Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Als ob alle Erinnerungen einer Vergangenheit, die Fritz als weit zurückliegend empfand, jetzt noch einmal emportauchen sollten, kamen zu Beginn des neuen Jahres Baron und Baronin Rooß durch Königsberg. Das bis zum Examen noch außerhalb der Familie geheim gehaltene Verlöbnis wurde ihnen mitgeteilt und Aline den neuen Verwandten vorgestellt.

Als Fritz mit dem Oheim durch die Stadt ging, befragte ihn dieser über seine Zukunftspläne.

»Wer sich verlobt, will doch auch einmal heiraten,« sagte er. »Soweit mir deutsche Verhältnisse bekannt sind, hättest du als Referendar noch vier Jahre unentgeltlich zu arbeiten, nicht wahr, und müßtest dann ein zweites Examen machen?«

Fritz bejahte und erzählte dem Onkel kurz, welches seine Absichten wären, und daß die Mutter und Alines Vater diese durchaus billigten.

Herr von Rooß war sehr überrascht. Mehr weil er dies so gar nicht erwartet hatte, als weil ihm Fritzens neuer Beruf – über seine eigentlichen innern Beweggründe hatte Fritz geschwiegen – selbst nicht zugesagt hätte. Mit der Souveränität des Adligen, die man besonders in Rußland findet, setzte er sich über solche Standesfragen völlig hinweg, wäre er doch durchaus 210 der geblieben, der er war, ganz gleich, welchen Beruf er ausgeübt hätte. Er nannte Fritz sogar nach einigem Besinnen mehrere baltische Stammesgenossen, darunter ein paar mit deutschen Adelsnamen, die in Berlin Schriftsteller und Journalisten waren, trug ihm Grüße auf und versprach ihm Empfehlungen.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs staunte Fritz, den Verwandten wesentlich anders zu finden, als in seinen Petersburger vier Wänden. Mit großer Freiheit sprach er sich über Themen aus, die dort kaum berührt, geschweige denn eindringend erörtert werden durften, es fiel ordentlich wie ein Mantel von ihm ab, und er bekannte sich nicht nur zu regem politischen Interesse, sondern auch zu wohlerwogenen politischen Anschauungen.

So kam auch Fritz mehr aus sich heraus und sprach von seinen Berliner Kreisen. Rooß ging, den schweren Kopf etwas vorgeneigt, daß Eiskristalle seines Bartes an dem Pelzkragen schmolzen, und meinte dann: »Ich will dir mal was sagen, lieber Fritz, du weißt, ich habe allerlei Beziehungen zur Diplomatie und zu unserm Hof. Bei uns wird eigentlich über nichts anders gesprochen als über Bismarcks bevorstehenden Abgang.«

Fritz sah betroffen auf.

»Bei euch spricht man schon darüber?«

»Ja, und zwar Leute, die den Kaiser, ich meine unsern Kaiser (Rooß sagte niemals der Zar), gesprochen haben. Seine Majestät soll schon aus Berlin den bestimmten Eindruck mitgebracht haben, daß der Kanzler nicht mehr lange bleiben wird.« 211

Fritz berichtete, wie solche Ahnungen, unterstützt durch allerlei kleine Vorgänge, erlauschte Stimmungen schon im Sommer in Berlin laut geworden wären.

»Dann kriegst du jedenfalls gleich ordentlich zu tun,« sagte der Onkel, und damit endeten sie das Gespräch.

Ein Brief Landmanns, kurz, knapp, der erste, den Fritz je erhalten hatte, traf in den ersten Märztagen ein, bevor Fritz die mündliche Prüfung zu bestehen hatte. Das Schreiben bestätigte im wesentlichen, was der Oheim gesagt hatte, es schien nur noch eine Frage der Zeit, daß Kaiser und Kanzler sich trennten. –

