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16. Kapitel.
Von Tauben und Glocken.

An einem der nächsten Tage stieg der Doktor im Kamelhaarmantel die Wendeltreppe zum Münsterturm empor. Schlank, von Spitzbogenfenstern durchbrochen, wie schaumiges Filigran, ragte er über die Altstadt, Wahrzeichen einer Zeit, da gemeinsame Gläubigkeit die namenlosen Vielen durch Generationen hindurch über das eigene Leben hinaus zum erhabenen Werke zusammengeführt hatte.

Tadisch befand sich auf einem Dienstwege. Er pflegte sich bei der Sakristei hineinzuschleichen, besaß einen eigenen Schlüssel zum Treppenaufgang. Dem Sakristan hatte er begreiflich gemacht, daß er den Glockenmeister Nüsperli bemerkenswert fand. Einen Schriftsteller mute diese sonderbare Figur sympathisch an und er klimme zu literarischen Studienzwecken die ungezählten Stufen so oft in die Höhe. Der Sakristan spielte die alten Väter in einem dramatischen Verein unserer Stadt und bekundete für die Unternehmung Tadischs verständnisvolles Interesse. Es sei ihm klar, daß der Dichter zu seinen Figuren lebende Modelle benötige. Er selbst habe auch vor siebzehn Jahren, – ja, genau so lang war's her, – zu einer silbernen Hochzeit ein Stück geschrieben. Vorher aber hatte er ein Original von einem Zivilstandsbeamten ausgehorcht, der den Jubilaren im Stück seine Glückwünsche aussprach. Tadisch zeigte sich bei solcher Gelegenheit imstande, leutselig zu sein, überdies freigebig, so daß er mit Sakristan und Nüsperli allmählig ins beste Einvernehmen geriet. Bei der zweitobersten Terrasse machte Tadisch erst seinen Rundgang. Drüben der blendend weiße Stadtberg, schwarz abgeschnitten vom Waldrand gegen den blaugrauen Himmelsgrund. Davor der Platanenhof, das Atelier, die Redaktion der »Blendlaterne«. Mochte sie in Flammen aufgehen! Von ihr aus kletterten Villen den Hang herunter, tiefer bauten sich Mietskasernen an in schwarzweißen Treppenstufen, weiße Dächer, weiße Fassaden, schwarz die Fenster, grau die Straßen, so zog es sich um den See. Jenseits die Altstadt und die Junkerstraße mit dem Büro Wildthaußen. Mochte es in die Luft fliegen! Hinten die Arbeiterquartiere, der schwarze, breite Streifen der Bahnlinie. Winzige Maschinen mit weißen Rauchballen. Wind heulte und pfiff um die Ohren.

Tadisch drückte auf die Klinke einer eisenbeschlagenen Tür und trat in ein mitten in den Turm eingebautes, achteckiges Zimmer. Der Boden bedeckt mit Vogelmist. Ein kleiner Ofen, beinahe in Rotglut. Hühnerstallgeruch, infolge der Hitze den Atem beschwerend. Linkerhand Feldbetten, das eine für die Eltern Nüsperli, das zweite für ihre drei Mädchen, ohne Spur von Bettwäsche. Sechs der sieben Fenster verbaut mit Vogelkäfigen. Das Zimmer ausgekleidet mit Holzverschlägen, den Nischen des gotischen Turmbaus entsprechend. Allerlei Winkel und Etageren, auf denen Tauben hockten, Maiskörner pickten, wenn sie nicht auf dem Fußboden herumliefen oder gelegentlich aufschwirrten. Über den Betten ein rundes Guckloch, ein Ochsenauge, vor dem zwei Tauben draußen auf und ab stelzten und hie und da an die Scheibe klopften. »Warten, nur warten!« rief Nüsperli ihnen zu. Mit gespreizten Beinen stand er vor einer vergitterten Kiste und streichelte einen brütenden Vogel. Ein weißer Tauberer mit entfaltetem Pfauenfederschwanz trippelte unterdessen auf dem Rücken des Mannes umher und praktizierte ein kalkiges Andenken auf seine blaue, von anderen ebensolchen Spuren gesprenkelte Bluse. Auf dem Tisch, mitten im Raum, eine Halbliterflasche mit wasserklarer Flüssigkeit. Der Geruch, der sich in den Vogelmist mengte, verriet Branntwein.

