Real vertraut war.

Zum Geklirr in der Küche vermochte Real einen zwar verschämten, aber doch einen Seufzer nicht zu unterdrücken.

»Altes Baccarat – die letzte Schale.«

»Saumagen! Saumagen! Saumagen!« schrie wie aus einer Kanone zu den Herren ins Zimmer geschossen, aber mit dem Rücken voran, ein dickes, aus drei immer etwas kleineren Kugeln übereinandergebautes Frauenwesen. Und zwar schrie sie durch die offene Tür nach dem Treppenhaus hinunter. Ihre Stimme überschlug sich. Sie spuckte, pustete, hustete. Sie drohte mit den Fäusten, indem sie die Arme steif von sich abspreizte, verschluckte die Hälfte der Worte.

Tadisch sprang, kreideweiß, von seinem Sitz auf.

Brander machte ein indigniertes Gesicht.

Aber wie sie erschienen war, verschwand die Haushälterin wieder und Abraham Real wußte in launiger Weise zu berichten, wie er die Geisteskranke vor nahezu dreißig Jahren in seinen Dienst genommen hatte. In unverbrüchlicher Treue hing sie ihm an, zeigte monate-, ja jahrelang keine Zeichen von Verwirrtheit mehr, um dann plötzlich eine Szene, wie die eben erlebte, zu machen. Jedesmal komme zuerst sein Geschirr an die Reihe. Wie wenn die Alte eine innere Wut an etwas austoben wolle. Und zwar habe sie sich noch nie geirrt. Immer, wenn sie Menschen habe zur Türe hereinlassen müssen, die sich später als Schubjacke herausgestellt hätten, habe Jungfrau Hermine solchen Tanz aufgeführt. In letzter Zeit sei es gar arg. Schaue die Gute doch nur zu viel vom Küchenfenster zum Atelier der »Blendlaterne« und zu Schnarps hinüber, wo sie allerhand Schieber und anderes Gelichter beim Ein- und Ausgang beachte. Offenbar befürchte sie dauernd, diese fatale Nachbarschaft könne unversehens auch zu ihrem Herrn eintreten.

»Lauter Crétins«, dachte Doktor Tadisch, wie vormittags bei der Ankunft.

 

»Diesmal also erregten die ›Schieber‹, die in Ihrem Hause wohnen, Herminens Mißbelieben«, bemerkte der Staatsanwalt. »Und zwar begegnete mir, wenn ich mich nicht irre, der Name Schnarp, der an der Erdgeschoßtüre prangt, im Zusammenhang mit Akten, die ich unter die Hände bekam.«

Brander und Tadisch warfen sich einen Blick zu.

»Früher wußte ich von den Bewohnern des Platanenhofes nicht viel«, antwortete Abraham Real. »Seit aber die Leute da unten sind, seit anderthalb Jahren, könnte mir der Platz hier oben fast verleidet werden. Stellen Sie sich den notorischen Zuhälter vor, dann haben Sie Schnarp. Als Literat gibt er sich aus und hält sich eine Konkubine, die auch mit Anderen vorlieb nimmt. Jedenfalls geht sie bald mit dem, bald mit jenem Arm in Arm aus. Oder besser, sie steigt in die Autos, die alle Augenblicke vorfahren. Hermine behauptet's wenigstens. Und im Hause verkehrt außerdem viel Volk jeglicher Nationalität und jeglichen Standes. Auch so eine Internationale! Verlauste Kerls und ›Barone‹ nach Herminens Ansicht. Und sie ist sonst keine Schwätzerin, weiß gewöhnlich Bescheid, wenn sie was vorbringt. Schmuggler, Schieber, Spione und wieder Schieber.«

»Ganz recht, auch mir ist Schnarp – kn – als verdächtige Nummer bekannt«, warf Brander dazwischen. »Hat da ein Büro, die Redaktion der ›Blendlaterne‹ neben seinem Atelier eingerichtet. Soll im Grund dunkeln – kn – anarchistischen Tendenzen gewidmet sein. Oder nicht?«

