Julius Stettenheim
Wippchens Russisch-Japanischer Krieg
Julius Stettenheim

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Der Kampf um Macedonien

Konstantinopel, den 20. August 1903.

W. Mit dem fahrplanmäßigen Zuge bin ich gestern hier eingelaufen. Ich stieg im »Goldenen Turban« ab, in einem Hotel, in welchem, wie man mir gesagt hatte, das persische Insektenpulver furchtbar unter dem Un- und Mißgeziefer aufgeräumt haben sollte. Leider ohne Erfolg. Allerdings können ältere Wanzen sich nicht erinnern, jemals so viele Verwandte eingebüßt zu haben und beklagen zu müssen. Ebenso sind die Flöhe in Massen dahingerafft worden, und wenn die Hinterbliebenen umherspringen, so geschieht dies wahrlich nicht vor Freude. Aber es sind doch von den Wanzen und Flöhen derart genug übrig geblieben, daß es mir unmöglich gewesen wäre, in Morpheus Armen auch nur ein Auge zuzutun, selbst wenn sich keine einzige Ratte im Zimmer aufgehalten hätte, wie dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Ich ließ mir daher heute morgen den Wirt holen, um ihm eine Strafpredigt zu halten, welche eine Viertelstunde in Anspruch nahm. Natürlich in deutscher Sprache. Dann erst merkte ich, obschon ich mich am ganzen Körper kratzte, daß mich der Wirt nicht verstand, und da ich von der türkischen Zunge nur das Salem alek verstehe, so – verzeihen Sie das 108 harte Wort! – brach ich das Gespräch ab und ließ mir einen Dolmetscher kommen. Dieser metschte mir also, so dol er konnte, daß die Konstantinopolen augenblicklich so voll Sorgen wegen der Haltung Rußlands seien, daß sie sich nicht um den Zustand der Zimmer bekümmern könnten. Ich brauche kaum noch etwas hinzuzufügen, um Ihnen die Lage der Türkei zu kennzeichnen. Die Panik ist einfach unbeschreiblich. Das Herz ist den Türken derart in die Hosen gefallen, daß man nur noch von beherzten Hosen sprechen kann. Der Zar ist allerdings ein Hort des Friedens, aber es stellt sich doch allmählich heraus, daß er vor keinem Kriege zurückschreckt, um endlich den Frieden errichten zu können. Er will den Frieden mit der Gewalt der Waffen erzwingen. Er soll gesagt haben: »Ich will Frieden haben, und wenn ich deshalb einen dreißigjährigen Krieg anfangen müßte!«

Die Erschießung des russischen Konsuls in Monastir war ein großer politischer Fehler. Dieser Mortimer wurde dem Zaren sehr gelegen erschossen. Der Zar ergriff den getöteten Konsul beim Schopfe und erklärte, daß er nur mit Blut abzuwaschen sei. Zugleich stellte er Forderungen an Makedonien, welche schwerer zu erfüllen sind, als die undichten Danaidenfässer mit Wasser. Geschieht kein Wunder, so steht ein neuer russisch-türkischer Krieg vor der Tür der Pforte. Jeden Augenblick kann der Schlüssel der Janustempeltür herumgedreht werden, die sich nicht so bald wieder schließen dürfte.

Wird die Türkei wieder Widerstand leisten können? Ich muß es bestreiten.

Es wird sich herausstellen, daß der Sultan die 109 Vielweiberei oder besser die Vielbräuterei längst hätte aufgeben müssen. Wie kann ein Fürst einem großen mächtigen Feind mit Erfolg entgegentreten, der in seinem Hause nicht weiß, wo er sich vor dem vielen Ewigweiblichen retten soll. Er wird von dem Ewigweiblichen nicht nur hinan-, sondern auch fortwährend nach rechts und links gezogen. Wir Europäer wissen nur zu gut, daß ein Mann häufig schon durch die Einweiberei so mürbe gemacht ist, daß er in seiner Tätigkeit gehemmt wird, und nun sehen wir einen Herrscher, der mehr Frauen als Platz auf den zehn Fingern hat, um alle Eheringe unterzubringen. Und diese Frauenmenge soll ihn nun, wie man versichert, fortwährend zugleich in den Krieg und in den Frieden treiben. Die einen stoßen ihn in die Kriegsdrommete, die andern stopfen ihm die Friedenspfeife. Das ist ein ewiges Auf- und Abhetzen. Wenn er in seinen Harem geht, ist er vielleicht entschlossen, Rußlands Wünsche zu erfüllen, und wenn er seine Favoritinnen verläßt, ist er bis zur Unkenntlichkeit breitgeschlagen und erklärt beim Esisterreicht des Propheten, den Wunsch des Volks erfüllen und Rußland die Spitze bieten zu wollen. Kaum in seinen Palast zurückgekehrt, treffen dann daselbst auch die Vertrauensmänner einiger Favoritinnen, die Eunuchen, ein, welche ihm die schriftliche Bitte derselben überbringen, er möge klein oder groß beigeben und seinen krummen Säbel ungezogen lassen, denn der Krieg sei ein Lotteriespiel, und es sei doch nicht sicher, daß die Türkei gewinne. Sehr wahr! Diese unzähligen besseren Hälften verschlingen natürlich kolossale Summen für Schmuck und Toilette und fürchten deshalb, daß im Fall eines Krieges kein Nickel für sie übrig bleibe 110 könnte. So ist es ihnen vielleicht zu danken, wenn die Türkei zu Mahomed kriecht, weil sie den Krieg nicht wollen, welcher den Sultan zahlungsunfähig und sie brotlos machen könnte. Diese Frauen können sich ohne Harem absolut nicht ernähren. Was sollen sie auch außerhalb des Harems ergreifen, sie, die daran gewöhnt sind, schon in aller Frühe die Hände in den Schoß zu legen und sie den ganzen lieben Tag darin liegen zu lassen! Unsere Frauen wüßten sich mit Novellendichten zu ernähren. Was aber sollen diese unglücklichen Sultanskebse ergreifen, welche zum Glück zu wenig gelernt haben, um Novellen richtig türkisch schreiben zu können!