»Tauben, Glocken, Nonnen, geehrte Person, Herr Doktor«, begrüßte Nüsperli, der sich nicht erhob, den Gast.

Das folgende Gespräch führte er zunächst, ohne vom Gestreichel der brütenden Mutter abzulassen und ohne daß der Pfauenschwanztauberer im Spaziergang über seinen Rücken eingehalten hätte. »Nonnen, Schwalben, Malteser und Tümmler. Weißschwänze, die sind bei den Bauern beliebt. Es ist eine schöne Rasse. Sie dürfen nichts haben als zwölf weiße Federn und alles andere muß dunkel sein. Die Frau wurde geholt vom Amtsvormund mit den drei Mädchen. Aber das Große ist fast volljährig. Es verdient auf dem Telephon. Den Bello drohten sie auch mitzunehmen. Er hat sich an die Hosen der werten Person, des Herrn Vormunds gemacht.«

Bello knurrte aus einer Ecke, unter den Taubenkisten hervor.

»Es ist doch sauber aufgeräumt hier, Herr werte Person, Doktor Tadisch. Die Hühner und Tauben können bei schönem Wetter auf die Terrasse hinaus und der Bello ebenfalls. Es bleibt kein Unrat in der Stube. Die Kinder hätten Zecklehme –«

»Ekzeme«, korrigierte Tadisch.

»– – – und Läuse und man hat sie zum Reinigen ins Spital spediert. Aber nicht das Lineli. Das ist blitzsauber. Mich wollen sie vogten. Ich bin zum Läutmeister vorgerückt, weil ich so lange Jahre immer regelmäßig die Glocken in Schwung gebracht habe. Wenn zur Kirche ruft mein Schall, wenn zu Grabe tönt mein Hall, wenn zur Vesper ich ertöne, oh, so denkt ihr Erdensöhne, denket alle nicht vergebens an den Abend eures Lebens! Dieser Spruch steht an der Würdishofner Glocke.«

Tadisch setzte sich auf den Tisch, nachdem er zuvor eine Ecke mit seinem Taschentuch gereinigt hatte.

»Ist das Lineli mit den andern ins Spital?«

»Heute ist es ein wenig unsäuberlich hier, aber Sie wissen doch selbst, geehrte Person, Herr Doktor, daß Lineli sonst gute Ordnung hält und keine Läuse hat. Die Mutter ist waschen gegangen, kommt erst abends heim. Geben Sie mir den Busenfreund.«

Tadisch reichte ihm die oben breit ausmündende Flasche, aus welcher der Läutmeister einen gurgelnden Zug tat. Der Pfauenschwanztauberer flatterte dabei von seinem Rücken herunter. Nüsperli richtete sich mit kupferrotem Gesicht auf. Jedes Wort, das er sprach, hauchte durchdringenden Weingeistsprühregen um sich.

»Sagen Sie, Meister Nüsperli, ich wollte Sie etwas fragen. Haben Sie in den letzten Tagen im Bahnhof Dienst getan?«

»Tümmler Weißschwänze kann man sich selbst züchten. Ein wüstes und ein sauberes Tier fressen gerade gleichviel. Darum muß man nicht so dumm sein. Ich habe vierzehn Diplome. Jetzt kriegte ich wieder den ersten Preis von Würglishofen. Die letzten Tage wurde ich immer um zwei Uhr geholt und zu Herrn von Wildthaußen an die Junkerstraße geschickt. Von dort mußte ich große Kisten zu einem Gemüsehändler in den Stall tragen. Der Amtsvormund hat reklamiert, daß wir nur dreimal im Tag Kaffee zu trinken haben und manchmal kein Brot. Den Gugelhopf ißt er bei sich zu Hause.«

»Sie sollten weniger saufen«, sagte Tadisch, sehr befriedigt von der wirren Auskunft.