Einen Augenblick zuckten die Mundwinkel Reals in leichtem Spott. Er wußte wesentlich mehr über Wildthaußen, als dieser ahnte. Er wußte, daß von der Junkerstraße+49 aus gewisse südländische Elemente in unserer Stadt ausfindig gemacht worden waren. Sie sollten dazu dienen, im Auftrage eines großen Generalstabes die anarchistische Revolution in ihr Land, in ihr dem Büro Wildthaußen feindliches Land zu tragen. Ja, Bomben, Waffen, Phiolen mit Mikroben, provozierende Zeitungen, lagen in unserer Stadt versteckt. Eine gewisse Gesandtschaft pflegte sie an Brander-Wildthaußen zu liefern. Wildthaußen ließ sich also heute abend in erster Linie blicken, um Real auszuhorchen. Der alte Arzt hatte seinerzeit die Männer, die ihn darüber um Rat fragten, dringend vor der imperialistischen Falle gewarnt. Leider fruchtlos. Nicht, weil er den Kampf um eine bessere Wirtschaftsordnung nicht gewünscht hätte. Aber, weil er eine Revolution zu Kriegszwecken und von derartig verlogenen, nur um ihr eigenes Wohlsein bekümmerten Agenten entfacht, von vornherein für unnützes Blutvergießen erachtete. Die plumpe Unverschämtheit der Wildthaußenschen Frage ignorierte er.

»Diese Schieber, Schmuggler, Zuhälter, und vor allem die literarischen Schieber« – Tadisch wollte sich aufregen, erhielt aber einen Wink Brander-Wildthaußens – »könnten schon die Instrumente und Werkzeuge eines gewaltigen kollektiv-verbrecherischen Treibens werden. Täter und Gehilfen, wie sie sich im Schieber- und Kettenhandel als brauchbar erweisen, um die Allgemeinheit zu schädigen und zu gefährden.«

»Ist mir nicht ganz – kn – sonnenklar«, schnarrte Brander-Wildthaußen.

Abraham Real dozierte selten. Dann aber ausgiebig. Geriet er in Eifer, so war es einfach ergreifend – so lautete des Staatsanwalts Ausdruck – Schlag und Wärme des »Patriarchenherzens« zu erleben. Er nötigte den abstrakten Dingen eine Begeisterung ab, die dem Rechts- und Gesetzesvertreter Calden, der für Lyrik wenig übrig hatte, wertvoller und größer erschien als jedwede künstlerische Rezitation.

Doktor Real war an eines der Büchergestelle getreten und hatte ihm eine kleine Schrift entnommen. Sein Aufsatz über Schieberpsychologie. Darin entwickelte er, wie gewisse gesellschaftsfeindliche Handlungen dadurch entstanden, daß der eine Mensch die Verantwortung auf den andern abschob. Es erhärtete sich zur Regel, daß jeder im Guten und Bösen die Rückendeckung am andern suchte und fand. Schließlich aber, wenn eine Katastrophe oder auch eine Massenbewegung die Folge war, wußte keiner mehr, was er dazu beigetragen hatte.

Auch der Staatsanwalt griff nun lebhafter ins Gespräch ein, hatte er doch in manchen Prozessen sich fast die Zähne ausgebissen, wenn er bei mehreren Tätern die Verantwortung und damit das Strafmaß für die Einzelnen klären sollte. Auf einmal war man beim Thema Schieber und Schieberbekämpfung angelangt, das von Abraham Real, als er den Staatsanwalt zum erstenmal besucht hatte, so kurz beendigt worden war.

»Kenne einen ›Schieberanwalt‹ – kn – patenter Kerl«, schnarrte hier Brander-Wildthaußen. »Sagte immer: Gelegenheits-Kettenhandel längst dagewesen. Hat selbst geschoben, gutes Stück Geld beiseite gebracht. Tüchtiger Bursche. ›Ungerecht‹, sagt er, ›da ins Geschäft zu pfuschen. Neid der Besitzlosen, der Ungeschickten‹. Hat mit Landeswohl wenig zu tun – kn –, da sich Geschäfte meist auf reinen Durchgangsverkehr durch Ihre neutrale Republik beziehen. Berühren Ihr Volksportemonnaie gar nicht. Befindet sich doch, Freund Schieberanwalt – kn – bis zu gewissem Grad im Recht, oder nicht?«

