Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Fritz kam von einem späten Kolleg nach Hause. Als er im Schneegestöber durch eine schlecht beleuchtete Straße ging, kam ihm eine Dame entgegen. Gang und Haltung erschienen ihm bekannt, er ging auf die andre Seite, überholte sie und richtete sich so ein, daß er ihr unter einer Laterne wieder begegnete. Da erkannte er Natja. Sie trug ein dünnes Mäntelchen, ein leichtes Pelzbarett und hatte einen feinen Schleier über das Gesicht gezogen. So ging sie langsam in der Richtung auf die Universität zu. Fritz grüßte, sie blieb erstaunt stehen und erkannte ihn dann.

»Guten Tag, Herr Friedrich,« sagte sie, anscheinend angenehm überrascht, und so gingen sie zusammen weiter.

Fritz fragte, wie lange sie schon hier wäre. Es stellte sich heraus, daß sie schon mehrere Wochen in Königsberg war, und er machte ihr Vorwürfe, daß sie ihn nicht früher benachrichtigt hätte.

Sie überhörte das, und er erkundigte sich nun, wie es mit ihren Stunden ginge.

Sie machte ein betrübtes Gesicht und sagte: »Ach, es ist sehr schwer. Ich habe noch keinen einzigen Schüler.«

»Und was treiben Sie sonst?« fragte Fritz. 99

»Ich sehe mir die Stadt an, ich lese, ich habe auch einige Bekannte hier.«

»Und haben die Ihnen keine Stunden verschaffen können?«

»Bisher nicht,« sagte sie.

»Nun, dann will ich es versuchen,« meinte Fritz. »Wollen Sie nicht einmal zu meiner Mutter kommen?«

Und er nannte ihr die Wohnung. Sie zögerte sichtlich, vermied eine bestimmte Antwort und sagte dann: »Besuchen Sie mich doch einmal.«

Jetzt zauderte Fritz. Als er dann aber an seinen Aufenthalt in Petersburg dachte und an die Unbefangenheit des Verkehrs zwischen den jungen Leuten in Natjas Kreis, ließ er sich ihre Adresse sagen und versprach, an einem der nächsten Tage zu kommen. Damit trennten sie sich.

Natjas Wohnung lag in der Heiligengeiststraße, in einem der ältesten Häuser der Stadt, dessen Stockwerke eins über das andre vorsprangen.

Als er das Zimmer betrat, glaubte er sich nach Petersburg zurückversetzt. Wie dort, war hier eine Reihe junger Männer und Mädchen versammelt, trank Tee, rauchte Zigaretten und ließ sich durch seinen Eintritt wenig stören. Nur Natja kam ihm lebhafter als sonst entgegen, begrüßte ihn und machte ihn dann mit den andern Anwesenden bekannt.

Es waren ein paar jüngere Russen, die hier studierten, der eine mit seiner Schwester, und aus einer Ecke hinter einem Schrank, der ihn bisher halb verborgen hatte, erhob sich Bogdans kleine Gestalt; der Apotheker 100 drückte Fritz sichtlich erfreut die Hand und sagte leise: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

Das Gespräch, das nun nach der kleinen Störung rasch weiter ging, unterschied sich wenig von denen, die Fritz in Petersburg gehört hatte, nur daß manches Wort über russische Verhältnisse herauskam, das in der Heimat nur vorsichtig umschrieben worden wäre. In all diesen jungen Seelen war eine Gärung, erzeugt durch den Druck, der sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt hatte, und dessen Vollgefühl sich an der freien Wissenschaft, die diese Menschen treiben durften, erst recht entzündete. Fritz empfand gerade aus dem Gegensatz heraus stark den Segen der freieren Verhältnisse seines Landes, in denen solche Flammen ruhig lodern durften, während sie dort halb unterdrückt fortschwelten und überall brandige Wunden erzeugten.

Natja hatte nun auch Schülerinnen gefunden, wie Bogdan Fritz wissen ließ.