Zu solchem Unglück kommt hinzu, daß die Türken selbst alles tun, den Zar zu reizen, oder besser, ihm zu einem Krieg allerlei Vorwände zu errichten. Die türkischen Truppen verüben überall gott- oder richtiger: allahlose Grausamkeiten. So bei der Einnahme von Kruschew. Sie plünderten, was nicht niet- und nagelfest war, und was niet- und nagelfest war, das befreiten sie von Nieten und Nägeln, um es forttragen zu können. Einwohner, welche reich waren, wurden getötet, damit sie bequem beraubt werden konnten, und solche, welche arm waren, wurden getötet, weil die Türken wütend wurden, daß sie ihnen nichts rauben konnten. Lassen Sie mich über andere Schändlichkeiten schweigen, weil sich nicht nur meine Feder sträubt, sie zu schildern, sondern weil mir die näheren Details fehlen. Alle diese Nachrichten sind allerdings mit Vorsicht aufzunehmen, weil sie aus russischen Quellen stammen, die zwar lauter als nötig diese Nachrichten verbreiten, aber sonst durchaus nicht lauter sind. Gestern 111 sprach ich darüber mit einem mir befreundeten Muselmann, den ich besuchte und in Tränen fand, in welche seine Muselfrau und Muselkinder einstimmten. »Du lieber Allah«, rief er in seiner blumenreichen Koransprache, »ist es nicht schändlich, daß die Russen solche Enten über unsere Truppen verbreiten? Diese Russen schieben uns die Missetaten in die Schuhe, welche sie selbst in Kischenew trugen, als sie die Juden derart massakrierten, daß keiner mit dem Leben davonkam! Was wird werden, wenn wir diese Barbaren ins Land kriegen? Wird man einen Stein auftreiben können, welchen sie auf dem andern lassen? Wird die Asche, in welche sie unsere Häuser legen, nicht überhand nehmen? Werden die Klingen, über welche wir werden springen müssen, zu zählen sein? Als er diese Fragen an mich stellte, vermochte er sich kaum auf den Beinen zu halten, welche er nach türkischer Sitte unterschlagen hatte, und ich konnte ihm leider nicht eine einzige seiner Fragen beruhigend beantworten.

Rührend ist es anzuhören, wenn die Türken der Hoffnung Raum geben, Europa werde sich entschließen und ihnen zu Hilfe eilen. In einem heute morgen ausgerufenen Extrablatt des »Byzantinischen Lokal-Anzeigers« wird allen Ernstes mitgeteilt, Bülow Pascha habe erklärt, Deutschland werde der bedrängten Pforte beistehen, weil er es unmöglich ruhig mit ansehen könne, daß der kranke Mann von Rußland in einer Weise massiert werde, daß an seinem Wiederaufkommen gezweifelt werden müsse, und der in Form einer drahtlosen Depesche abgedruckte Leitartikel schließt mit den Worten: »Kommt Bülow Pascha unserm Kismet in dieser hochherzigen Weise entgegen, so wird ihm 112 die Türkei einen Diwan voll Roßschweifen verleihen und ihm einen Ehrensäbel stiften, wie er krummer noch keinem Türkenfreunde überreicht worden ist. Und der dazu gehörige Turban soll durch die angebrachten Diamanten so schwer werden, daß er von dem beschenkten deutschen Staatsmann nicht selbst werde getragen werden können, sondern daß er genötigt sein wird, ihn von einem seiner vortragendsten Räte tragen zu lassen!«

Der Wunsch ist auch hier, wie jeder deutsche Leser im Handumdrehen einsehen wird, der Vater des Gedankens. Die Mutter ist die Furcht, daß die Türkei isoliert bleiben wird, während die Angst vor einem plötzlichen Überfall als Tante und die Aussicht auf weiteres Vorschreiten Rußlands als Schwiegermutter des erwähnten Vaters bezeichnet werden müssen. Wenn ich noch hinzusetze, daß die Ahnung einer schweren türkischen Katastrophe als die Großmutter des Gedankens gelten könnte, so glaube ich trotzdem nicht, die Verwandtschaft desselben völlig erschöpft zu haben. Aber nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wird ruhig zuschauen und sich nicht in ein Abenteuer einlassen, welches schließlich allzu teuer werden könnte. 113


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