Der zwanzigste März war ein naßkalter Wintertag, vom Frühling noch nichts zu spüren. In früher Dunkelheit schritten vier junge Leute mit bleichen Gesichtern aus dem alten grauen Schloß, drückten sich draußen noch einmal die weißbehandschuhten Hände und eilten nach verschiedenen Richtungen auseinander. Fritz lief mehr als er ging, die Hände fest an den Leib gedrückt, um besser gegen den Wind aufzukommen, durch die Junkerstraße, hinter der Kirche herum schräg über den jetzt wüst aussehenden Kirchenplatz nach dem Steindamm. Atemlos kam er die Treppe emporgestürmt, öffnete oben, riß sich den Mantel vom Leibe, hielt vor der Zimmertür einen Augenblick an, drückte dann den Drücker herab und trat ein. Mit dem ersten Blick umfaßte er die Mutter, die am Tisch bei der Lampe saß, und eilte auf sie zu: »Bestanden, bestanden,« rief er.

Und während sie, die sich rasch erhoben hatte, ihn 212 noch in den Armen hielt und er erst jetzt die Spannung der letzten Stunden im wohligen Gefühl des Erreichten sich lösen fühlte, ging sein Blick weiter, und er sah ein wenig abseits Aline, die zurückgetreten war und nun auf ihn zueilte.

Er begann zu erzählen, und während die Damen noch lächelten, als er eifervoll von irgendeiner Lex sprach, die er nicht gewußt hatte, läutete es draußen stürmisch, die Tür wurde jäh aufgerissen, und im nassen Pelz, den Hut in der Hand, erschien Doktor Witte und schwenkte ein Zeitungsblatt. Sein Gesicht war hochgerötet, seine Augen blitzten, da er jetzt die beschlagene Brille, das Blatt hinwerfend, von den Augen riß.

»Lest, lest,« rief er, sah dann erstaunt Fritz an, der im Frack dastand und bestürzt auf den alten Mann blickte, der sich nun über das Gesicht fuhr und etwas ruhiger sagte: »Ach, ich weiß, du bist durchgekommen. Ich gratuliere, ich gratuliere.«

Und ehe sich die andern noch über den kurzen Glückwunsch und den flüchtigen Händedruck hätten wundern können, hatte er schon wieder das Blatt ergriffen und schrie jetzt ungestüm, wie man Kinder zurechtweist: »Aber Herrgott, so lest doch nur! Bismarck ist entlassen!«

Dann setzte er sich in den ersten Sessel, der ihm zur Hand war, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

Es war eine lautlose Stille um ihn herum. Die Frauen hatten Tränen in den Wimpern, Fritz ergriff das Blatt und versuchte zu lesen, die Worte tanzten 213 ihm vor den Augen, bis auch er fühlte, wie sich ihm die Wangen netzten und es ihm mit tiefer Beklommenheit vom Herzen emporstieg.

Schweigen lag über den beiden Familien und schweigend trennten sie sich nach einer Weile mit dem Versprechen, sich abends bei Wittes zusammenzufinden. Schweigend saßen sie, nachdem der General Fritz beglückwünscht hatte, um den runden Tisch. In der Mitte lag wie ein greller Fleck auf der dunklen Decke die Abendzeitung, immer wieder griff der eine oder der andre danach, zu lesen, was er doch schon halb auswendig wußte.

»Wenn ich zurückdenke,« sagte Doktor Witte jetzt. »Wie haben wir den Mann gehaßt! Wie oft ist er uns als eine Verkörperung brutaler Macht erschienen, wie haben wir gegen ihn gekämpft. Wenn's nicht so unsagbar traurig wäre, könnte man sagen: das ist seine Rache, daß wir uns jetzt so verlassen fühlen.«

»Ihr habt ihn gehaßt,« sprach der General. »Offen gesagt: auch viele von uns haben ihn nicht gemocht. Was wurde noch sechsundsechzig in den Stäben über ihn räsonniert. Und doch hat er damals weiter gesehen als der König und Moltke und alle, als er sagte: nicht auf Wien gehen. Ich war damals in Nikolsburg, und der Kronprinz – er ist jetzt auch tot, flocht der Alte ein, indem er die Hand leicht aufs Knie fallen ließ – hat mir einmal erzählt, wie er Bismarck in jener Entscheidung fand, zerbrochen, leidenschaftlich aufgewühlt – es ging um sein Werk, und so ging es um uns alle. Er war schließlich immer der altpreußische 214 Offizier, schon wie er damals den alten König, der abdanken wollte, beim Portepee faßte und mit sich riß.«