»Selbst, wenn unser Land scheinbar nicht berührt wird, schließt dies nicht aus«, entgegnete Doktor Real, »daß die Angehörigen der ärmsten Schichten das augenfällig mühelose Einkommen der Schieber als schreiende Ungerechtigkeit empfinden. Auch die Kleingewerbetreibenden, die Mittelständler, alle geraten in Wut. Sie sehen zu, wie die einen sich bereichern, während sie entbehren oder zu unerschwinglichen Preisen kaufen müssen. Geschmeiß klebt an der verteuerten Ware, Parasiten saugen am Blute der Besitzlosen. Erst noch berufen sich diese Leichtgewinnler dann darauf, es sei ihr gutes Recht, viel zu verdienen. Denn wer besäße die verwickelten Fachkenntnisse dazu, wie sie! Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, daß sie, sonst sicher begeisterte Patrioten, so oder so mit ihren Machenschaften das eigene Land ausbeuten. Parasiten wirken immer als Parasiten, Geschmeiß immer als Geschmeiß!«

Doktor Real wußte, daß Brander-Wildthaußen Vermittlungen zwischen kaufmännischen Parlamentsvertretern unseres Landes und offiziellen amtlichen Einkäufern der blockierten Staaten besorgte. Der erwähnte Schieberanwalt stand ihm dabei juristisch zur Seite. An Beider Hände blieb dabei ein Erkleckliches kleben.

»Die stetige, allgemeine Preissteigerung haben wir doch alle am eigenen Leibe gespürt«, bestätigte der Staatsanwalt die Ausführungen seines Freundes. »Drängt es sich uns allen nicht sozusagen täglich vor Augen, wie sich das Schiebervolk aufführt? Wer geudet unter den gewöhnlichen Sterblichen so mit dem Geld? Der, dem es mühelos zufloß. Man tanzt zwar um das goldene Kalb. Kalb und Gold indessen, wenn man sie beide zu wohlfeil bekommen hat, schätzt man gering.«

»Wäre nicht das Schlimmste«, murmelte Doktor Real in sich hinein. Ihm war eingefallen, daß Brander-Wildthaußen, dessen Hände zweifellos in mancherlei anrüchigen und reichlich lohnenden Geschäften steckten, seine Frau und seine beiden ins Gymnasium gehenden Knaben darben ließ. Real hatte absichtlich einmal einen hungernden »Kollegen von der Feder« zu Brander-Wildthaußen geschickt. Die Rohheit, der Zynismus seiner abweisenden Worte war fast unausdenkbar gewesen. Einem Simplizissimuswitz getreu, frei nach dem preußischen Leutnant, hatte der Dichter des »Narrenseelsorgers« ausgerufen: »Mensch, wenn Sie nichts zu fressen haben, warum belästigen Sie ausgerechnet mich mit Ihren Familienangelegenheiten?« Ein zweites Mal hieß Real einen mittellosen Maler bei Brander-Wildthaußen anklopfen.

»Schicken Sie Ihre Frau vorbei. Ist sie jung?« lautete die lakonische Antwort. All dies fuhr Real blitzartig durch den Kopf.

»Hermine behauptet«, sagte Real aus seinen Gedanken heraus, »Schnarp und seine jetzige Dame wollten ein feudales Herrschaftsgut kaufen. Sie hätten ausgesuchte antike Möbel, alte Gemälde, Miniaturen, Familienerbstücke, seltene Drucke, Luxus- und Prachtausgaben von Bücherauktionen erstanden.«

»Haben die Geschiche – kn – doch nicht selbst ausgewählt. Sondern durch bezahlten, sogenannten Innenarchitekten vornehm entwerfen lassen.«

»Kennen Sie einander?« fragte Abraham Real.

Brander-Wildthaußen blies nur zweimal durch die Nase: »kn – kn.«

Die Schnurrbartfliege über der Nasenrinne zuckte leicht.

»Ist auch ganz gleichgültig«, fuhr der alte Arzt fort. »Leute, wie diese Schnarps, und in erhöhtem Maße einige ihrer offenbar noch ausgeprägter kunstzünftlerisch sich gebärdenden Mitarbeiter in der sehr eigentümlichen Redaktion der schieberhaft mit Geld versehenen ›Blendlaterne‹ möchten so die Lebensästhetik eines alteingesessenen Besitzstandes vortäuschen. Die guten Kleinbürger – die Snobs! Damit hoffen sie den Schein selbstverständlicher Zivilisation und Kultur zu erwecken. Und zwar zahlen solche Parvenus jeden Konjunkturpreis, den nun die Bilderschieber wieder machen und der dem ursprünglichen Schöpfer ja in keiner Weise zugute kommt. Klar, daß der reichgewordene Schieber seinerseits dem Schieber von einer anderen Fakultät als der seinigen, beispielsweise dem Kunsthändler und Bilderschieber, üppige Milchkuh wurde. Bei all diesen Schieberkreaturen höherer oder niederer Stufe zeigte sich unbestreitbar Begabung, die fette und wertvolle Flüssigkeit ohne größere Anstrengung wieder loszuwerden, als wie sie angemästet worden war.«