»Das sind Elstern«, fuhr Nüsperli fort, nachdem er wieder einen Schluck hinter die Binde gegossen hatte. »Taubenelstern. Liebe Viecher, meine Tauben, liebe Viehlein. Der unteren sagt man Berliner-Lange. Dann hat's hier Charlotten oder Plattentümmler. Die Tauben trinken auch nichts und sind gleichwohl gescheit. Dort sind Perücken- oder Kapuzinertauben. Mövlein. Jetzt habe ich vierzehn. Eine ist mir zugeflogen. Sie hat keinen Ring. Ich habe sie gebastert. Von einer Brieftaube und einer Wilden.«

»Sind die zurückgekommen, die ich letzthin mitnahm?«

»Sie machen den Kurzsichtigen und Schwerhörigen, werte Person, Herr Doktor. Da haben sie doch gerade ans Fenster gepickt. Lassen Sie sie nur herein.«

Der Alte, dem der Schnurrbart ausgefranst über das Kinn herunterhing, stieg, freilich zitterig genug, auf das Bett der drei Kinder und öffnete das Ochsenauge. Die Tauben flatterten über den Tisch. Ganz ermattet. Nüsperli stellte Wasser hin und streute ihnen Maiskörner vor.

Aufgeregt löste Tadisch Aluminiumkapseln von ihren Beinen und steckte sie zu sich.

»Die Kaution können Sie für sich behalten«, bemerkte er zu Nüsperli, der aus kleinen, verschwommenen Äuglein Tadischs Bewegungen verfolgte.

»Pfauentauben«, sagte Nüsperli. »Die sind nichts zum Fliegen wie die Brieftauben, sind nur schön ins Auge. Bis man die roten Federn hat und etwa sechzig im Schwanz, muß man immer Mutter und Tochter und Vater und Sohn zusammenbastern. Ein halbes Dutzend Jahre lang. Das heißt man eben Inzucht. Wenn man das sieht, ist man ein anderer Mann. Und der andere Mann darf auch etwas zu trinken haben, selbst wenn die Tauben nichts saufen.« Der Rede kurzer Sinn war für Nüsperli der, wieder einen Schluck nehmen zu dürfen.

»Wie sahen die Kisten aus, die Sie in den Stall trugen?«

»Kropftauben, Barttümmler, weil ihnen ein Bärtlein unter dem Schnabel wächst. Und dann die weißen Schwingen, die flitzen silberig durch die Luft. Fliegen können die! Ich habe sie wegtun müssen. Sie passen nicht zu den Brieftauben, weil sie zu wenig intelligent sind. Sie kommen nicht mehr heim. Aber die beiden sind heimgekommen. Aus dem Süden vielleicht?« fragte Nüsperli und grinste über das ganze Gesicht.

»Ja, aus dem Süden, wie haben Sie das erraten?«

»Ich muß nie Tauben kaufen. Sie werden selber erzogen. Meine Tierlein sind alle hier im Turm geboren. Die kennen halt die Alten. Meine Tierlein waren beim Wettflug immer die ersten. Ihr Münster sahen sie halt. Und im Norden hätten sie es nicht gesehen. Weil dort Sturm und schlechtes Wetter ist und sie darin untergegangen wären. Aber im Süden ist es schön und sogar, wenn sie sehr weit und über die Berge herflogen, war das Wetter klar. Gucken Sie mal dort ans Seende. Ganz blau sind die Berge. Aber jetzt dürfen Sie mir keine hinunterschicken. Jetzt wird das Wetter ändern und in dieser Jahreszeit gehen sie zugrunde. Meine Tauben sind schon als jung immer gut ernährt, weil sie es halt von den Alten lernen.«

»Wie sahen die Kisten aus, die Sie in den Stall zum Gemüsehändler tragen mußten?«

»Aus Hitz und Feuer bin ich geflossen, und ein währschafter Meister hat mich gegossen. Ich läute zu Freuden, ich läute zu Leiden, ich läute bei Tage, ich läute bei Nacht. Das menschliche Leben ist Finden und Scheiden. Lob sei dem Herrn, der alles gemacht. Gott gebe Gnad', daß an dem Ort das Volk abhöre göttlich Wort, welches die Speis' der Seelen ist, durch unseren Herrn Jesu Christ. Das sind meine Glocken, auf denen ich das lese. Weit bin ich gewandert und habe das alles selber aufgeschrieben. Meine Glocken und Tauben.«

Tränen glänzten in den Augen Nüsperlis, als er wieder zur Flasche griff.