Noch einmal öffnete sich die Tür, und ein Herr, den Fritz flüchtig kannte, trat herein, ein jüdischer Mediziner, dessen Eltern erst vor einigen Jahren aus Rußland eingewandert und naturalisiert worden waren.

Jetzt nahm das Gespräch eine andre Wendung. In dem endlosen Hin und Her russischer Debatten wurde auch über deutsche Verhältnisse gesprochen, und Fritz freute sich über den guten Takt, mit dem die Russen sich in seiner Gegenwart zurückhielten und die ihnen noch halb fremden Dinge nur mit vorsichtiger Gebärde besprachen.

Der Mediziner aber trieb die Unterhaltung flott 101 in ein neues Fahrwasser, er konnte sich nicht genug tun, das reaktionäre Deutschland in Grund und Boden zu verdammen. Er zog ein schmieriges Zeitungsblatt heraus und zitierte ein paar hohle, aber giftige Sätze gegen die Regierung und die Bourgeoisie und gefiel sich in der Ausmalung eines radikalen Umsturzes, zu dem der Kampf der Freiheit gegen die herrschende Gewalt führen müsse.

Fritz hatte, zumal, da der Redestrom des andern unerschöpflich schien, lange an sich gehalten; nun fühlte er, daß er sprechen müßte. Er hatte genug von jüdischen Zuständen in Rußland gesehen und lächelte trotz seiner Erregung in dem Gedanken, was der beredte Herr wohl zu bestehen hätte, wenn er seine Phrasen, die ihn in Deutschland jeder aussprechen ließ, in Rußland hätte an den Mann bringen wollen.

»Ich möchte Sie sehr bitten,« sagte Fritz, »sich etwas zu mäßigen. Was Sie aussprechen, ist nicht Kritik, wie sie erlaubt und geziemend ist – Kritik erzürnter Liebe. Aus Ihnen redet nur kalter Hohn und blinder Haß. Wollen Sie gütigst einmal darüber nachdenken, wie Sie heute lebten, und was Sie heute wären, wenn Ihre Eltern nicht nach Deutschland gezogen wären und Sie jetzt nicht das preußische Staatsbürgerrecht besäßen. Ich finde es in hohem Maße undankbar, daß gerade Sie nichts Eiligeres zu tun haben, als unsre Verhältnisse, die Sie doch nur ganz oberflächlich, wie mir scheint, aus schlechten Zeitungen kennen, in Grund und Boden zu verdammen.«

Der andre erwiderte etwas von 102 Hurra-Patriotismus, aber schon fiel ihm Fritz ins Wort und sagte: »Ich verbitte mir, mir gegenüber diesen Ausdruck. Ich weiß, was Sie meinen, aber das trifft mich nicht. Und offen gestanden, ist mir selbst die oberflächliche Begeisterung der Menge, die wirklich einmal Hurra ruft, wenn sie auch ästhetische Seelen beleidigen mag, lieber als Ihr eisiges Absprechen. Unzufriedenheit ist eine gute Sache, und ohne Unzufriedenheit wäre sicherlich das Deutsche Reich nie entstanden. Aber was Sie predigen, ist geschichtsloser Radikalismus, der, verzeihen Sie, zum größten Teil selbst nicht weiß, was er sagt. Ich könnte das noch verstehen bei einem Manne, der durch schweres Unrecht, das ihm geschehen ist, an der Heimat verzweifelt und in einer bösen Stunde so empfindet. – Sie haben nur Gutes erfahren und brauchen sich nur mit Ihren russischen Verwandten zu vergleichen, um das zu sehen.«

Der andre schoß einen giftigen Blick auf Fritz, drehte sich dann mit einer lässigen Gebärde ab und steckte sich eine Zigarette an. Es war ein großes Schweigen in der Stube; Natja war blaß geworden, aber Bogdan kam auf Fritz zu und fing ein andres Gespräch mit ihm an, doch so, daß Fritz seinem Ton annehmen konnte, er sei mit ihm im Grunde einverstanden.