»A propos – Kunst und Schiebertum …«, fügte Real scheinbar unvermittelt seinen Worten die Fortsetzung einiger früherer, heimlicher Gedankengänge in bezug auf Brander-Wildthaußen an. Und zwar diesmal laut und in dessen Anwesenheit. Wie denn Real immer seinen Grundsatz durchführte, alles, was er über Dritte dachte und sagte, auch vor ihnen selbst auszusprechen.

»Ich schickte Ihnen doch einmal einen jungen, mittellosen Maler, den Sie aufforderten, seine Frau möge bei Ihnen vorsprechen. Wozu taten Sie dies?«

»Kann mich nicht erinnern, kn?«

»Sie kam dann allerdings nicht.«

»Ah –, fällt mir eben ein. – Wozu?« Brander-Wildthaußen stotterte zuerst. Plötzlich schien er sich anders zu besinnen: »Was geht mich – kn – seine Malerei an, wenn die Frau häßlich ist? Wäre sie schön gewesen, hätte man schließlich auch das Gekleckse in Kauf nehmen können. Nicht wahr, Doktor Real, trauten mir die freizügige Offenheit – kn –, den Zynismus, wie Sie sagen würden, meiner Antwort nicht zu?«

Real schaute den nervös aus seiner Importe Paffenden stillschweigend an, bis dieser sich, wie stets, wenn er verlegen wurde, räusperte.

 

Doktor Tadisch hatte sich schon, als Hermine abgegangen war, aus dem Sessel erhoben, dann aber, ohne ein Wort zu sagen, wieder hingesetzt und in seinen Mantel vergraben. Real hielt sich hinter seinem Schreibtisch verschanzt. Der Staatsanwalt zu seiner Rechten, wandte dem Hausherrn sein Gesicht zu und bemerkte daher die Bewegungen Tadischs nicht. Er ließ nicht vom Faden ab und führte aus, wie die typischen Schieber antike Möbel einkauften, um die Kontrollorgane der Kriegsgewinnsteuer zu täuschen. Das blitzblanke Mobiliar hätte Anhaltspunkte für den Moment, da sie reich geworden waren, gegeben.

Brander-Wildthaußen war hinter Tadisch getreten und flüsterte ihm, während Real und Calden sich weiter unterhielten, ins Ohr: »Rührend dieser Ernst, diese geistige Vergnügungssucht, kn. Diese Phantasielosigkeit im Genuß, kennen keine Weiber, kein Theater und Varieté, keinen Schick, keine Eleganz – kn –, werden sich, lieber Tadisch, nachher im Stockwerk weiter unten schadlos halten.«

Inzwischen stellten Real und Calden fest, daß sich zu Schiebergeschäften meist sozial isolierte Individuen zusammenfanden.

Im Gespräch war es Doktor Real aufgefallen, daß Tadisch von Zeit zu Zeit mit seinen Armen völlig grundlose Kreisbewegungen beschrieb oder auch am ganzen Leib zu zittern schien.

Unterdessen redete der Staatsanwalt, der davon nichts bemerkte, eifrig weiter. »Tatsächlich wußten auch zahlreiche am Kettenhandel und Schiebergeschäft beteiligte Geschäftsleute nicht, wo sie gerade in eine Kette hineingefügt worden waren. Es blieb ihnen unbekannt, daß auf der einen Seite der Kette die wirklichen Schieber, Kettenhändler und Schmuggler standen. Noch weniger ahnten sie, daß auf der entgegengesetzten Seite, freilich ganz im Verborgenen, Kompensationshändler unseres eigenen Staates und ebenso hochgestellte Agenten kriegführender Länder wirkten.«

»Offizielle und inoffizielle«, unterbrach ihn der alte Arzt, der eben wieder einen Augenblick lang die Bewegungen Tadischs verfolgt hatte. »Agenten, die das größte Interesse daran bekunden, auf ungeraden Wegen Klauselbestimmungen verschwinden zu lassen oder zu umgehen. Zu diesem Zwecke aber können sie sich nur käuflicher und minderwertiger Instrumente bedienen. Schiebungen, um zu schieben, eine auf viele Rücken verteilte Verantwortlichkeit und Schuld, die in ihren Wirkungen dadurch umso verheerender wird. Nicht wahr, Herr Brander?«

»Verstehe nicht – kn –, warum Sie diese Frage plötzlich an mich richten?«

»So. Mein Freund Calden erzählte mir, bei der Nachfrage nach Persönlichkeiten, die in ›Schiebergeschäften‹ machten, habe es sich herausgestellt, daß der ausländische Einkäufer fast immer das letzte Glied bildete.«

Brander-Wildthaußen hustete kurz und trocken. Die Hitlerfliege unter der Nase zuckte.