»Wie sahen die Kisten aus, Meister?«

»Dem Schnabel sagt man Nuß. Die weißen Tauben sind mir immer wieder gekommen. Jetzt habe ich noch sieben. Das gefällt mir halt, die weißen Tauben. Es waren nicht nur Kisten. Jeden Tag zehn, fünfzehn Pakete, wie mit Zeitungen voll. Und dann flache Kisten, gewichtiger als Metall.«

Nüsperli kroch unter den Tisch und brachte einen etwas schwerer gebauten Vogel zum Vorschein. Er hielt ihn ganz nahe ans Gesicht Tadischs. Die Taube flatterte mit den Flügeln. Tadisch fuhr zusammen.

»Waffen waren darin, wenn Sie's wissen wollen! Wie Blei wogen sie. Eine Dragonertaube bestellte ich einmal aus Breslau. Dann habe ich sie mit einer Kleiderbürste und etwas Seife geputzt. Mit dem neuen Chutter habe ich Glück gehabt. Die Augenwarzen wachsen zu stark. Man muß halt putzen. Ich putze alle Tage meine Tauben. Bis in drei Wochen habe ich sechs verschiedene zu verkaufen.«

»Kommt das Lineli bald wieder?«

»Das habe ich an meinem Hochzeitstage von einer Glocke abgeschrieben: Das Jahr wird alt, das Jahr wird neu. Gott aber ist stets neu und alt. Neu in der Liebe, alt in der Treu. Laßt uns auch lieben dergestalt. Und in Werendingen heißt es: Zum Abendrot ruft euch mein Ton. Die Sonne sinkt hernieder schon. Das Tagewerk ist bald vollbracht. Der Höchste schütz' euch in der Nacht. Lineli ist ein unglückliches Kind. Es weint immer und möchte, daß etwas Besseres aus uns würde. Und ich bin ein Dreckhund, weil immer so ein Brand in mir wütet und doch hängt das Kind an mir. In Bielfangen heißt es: Wenn wilder Sturm den Brand zerstörend facht, so schallt mein Schreckensruf: Erwacht, erwacht!«

»Ich habe da für die Mutter Mehl und Nudeln eingehamstert und für Lineli und die beiden anderen Schokolade.«

Tadisch legte die Sachen auf den Petroleumherd, der neben einem Küchenschrank, zwischen den Taubenkäfigen verstaut, im Dunkel fast nicht zu sehen war.

»Ich bin ausgetreten aus fast allen Taubenvereinen wegen der Sache mit dem Waisenamt. Es bricht mir das Herz, es bricht mir das Herz für meine lieben Tierlein. Die Feuerpolizei war auch hier und sagte, ich müsse da oben heraus und dürfe nicht mehr mit dem Petroleum kochen. Der Turm könne angehen. Und wenn man mit einem Zündholz an mich herankommt, so brenne ich lichterloh, meinte man. – An dem Teufel will ich mich rächen. Und alle bösen Geister zerbrechen. Bei dem Anlauf der Hölle läute die Glocke Sturm! Gott für uns! Wer wider uns? – So steht's, ich weiß nicht wo.«

»Hat Lineli Unterkleider?« fragte Tadisch und legte ein Päckchen wollenes Zeug auf den Küchenschrank. Es war ihm schwer gefallen, etwas Derartiges einzukaufen. Tadisch hatte sich eigens ins Arbeiterviertel geschlichen, weil er sich seiner Regung schämte, für dieses halbflügge Mädchen, das ihm irgendwie wirklich leid tat, sorgen zu wollen.

»Ich mache hie und da Scheidungen. Es muß so geschieden werden, daß ich noch bessere Ware bekomme. Da muß man wissen, was man tut. Man muß es jeden Tag wissen. Ich bin ein verlumpter Mensch, aber ich kenne meine Tierlein. Ich bin nicht mehr der gleiche Mensch wie früher. Aber der Nichtgleiche darf auch eins trinken.«

Nach dem Schlucke: »Alles schreibe ich auf seit Jahren her. Alle Glockensprüche. – Als diese Glocke ward gemacht, haryn, galt zehen Gulden ein Saum Wyn, ein Gült Kernen galt 13 Pfund. Begnad' uns Herr zu aller Stund. – Dieser Spruch stammt von 1530. Und auf einer anderen Glocke steht: Ich bekam einen Spalt, da der Kernen 46 Florin galt.«