Man wurde nicht wieder unbefangen und trennte sich bald.

Bogdan und Fritz gingen zusammen nach Hause.

»Sie haben's ihm gut gegeben, und ich habe mich darüber gefreut,« sagte Bogdan. »Leuten, wie dieser 103 Meyer, muß einmal zum Bewußtsein gebracht werden, was sie eigentlich reden. Man kann nicht alles auf die menschliche Dummheit schieben, sonst käme man nie einen Schritt weiter.«

Sie sprachen dann noch von Natja. Fritz sagte, daß sie seiner Einladung ins Haus seiner Mutter nicht gefolgt sei, und Bogdan versprach, sie dazu zu bestimmen. Er nahm dann Abschied, da er am folgenden Tage zurückreisen wollte.

Als Fritz einige Tage später in der Mittagsstunde nach Hause kam, hörte er aus dem Zimmer seiner Mutter ein Gespräch und blieb einen Augenblick vor der Tür stehen. Er erkannte Natjas Stimme und trat nun ein. Sie errötete ein wenig, als er auf die Damen zukam, schien ihm aber jetzt unbefangener als je und nahm, als sie nach einer Weile ging, eine Einladung zu einem der nächsten Abende bei Friedrichs an.

»Sie gefällt mir,« sagte Klara nachher. »Sie hat etwas Selbständigeres als die meisten jungen Mädchen hier und doch wieder etwas, was um Hilfe fleht und ihr eine gewisse Weichheit gibt. Ich glaube, man muß sich ihrer ein wenig annehmen.«

»Du bist doch immer die gute Mutter,« sagte Fritz. Und dann wurde festgesetzt, daß man zu dem Abend noch Wittes und Hermann Sander einladen wollte.

Am Nachmittag dieses Tages fand ein Couleurbummel nach Juditten statt. Die Verbindungsbrüder gingen zwanglos geschart auf der hartgefrorenen Landstraße bis nach dem hübsch gelegenen Dorf hinaus, in 104 dem Gottscheds Wiege gestanden hatte. Fritz hatte seit dem Beginn des Semesters das Gefühl, daß man ihn mit einer gewissen achtungsvollen, aber vorsichtigen Zurückhaltung behandelte, etwa so wie einen ein wenig sonderbaren Schwärmer, den man nicht reizen dürfe. Er fuhr, wie er fand, dabei nicht schlecht. Es hatte keine Reibungen gegeben, aber freilich auch kaum Gespräche von tieferem Inhalt.

Heute konnte er nicht umhin, von der Debatte jenes Abends bei Natja Lubakow zu erzählen, und fand lebhafte Zustimmung für das, was er dem jungen Meyer, den einige kannten, gesagt hatte. Freilich setzte sich die Unterhaltung sogleich in einem lebhaften, allgemeinen judenfeindlichen Gespräch fort, das Friedrich zu einigem Widerspruch nötigte. Da hielt man ihm lachend Treitschke entgegen, den er gelegentlich zitiert hatte und, wie man wußte, häufig las.

Er wehrte sich.

»Eure Art Antisemitismus ist Treitschke gar nicht eingefallen. Er spricht den Juden keineswegs die Fähigkeit ab, Deutsche zu werden, er weist nur auf bestimmte Auswüchse jüdischen Wesens hin und lädt diejenigen Juden, die es noch nicht sind, ein, mit dem Deutschtum ernst zu machen, die vielfach vorhandenen Überhebungen aufzugeben. Also über den Meyer denkt er genau wie ihr und ich, aber er wirft nicht alle Juden mit ihm in einen Topf.«

Man stritt hin und her, ohne zu einer Einigung zu kommen. Und endlich schloß Kossekel, als sie das Dorf erreicht hatten, mit einem allgemein 105 belachten Witz, in dem er Juden und Juditten zusammenbrachte.