»Ja, infolge der unheilvollen Beeinflussung des Wucherstrafverfahrens durch hochgestellte Unterhändler oder Diplomaten mußte es vielfach zum Stillstand jeglicher Verfolgung der Fehlbaren kommen«, sagte der Staatsanwalt, immer ganz sachlicher Eifer, ohne die Untertöne im Gespräch wahrzunehmen. »Zählen wir also die Kettenhändler«, fuhr er fort, »vom armseligsten Berufsschmuggler über unzählige Kaufleute bis zum opportunistischen Regierungsbevollmächtigten auf unserer Seite, und bis zum diplomatischen Agenten des Auslandes, so finden wir herzinnigst alle Gesellschaftsklassen und Rangstufen von unten nach oben in den Schieberreihen vertreten. Bei welcher Feststellung man sich wiederum auf den Standpunkt stellen müßte, daß es von jeher Schieber gegeben habe. Ein müßiges Unterfangen sei es darum, aus der allgemeinen Korruption der Menschen, die auch vor dem Kriege nachweisbar gewesen sein soll, einen besonderen Schiebertyp entdecken zu wollen.«

»Ausgezeichnet!« ließ sich auf einmal Doktor Tadisch vernehmen, der in Gedanken ganz anderswo geweilt, sich mit Briefen beschäftigt hatte, welche er an mehrere ihm bekannte Verleger im Zusammenhange mit den Ereignissen des heutigen Tages zu verfertigen gedachte. Er hoffte in diesem Augenblick, der alte Arzt und der eifrige Staatsanwalt würden das Gesprächsthema endlich wechseln. »Ganz richtig! Kein glücklicher Ausdruck ist das Schimpfwort ›Schieber‹ für einen besonderen Typ«, fügte Tadisch leise, wenngleich mit Wichtigkeit, hinzu. »Schieber ist der Anwurf hiesigen Fremdenhasses, dem man auf Schritt und Tritt begegnet. Während meiner kurzen Anwesenheit in Ihrer gastlichen Stadt bekam ich ihn empfindlich zu fühlen. Kaum angekommen, bemogelte mich ein Dienstmann. Aus dem ›Maulbeerbaum‹ wurde man auf höchst unmanierliche Weise hinausgepfeffert …«

»Bei genauerem Zusehen, Herr Brander«, – Doktor Real ignorierte Tadisch, ließ dagegen den Angeredeten nicht los, »möchte ich betonen, daß Individuen, die an Schiebergeschäften im engeren oder weiteren Sinne beteiligt sind, sich doch aus den haltlosen Typen besammeln. Es sind Kreaturen, die kein oder ein sehr wackeliges Verantwortungsbewußtsein besitzen. Wir müssen nur bedenken, wie der Geldbesitz vor dem Sichtbarwerden der Haltlosigkeit schützt und was alles an Unrecht und gesellschaftlicher Unsauberkeit durch kapitalistische Machtmittel vertuscht werden kann. Seit jeher fanden sich in großen Gesellschaftsskandalprozessen, Bankkrachaffären, Devisenschwindeleien und ähnlichem die Haltlosen zusammen. Sie verstanden es mit abgefeimten Kniffen, die Verantwortlichkeit im kumulativen Treiben von einem zum andern abzuwälzen. Damit verunmöglichen sie durch Abschiebung der Verantwortlichkeit das Urteil über die Schuld jedes einzelnen Beteiligten. Und diese Einzelnen beruhigten erst noch ihr Gewissen, sofern sie eines besaßen, mit Nichtwissen.«