»Sie haben ihn gehaßt,« sagte auch Frau Klara, »und dann haben sie ihn geliebt, wie wir alle. Ich glaube, wenn er uns hier sähe – er könnte zufrieden sein.«

Da faßte Fritz nach Alines Hand und sagte fest und sicher: »Verzeih, Mutter, ich glaube nein. Daß wir klagen, daß wir bestürzt waren, ist selbstverständlich. Wir haben's ja trotz allem noch nicht geglaubt, bis es da war. Aber was nützt das jetzt? Zunächst: er lebt ja, er bleibt, er ist da. Und dann kann er verlangen, daß wir nicht mehr klagen, sondern weiter arbeiten. Es muß gehen. Wir sind jung, wir wollen's ihm zeigen.«

Julius Witte sah ihn an, mit einem gütigen Blick.

»Du hast recht, Fritz – wir Alten dürfen zweifeln, und ich fürchte, wir werden nur zu sehr recht behalten. Du darfst es nicht. Und heute am wenigsten.«

So wuchs denn doch langsam eine stille Freude zwischen den vieren empor. Wie denn zu unserm Heil Freud und Leid des eignen persönlichen Lebens immer wieder großen Schmerz zurückdrängt, der, wie jede große Empfindung, nur das Recht seltner, gehobner Stunden hat, daß er nicht stumpf werde.

Am andern Tage reichte Fritz seine Dissertation und die Papiere zur Doktorprüfung ein und fuhr dann nach Berlin, wohin ein dringender Brief Doktor Burdachs ihn gerufen hatte.

Er fand die Freunde erregt, aber bei dem schnellen Zeitmaß, in dem die Dinge der Hauptstadt laufen, schon 215 wieder gefaßter, wenn auch freilich alles noch verwirrt schien, durcheinander fuhr.

In Berlin war's warm, voller Frühling, und als Fritz am neunundzwanzigsten März mit Landmann, Burdach und noch ein paar Bekannten zum Lehrter Bahnhof schritt, lag eine herrliche, warme Sonne über den weiten Straßen, die sich rasch mit Menschen zu füllen begannen. Schon standen sie in dünnen Linien, die jeden Augenblick anschwollen, längs der Bürgersteige, auf den breiten Wegen am Königsplatz, am Bahnhof selbst. Die Freunde gewannen Platz in der großen Vorhalle; klirrend marschierte die Ehrenschwadron der Gardekürassiere auf, jetzt begann ein ununterbrochener Zustrom von Wagen, denen die Minister, Generäle, Diplomaten entstiegen. Ein paar Offiziere in großer Uniform kamen zu Fuß durch das Tor, die Freunde erkannten Mettelkamp, der ihnen zuwinkte, und gelangten mit ihm auf den Bahnsteig selbst. Es war ein unablässiges Schwirren, ein Fragen und Antworten in verschiedenen Sprachen, Männer und Frauen standen durcheinander, die Frauen alle mit Blumen in den Händen, jetzt fuhr der Zug vor mit dem Salonwagen des Fürsten, und plötzlich wurde alles still. Fritz fühlte, wie ein jäher Schauer ihm über den Leib lief, denn von draußen erscholl ein unablässig anschwellendes, betäubendes Rufen, als ob die ganze Stadt auf einmal ihren Atem dem Himmel entgegenstieße. Man hörte in der plötzlich hier innen eingetretenen Stille durch das Hurrarufen das Rollen von Wagen, ein Offizier gab vom Eingang her ein Zeichen, Kommandos 216 ertönten, die Schwadron entblößte die Säbel und stand still, während die Vorgesetzten zum rechten Flügel traten. Weit öffnete sich die Tür des Fürstenzimmers, und Bismarck erschien, den Stahlhelm auf dem Haupt, den Säbel leicht angefaßt, neben ihm die schlichte Gestalt der Fürstin, tiefernsten Antlitzes, Blumen in der Hand, und nun brach hier auf dem Bahnsteig, während immer noch von draußen Rufe über Rufe hineintönten, während hinter den Fenstern der Wartesäle sich Hunderte reckten und schrien, die Empfindung aus, und die Erwartung löste sich in einem Rufen und Winken ohne Ende. Irgend jemand rief: »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« – von allen Ecken wurde es aufgenommen, plötzlich schrie ein andrer: »Bismarck lebe hoch!« und es tönte von allen Enden wieder. Jetzt war eine kleine Stille, da begann eine jugendliche Stimme:

»Es braust ein Ruf wie Donnerhall –«

und als ob die Menschen alle nur darauf gewartet hätten, fielen sie ein und sangen stürmisch das Sturmlied mit.

Langsam war der Fürst die Ehrenwache abgeschritten, hatte sich hier und da verneigt, Hände zum Abschied geschüttelt, Blumen entgegengenommen. Nun stand er, der Menge voll zugewendet, vor der Tür seines Wagens. Das Lied war aus. Da rauschte es aus einer andern Ecke auf:

»Deutschland, Deutschland über alles –« 217

und wieder war es wie etwas selbstverständlich Gekommenes, und wie Wellen, die ihren Herrscher emportragen, ihn der Sonne zuweisen, so wogte das Lied um den einzigen Mann, der mit undeutbarem Gesichtsausdruck in seiner ganzen Größe stand und geradeaus sah. Als der Gesang zu Ende war, hörte man ein Schluchzen an vielen Stellen, nun klang die Bahnhofsglocke, der Fürst half seiner Gattin die Stufen hinauf, dann stieg er selbst nach. Wieder präsentierten die Kürassiere, jetzt war kein Halten mehr, alles stürzte, so weit es konnte, vor, immer wieder tönte es: »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« und während noch die fremden Würdenträger, die Diplomaten, die in ihrer steifen Gala mitten unter den andern standen, erstarrt, bestürzt, geblendet in das nie Gesehene schauten, fuhr der Zug langsam aus der Halle. Salutierend stand Bismarck am Fenster, jetzt lag ein weicher Zug auf seinen Mienen, jedem, der ihn ansah, prägte sich die Bewegung ein, in der er Berlin verließ. –

Hingerissen, mitgezogen, folgte Fritz draußen dem Menschenstrom, der an der Siegessäule vorbei wieder der Stadt zustrebte. Schließlich fand er sich mit Landmann allein in der Nähe des Baugerüstes, das das werdende Reichstagsgebäude umgab. Sie setzten sich auf ein paar Planken und sahen hinüber durch die noch unbegrünten Stämme zum Brandenburger Tor, durch das noch immer Wagen und Menschen im bunten Gemenge zum Pariser Platz hinströmten.

»Das erlebt zu haben,« sagte dann Landmann. »Ich meine: das verpflichtet.« – 218

Fritz war mit Doktor Burdach dahin einig geworden, daß er am ersten Mai nach Berlin übersiedeln und mit der Arbeit bei der Zeitung beginnen sollte. Bis dahin hoffte er, den Doktorhut erhalten zu haben.

So fuhr er noch einmal nach Königsberg zurück. Er saß schon im Zuge, als noch ein Zeitungshändler auf den Bahnsteig gestürmt kam, Morgenblätter in der Hand. Fritz kaufte eins, und als er sich eingerichtet hatte und Berlin schon hinter ihm lag, er durch die Kiefernwälder östlich der Stadt fuhr, entfaltete er die Zeitung. Sein Blick haftete an dem Datum: der erste April 1890. Heute also war Bismarcks fünfundsiebzigster Geburtstag. Da las er, wo sonst der Leitartikel steht, Verse und unter ihnen den Namen Ernst von Wildenbruch:

»Du gehst von deinem Werke,
Dein Werk geht nicht von dir,
Denn wo du bist, ist Deutschland,
Du warst, drum wurden wir.
Was wir durch dich geworden,
Wir wissen's und die Welt,
Was ohne dich wir bleiben,
Gott sei's anheimgestellt.«

 


 


 << zurück