* * *

Natja saß am Flügel und sang auf Fritzens Bitte, sich selbst begleitend, eines jener schwermütigen russischen Lieder, die jedem, der einmal unter Slawen gelebt hat, wie mit ihrem Wesen untrennbar verbunden, wie selbstverständlich aus ihm emporgequollen erscheinen. Sie hatte eine weiche Stimme und sang die dunklen Laute selbstvergessen vor sich hin. Fritz stand neben ihr, von der Klavierlampe halb beschienen, Frau Klara ordnete mit leiser Hand ein paar Blumen auf dem Mitteltisch. Da wurde der Türvorhang aufgeschlagen, und Aline Witte trat ein, ihr folgten unmittelbar der Vater und Hermann Sanders lange Gestalt. Fritz hörte sie nicht und sah sich nicht um, Klara aber hob leise die Hand, Schweigen bedeutend, und so blieb die Gruppe lautlos an der Tür stehen, bis das Lied verklungen war.

Jetzt traten sie ganz ein. Natja sah sich bei dem Geräusch der Schritte um und stand auf. Man begrüßte sich und machte die Fremde den Freunden bekannt. Witte faßte sie gleich bei der Hand und sagte: »Aha, unsre kleine Russin.«

Alines Antlitz drückte, wie es Fritz schien, eine leise Zurückhaltung aus.

Wie der Augenblick des Eintritts es mit sich brachte, sprach man über Musik. Bald saß Hermann am Flügel und phantasierte, dann sang wieder Natja etwas Russisches. 106

Aline und Fritz saßen in einer Ecke und plauderten leise. Wie des Mädchens Blicke immer aufs neue zu Natja hinübergingen, so galten seine Sätze immer wieder der Fremden, von der er Aline berichtete.

»Warum gefällt Sie Ihnen nicht?« fragte Fritz.

»Wie kommen Sie darauf? Ich habe kein Wort gegen sie gesagt.«

»Das merkt man doch. Natja hat außer uns gar keine deutschen Bekannten. Ich hoffte, Sie würden sich ihrer ein wenig annehmen.«

Sinnend sah Aline zu der Russin hinüber; dann blickte sie Fritz an und biß sich auf die Unterlippe – er sah gleichfalls auf die Fremde und mit einem warmen Ausdruck. Aline sagte: »Fritz.«

Da wandte er sich, wie aufgescheucht vom Anschauen der andren wieder zu ihr und fragte hastig: »Was?«

Daß sie ihn unwillkürlich nicht förmlich wie sonst, sondern mit dem bloßen Vornamen angeredet hatte, war ihm gar nicht aufgefallen.

Unterdessen hatte er sich zurechtgefunden und fragte nun: »Also wollen Sie?«

Da sagte sie langsam, aber mit ihrer ganzen ehrlichen Stimme: »Ich will's versuchen.«

Fritz dankte ihr, wie sie fand, mit allzuviel Worten, so daß sie unter einem Vorwand aufstand und zu Frau Klara hinüberging. Auch Hermann und Natja verließen den Flügel und gesellten sich am runden Tisch zu den übrigen. Einen Augenblick standen die beiden Mädchen nebeneinander, und Fritz überflog mit einem Blick die zwei: die große, helle Blondine mit der feinen, 107 geraden Nase und die kleinere Brünette mit dem stumpfen Näschen. Als sie freilich die Lider hob, konnte sie im Vorteil scheinen, denn der Schimmer ihrer dunklen Augen gab in dieser Minute der Unbewegtheit mehr als Alines ruhiges Blau, das sich erst in angeregtem Gespräch oder unter innerer Erregung vertiefte.

Als man saß, widmete sich Doktor Witte wieder Natja, versprach ihr Schülerinnen zu beschaffen und lud sie zu sich ein.

Hermann und Aline blieben still. Und als schließlich Witte fand, daß er allein noch redete, kaum von Fritz unterstützt, schob er das auf allgemeine Müdigkeit und brach auf. Sander versprach, Natja nach Hause zu bringen, obwohl die das für ganz unnötig erklärte, und so trennte man sich. 108

 


 << zurück weiter >>