»Gewissen besaßen sie – kn – doch nur dann, wenn sie erwischt worden waren.«

»Und was verschleimt sich mit allen den von Ihnen so richtig zum Vergleich erwähnten Prozessen? Prostitution, Zuhälterei, Erpressung. Um Persönlichkeiten herum, die den Schein des krampfhaft Ehrenwerten bis auf die Perle in der Krawatte durchzuhalten wissen. Leiser Hinweis darauf, daß wir heute die gleichen Eiterbeulen entstehen und zum Teil auch platzen sehen. Daß im stillen recht viel Intellektuelle nicht etwa in der Protestaktion gegen die bestehende Weltordnung, sondern hier im Schiebertreiben an der Spitze stehen, ist für die Intellektuaille, Herr Brander, nicht für die Intellektuellen äußerst bezeichnend. Es finden sich jetzt wie sonst die Haltlosen der bessergestellten Schichten zusammen mit den Haltlosen der schon fast außerhalb der Gesellschaft Stehenden. Die Kapitalgewaltigen mit der Kaste der Enterbten, jener Lumpenproletarier, die hier wie dort Werkzeuge und Mittel werden, die dunkleren Geschäfte im Kumulativverbrechen auszuführen. Es handelt sich für uns übrigens nur um Verbrechen, sofern man sich am werktätigen Konsumenten vergeht, Herr Brander!«

Der Angeredete schaute bei den letzten Worten auf die Uhr, erhob sich, drückte Tadisch die Hand, verbeugte sich vor dem Staatsanwalt, vor Real und ging. Tadisch machte Miene, ihm zu folgen und blieb sitzen.

 

Calden wollte etwas fragen, blickte hinter Brander-Wildthaußen drein, fuhr aber unbeirrt in seinen Gedankengängen weiter: »Ein einfacher Polizeisoldat teilte mir spontan eine Beobachtung mit. Es sei ihm an Leuten, die er im Untersuchungsgefängnis immer wieder treffe, an Gewohnheitsverbrechern aufgefallen, wie sie sich heute allesamt in Schieber-, Schmuggel- und Spionagegeschäfte verwickelt zeigten. Früher hatten sie als notorische Zuhälter, Erpresser, Croupiers, Falschspieler oder Strichjungen in den Strafakten figuriert. Sehr bemerkenswert seien ihre Beziehungen zu ›höheren Klassen‹, auf die sie sich damals, wie heute berufen könnten. Nun, und in einigen Jahren werden wir die gleiche Sippe wieder in etwas anders strukturierten Wirtschafts- und Gesellschaftsgestaltungen schiebend und geschoben werdend erkennen können.«

Abraham Real wies auf die vielen krankhaften Naturen hin, die nicht selten durch ihr verwirrtes Denken zu Opfern, zu Werkzeugen, zu Instrumenten der sie vorschiebenden Führer im Kettenhandel geworden waren. Während er sprach, schien es ihm, als ob Tadisch stöhnte. Schärfer zu ihm hinblickend, bemerkte er, wie der Gast im Kamelhaarmantel mit den Armen wiederum Kreisbögen in die Luft beschrieb. Im selben Augenblick sah auch der Staatsanwalt zu Tadisch hinüber, der sich nun, wie wenn er sich zusammenrappeln wollte, gerade aufsetzte, mit der Hand über die Stirne fuhr und ein Aussehen gab, als nehme er eifrig Anteil am Gespräch. Er fragte, wenn auch offensichtlich mühsam, fast stotternd:

»We … wer … s … s … sind denn die als Instrumente benützten Persönlichkeiten?«

»Wie?« fragte der Staatsanwalt, vom Benehmen Tadischs immer eigentümlicher berührt. »Ach so. Klar, daß unter den Elementen, die im Schieberbetrieb Mittel und Werkzeuge abgeben, Ausländer und durch die Kriegsverhältnisse heimatlos gewordene Einwanderer die Rekruten stellen. Leute, die unseren heimatlichen Gepflogenheiten und Rechten fremd gegenüberstehen. Leute, die weder Tradition, noch Verständnis für unser durch Grenzen eng eingehegtes Gemeinwesen besitzen. Von vornherein Schädlinge für unseren Staat …«

»Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Staatsanwalt sich vom Etatismus freimachen könnte«, neckte Abraham Real seinen Freund.