»Ich sollte Ihnen kein Geld mehr geben. Aber was geht's mich an. Die Psychiater würden Sie einsperren.«

»Der Amtsvormund hat das schon gesagt vom Psychiatriker. Ich bin jetzt unter Aufsicht. Aber ich kann halt selbst sichten. Und erst noch dichten. Ich habe halt einen Schwung darin. Von ledig her habe ich das alles mitgebracht und als geheiratet konnte ich das nicht mehr machen. Wir bekamen sechs Jahre keine Kinder. Da habe ich noch manches gemacht. Später als Krankenwärter hatte ich bis zur heutigen Stunde die Gewohnheit angenommen wegen meiner ›ornithologischen‹ Tätigkeit, nach meiner sonst beschwerlichen Tagesarbeit von zwölf bis vierzehn Stunden, ganze Nächte lang zu schreiben. Kaum drei bis vier Stunden Ruhe gönnte ich mir. Was ich in Zeitungen berichtet habe über Tauben und Glocken, ist unerhört. Viele tausend Seiten enthalten meine zirka zwanzig mächtigen Bücher. Alles aus meiner Hand seit 1867 bis heute. Gräßliches übersteigt es für einen Arbeiter, der sich sonst schon zwölf Stunden müde schuftet. Und alles mit Jahr, Monat und Tag. Das letzte Buch führe ich immer noch und alle diese Arbeiten befinden sich in meinem Besitz. Diese schriftlichen Arbeiten sind mein Kleinod, meine Lust und Freude. Die Gedichte, die ich selbst verfaßte über Tauben, Glocken, werte Person, geehrter Herr Doktor, das alles hat meinen armen Kopf nervös gemacht. Nicht für viele Tausender würde ich mich von meinen Büchern trennen, welche über anderthalb Zentner wiegen. – Ich unbegeistertes Metall rief über die Zeit hundert Jahre mit lautem und mit hellem Schall zum Gottesdienst und zu der Bahre. Bis daß ich durch die Wut der Flammen allhier im Schutte fiel zusammen. Da ich jetzt umgegossen bin, tu ich es wieder wie vorhin.«

Tadisch stöberte in einem Stoß von Geschäftsbüchern herum, die in einer Ecke unter Staub und Taubenmist übereinander lagen. Aber wie er auch Band um Band aufschlug, fand er doch nur in kleiner, ungeschlachter Schrift Eintragungen über Taubenzüchtungen, über die Namen der Tiere, über ihr Geburts-, Todes- oder Verkaufsdatum, über die Eltern, von denen sie stammten. Ferner Tag für Tag und Jahr für Jahr die Zahl der Glockenschläge, die Dauer der Läutezeit. Nichts sonst. Keine persönliche Eintragung, kein Vermerk, der auf Frau oder Kinder, geschweige denn auf Zeitgeschehnisse Bezug nahm.

 

Tadisch wurde es jedesmal bange um diesen geistig Zerrütteten herum, dem ersten Menschen, der ihm bei seiner Ankunft in unserer Stadt begegnet war, den er als Crétin verwünscht, ja betrogen hatte. Durch von Wildthaußen auf ihn gewiesen, hatte Dienstmann Nüsperli übrigens den Herrn Doktor, als er eines Tages den Turm hinaufstieg, gleich wieder erkannt. Er würdigte ihn keines Wortes, bis es Tadisch plötzlich einfiel, sich für das damalige »Mißverständnis« zu entschuldigen und den begangenen Betrug wieder gut zu machen.