So redeten sie weiter, wie wenn Tadisch nicht dabei gewesen wäre, von dem übrigens wieder einmal ein kaum vernehmbares Röcheln herzukommen schien. Sie sprachen von Gelegenheitsgroßhändlern, die jegliche Ware aufkauften. Sie sprachen von Disqualifikationsschiebern. Kaufleute wurden zu nichts anderem benutzt, als daß sie Waren, die nur für unser Land bestimmt und deshalb mit einer Ausfuhrklausel behaftet waren, von Glied zu Glied einer Kette zu schieben hatten. Irgendwo ging dann die Klausel verloren. Der nächste, der sie kaufte, wußte von ihr nichts mehr und lieferte sie sogar in guten Treuen ans Ausland, für das sie gerade nicht bestimmt sein sollten. In eigentliche Schieber, Vermittler, Sammler, Preisauftreiber, Aufspeicherer der Waren, Exportschmuggler, Exportaufspeicherer teilte der Staatsanwalt ein. Alle seien sie den Haltlosen vergleichbar, die eben nach jeder gewinnbringenden Gelegenheit greifen, wo andere die Finger nicht danach ausstrecken würden, isolierte Schädlinge, Geschwüre im Volksganzen. Die Versuchung auch für die sonst auf ihre Unbestechlichkeit stolze und mit Nationalbewußtsein erfüllte Beamtenschaft sei größer denn je.

»Die Forderung, soziale Verantwortlichkeitsbegriffe zu erwecken«, Staatsanwalt Calden wollte seine Gedanken abschließen, »ist die Aufgabe derjenigen, welche die Gemeinschaft zu behüten und zu beschützen haben. Der isoliert und ohne Rücksicht auf die Umwelt handelnde Mensch hat durch die Reaktion der Allgemeinheit zur Erkenntnis zu gelangen, daß er im Zusammenleben ein Schädling, ein krankes Organ ist, das ausgemerzt oder korrigiert werden soll. Wir müssen darauf sinnen, die Überzeugung zu stärken, daß geschärfte Geschäftsintelligenz zum eigenen Vorteil nicht gleichlautend ist mit verfeinerter Gewissensintelligenz. Freilich wird dies erst gelingen, wenn weniger materialistische und relativistische Anschauungen als die gegenwärtigen …«

»Dann müssen Sie warten bis ans Weltende!«

»... internationale Geltung erhalten werden und wenn absolutere Ziele und Werte, nach denen alle die Einzelnen unter den Vielen streben, den Erfolg in unserer Gesellschaft gewährleisten. Dann auch werden die mindestens ebenso korrumpierten Schiebungen, die zu allen Zeiten in Politik, Kunst und Wissenschaft an der Tagesordnung waren, gleicherweise verschwinden, wie die speziellen der Kaufleute und Gelegenheitsmakler. Für sie möchte man fordern, sie sollten zu verantwortlichen Volksbeamten werden.«

»Nur möglich auf genossenschaftlicher, auf sozialistischer Grundlage. Und dann Gnade uns Gott vor dem heiligen Bürokratius!«

»Und letzten Endes sollten wir alle, die wir, zumal in der gegenwärtigen Zeit, voneinander äußerst abhängige Glieder unseres Zusammenlebens sind, unser eigenes Gewissen prüfen. Wir sollten uns fragen, ob wir nicht auch in unserem täglichen Treiben am meinetwegen ganz kleinen Schleichhandel, am Schmuggel in den Haushalt, am Hamstern, an der Umgehung der bestehenden Vorschriften Anteil haben? Ob wir nicht durch unsere Gleichgültigkeit in mancher Hinsicht mitschuldig sind an der allgemeinen Verwedelung, an der Abschiebung der Verantwortlichkeit, auf welche sich die Schieber im Großen so geschickt, vor sich selber, wie vor Anderen berufen …«

Ein Gurgeln und Röcheln Doktor Tadischs überdeckte die letzten Worte. Er stieß ziemlich schwer mit dem Kopf auf das Teppichende vor dem Lehnstuhl, auf dem er gesessen hatte. Dann begann er mit Armen und Beinen zu zucken, einige Minuten lang, während Speichelschaum aus den Mundwinkeln floß.

Der Staatsanwalt sprang ihm erschreckt zur Seite, öffnete Mantel, Rock, Kragen. Der alte Arzt war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden und sagte:

»Lassen Sie ihn ruhig liegen. Er wird bald wieder zu sich kommen.«

Der Staatsanwalt sah ihn erstaunt an. So herzlos hatte er den Freund noch nie erblickt. Immerhin murmelte auch er, fast unwillkürlich:

»Merkwürdig, daß die Krankheit, wie ihr Träger, unsympathisch sein kann.«

»Mag er's gehört haben«, dachte der alte Arzt.


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