Es war hier etwas, das Tadisch fast ans Herz griff, diese Armeleutestube. Im herrlichen gotischen Turm, hoch über der Stadt und ihren Leidenschaften. Dieses Kinderelend, diese abgearbeitete, verhärmte und vom Manne fast allabendlich verprügelte Frau. Er sah die Gefährlichkeit des an sich gutmütigen, aber durch den Branntwein immer mehr verkommenden Alten. Er erschauerte vor dieser Seele, die sich auf ein paar Glockenverse und Tauben, auf das Läuten reduzierte. Seele, für welche die gesamte übrige Welt völlig erstorben war. Er hatte Nüsperli zuerst für schlau gehalten und ein gewisses Spiel in seinem Danebenreden, in seinen nie auf die Fragen eingehenden Antworten gesehen. Aber mit der Zeit war er dahintergekommen, daß tatsächlich kein anderweitiges Leben in ihm weste, daß außer Schnaps, Tauben, Glocken und seinen Bücheraufzeichnungen kein Wort, keine Frage, keine Rede, keine Weltbegebenheit mehr für ihn Bedeutung besaß. Ausbruch des Weltkrieges, Teuerung, Wirren im Lande, nichts von alledem bestand für ihn. Tadisch gab sich auch nicht die geringste Mühe mehr, irgendwie vor Nüsperli vorsichtig zu sein. Ohne auch nur einen Augenblick über das Warum oder Wozu zu verhandeln, lieh er sich seine Brieftauben aus. Im Auftrage von Wildthaußens ließ er sie über die südliche Grenze bringen, wo man militärische Nachrichten erhielt, gleichwie man Mitteilungen von Unzufriedenen im Feindeslande empfing. Unzufriedene, die bereit waren, zugunsten des Friedens die eigene Regierung zu stürzen.

Eines Tages war es Tadisch, als er vom Münsterturm herunterkletterte, durch den Kopf gefahren, daß er und Nüsperli gleichen Schlages sein könnten, mit dem Unterschied höchstens, daß er, Tadisch, nicht krank war. Wo verknüpften sich seine eigenen Interessen mit der Welt? Wo nahm er Anteil? Nüsperli empörte sich wenigstens für seine Familie. Wo hatte er, Tadisch, solche Beziehung? Und als er dann die zwei kleineren, bleichen, skrofulösen Mädchen im Bette liegen sah, nackt, ohne Nachthemden, ohne Leintücher, unter einer schmierigen Pferdedecke, kam es über ihn, daß er irgendwie doch noch einen Schmerz in sich fühlte, den er freilich sofort ins Lächerliche zog. Lineli hatte mit ihrem kleinen Lohn Linderung zu bewirken gesucht. Der Vater stahl ihre armseligen Anschaffungen, versetzte sie im Wirtshaus. Ein Zwangsgedanke sei es geradezu, gestand sich Tadisch, daß er, wenn er da hinaufstieg, immer das komische Bedürfnis empfinde, etwas mitzubringen. Nahrungsmittel, Kleidungsstücke. Und er, der im Kaffee sonst dafür sorgte, daß die geringste soziale Handlung, die er von sich gab, gebührend vermerkt wurde, hielt all sein Tun in der Armeleutestube ängstlich geheim. Versuchte, besonders beim Einschlafen, wenn er das merkwürdig feine Gesicht des Lineli vor sich sah, die Visionen vom Münsterturm zu verscheuchen.

Er liebte dieses an der Schwelle zwischen Kind und Jungfrau verharrende Mädchen, das mit jedem Augenblick, so hatte er den Eindruck, zur vollen Weiblichkeit sich entfalten konnte, wenn nur ein wenig Licht und Sonne in sein Leben zu dringen vermochte. Er liebte es, wenn man dem Liebe sagen durfte. Er kämpfte stets mit dem Wunsch, ihm über die dünnen, wie Seide knisternden Haare zu fahren, und fühlte sich trotzdem durch die leiseste Berührung beklommen. Er, der in Gedanken, in Wort und Schrift jede noch so zarte Regung mit Wohllust in einen Zynismus verzerrte.

Nüsperli redete ununterbrochen weiter: »Wenn im Schwung durch starken Hammer sich belebt mein träges Erz, schwinge mit in deiner Kammer, doch in Andacht, Menschenherz! – Und an der gleichen Glocke ist eingegossen: Wie hinaus in luftige Weiten meines Schalles Wellen gleiten, breite segnend, Herr, die Hände über Wohnstatt und Gelände. O Land, o Land, Höre des Herrn Wort! – Auch meine vierzehn Diplome für ersten, zweiten und dritten Preis hatten meinen Kopf schwer mitgenommen. Und nun, nach all diesen unsäglichen Mühen und Drangsalen, werde ich zum Lohn als das betrachtet, wofür Sie mich halten wollen. Für den Taubenschlag, den man bauen will, gibt es einen Grundsatz. Für jedes Paar müssen sechzig Quadratzentimeter Bodenfläche vorhanden sein. Der Schlag soll länger als breit gebaut werden. Für die meiste Zeit des Jahres ist das bedeutungslos, weil die Tauben in der Regel draußen sind. Aber wenn man die Tauben, Nonnen, Schwalben, Tümmler, Weißschwänze einsperrt, bietet ein breiter Schlag doch immer Gelegenheit zu Flugbewegungen. Bei mir ist der Taubenschlag im Zimmer und das Waisenamt hat nichts dreinzureden. Sie müssen doch die Flügel bewegen können, wenn es so kalt ist. – Weichend den Gluten vereinigter Flammen, schmolz die große Glocke zusammen, Doch, ein veredelter Phönix, entstieg dieser der Asche; dem Kampfe der Sieg!«

Tadisch hörte Kinderstimmen, Klappern von Holzschuhen. Er wollte weglaufen, als die Tür sich auftat und die drei Mädchen, blau, verfroren hereinschlüpften.

Das älteste ging wortlos auf den Tisch zu, packte die Halbliterflasche, sprang auf die Plattform hinaus und leerte den Branntwein über die Steinbrüstung des Turms in die Tiefe. Nüsperli hob die Faust und hätte zugeschlagen, aber Tadisch trat, wenn auch langsam und ungeschickt, dazwischen.

Lineli reichte ihm ruhig die Hand, ohne der immer noch erhobenen Faust des Vaters zu achten.

»Wir danken vielmals für die Kohlen und das Holz. Und auch für das, was Sie wieder hingelegt haben.« Dann nahm es einen Besen und begann den Unrat zusammenzukehren.

Tadisch setzte sich noch eine Zeitlang steif auf die Ecke des Tisches und schaute dem Mädchen, das kaum der Schulpflicht entronnen schien und doch durch seine Arbeit am Telephon im Grunde die Existenz der Familie sicherte, fast beschämt zu. Die beiden Kleinen kauerten sich auf ihr Bett und kritzelten auf eine Schiefertafel. Der Alte schimpfte und fluchte. Tadisch bat ihn, auf den Bahnhof zu gehen und zu sehen, ob er nicht Aufträge erhalten könne.

»Ja, Waffentragen. Will keine Waffen tragen!« wetterte der Betrunkene, der übrigens immer fest auf den Beinen stand. – »Sonst wurden aus Glocken Kanonen gegossen, so sind Kanonen zu Glocken geflossen. Und was einst tönte mit schrecklichem Knall, das tönt jetzt freudig in friedlichem Schall. Die Speise ist lauter, ist edel und echt. Es siege die Wahrheit, es siege das Recht.«

»Also kommen Sie, ziehen Sie Ihre Mütze an!«

»Ich bin ein Werk der Wachsamkeit und nit der Ruh ergeben. Sobald man mir ein Streich versetzt, erwacht in mir das Leben. – Ich komme schon. Mit dir werde ich nachher reden, du Dreckfink, du Hurenmädchen. Lebt wohl, meine Täubchen, meine Weißschwänzchen.« Er stolperte voran, die Treppe hinunter.

Tadisch hatte aus seinem Kamelhaarmantel eine Anthologie, »Die Ernte« betitelt, hervorgezogen. Alles, was er an Lyrik und Gefühligkeit, wie er es nannte, haßte, war darin enthalten. Dieses Buch legte er dem siebzehnjährigen Lineli auf den Tisch. Es blickte aber nicht von der Arbeit auf, trotzdem es über und über rot wurde vor Glück.

Tadisch hatte den Handschuh ausgezogen und strich ihm mit dem Handrücken, gänzlich ungeschickt, über das gelbe, schüttere Haar. Dann eilte er, an alle Ecken anrennend, dem Läutmeister nach. Dessen Baß schallte von unten, aus dem Dunkel, durch die Gewölbe der Wendeltreppe: »Läutet's vom Turm, fahr auf erschrocken! Alle Glocken sind Armsünderglocken. Sie rufen laut über Lebende und Tote Gottes heilige zehn Gebote. Dann falt' deine Hände, Herr Gott verzeih', und bete, daß er dir gnädig sei.«

Bello heulte das Echo durch den Turm hinunter.


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