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Zweites Kapitel

Fritz saß mit einem Buch im Zimmer, als die Tür aufging und seine Mutter bei ihm eintrat. Sofort sprang er auf, schob den Sofatisch zurück und führte sie an den bequemsten Platz.

Klara Friedrich paßte in ihrer schlanken Erscheinung gut zu dem Sohne, der ihr sehr ähnelte. Ihr in der Nacht nach dem Eintreffen der Nachricht von Gravelotte ergrautes Haar war voll und leicht gekraust, der Mund leicht bereit zum Lächeln, die Augen klar und hell.

»Was liest du?« fragte sie.

Er zeigte den Band.

»Ah, natürlich. Treitschke!!«

»Ja, Mutter. Von dem Buch komm' ich nicht los. So was Wundervolles!«

Ihr Blick wurde tiefer.

»Dein Vater las seine Aufsätze auch sehr gern; er hatte eine Flugschrift von ihm noch mit, als er ins Feld zog.«

Beide schwiegen eine Weile. Dann sagte Fritz: »Kennst du den alten Doktor Witte?«

»Witte? Gewiß. Der Großvater hielt viel von ihm. Er war achtundvierzig einer der Tollsten, wie es hieß. Nachher hat man's ihm sehr verdacht, daß er nach sechsundsechzig umschwenkte.« 29

»Er ist ja gar nicht umgeschwenkt.«

»Woher weißt du das?«

»Er ist bei uns alter Herr. Wir waren vor acht Tagen zusammen.«

Und Fritz erzählte den Hergang des Kommerses. Frau Klara hörte aufmerksam zu, flocht ab und zu eine Frage ein; dann sagte sie: »Wann willst du nun nach Cranz fahren?«

»Ich dachte morgen. Heut gehn wir ja mit Hermann auf die Hufen.«

»Schön. Wann holt er uns ab?«

»Um drei.«

Klara sah nach der Uhr.

»Zwei; da will ich mich immer fertigmachen.«

Sie verließ die Stube, und Fritz las weiter, bis der Freund eintrat. Der führte ihn ohne ein weiteres Wort zunächst ans Fenster, knöpfte ihm die Jacke auf und besah aufmerksam die Weste. Dann sagte er: »Bravo! Kein Band.«

»Couleurferien,« entgegnete Fritz.

»Na, denn also los.«

Sie holten Frau Klara ab und gingen langsam dem Tore zu. Leuchtend lag Sonnenglanz auf den hellroten Festungsbauten, dem schönen Tor. Dann traten sie in den Schatten des Glacis und schließlich auf die Chaussee, die die Hufengärten entlangführt. Sie hatten an dem warmen Sommertag, der viele nicht aufs Land gegangne Städter für ein paar Stunden ins Freie lockte, oft zu grüßen. An einer Straßenenge mußten sie stehen bleiben und zur Seite treten, um einem Rollstuhl Platz 30 zu machen. Ein alter Herr mit weißem Kaiser-Wilhelm-Bart saß drin, in warme Decken gehüllt, einen Stock neben sich. Als die drei grüßten, richtete er den Oberleib so straff es ging in die Höhe, grüßte wieder und rief dem Fahrer zu: Halt!

Friedrichs traten heran. Mit merkwürdig fester und jugendlicher Stimme sagte der alte Herr: »Guten Tag, gnädige Frau. Morgen, lieber Friedrich.«

»Guten Tag, Exzellenz,« erwiderte Frau Klara. »Fahren Sie schon zurück?«

»Ja, es wird mir jetzt zu voll. Vormittags habe ich Luisenwahl für mich, nachmittags kommt mir zu viel Menschheit heraus. Wie geht's Ihnen denn, gnädigste Frau? Verreisen Sie nicht?«

»Nein, Exzellenz, ich hab's nicht nötig.«

»Das ist wahr. Sie sehen vortrefflich aus. Auf baldiges Wiedersehen.«

Damit küßte der alte Herr mit einer Galanterie, die ihm sehr wohl stand, Frau Klara die Hand, schüttelte Fritz die Rechte, vergaß nicht, zu Hermann Sander, der abseits stehen geblieben war, hinüberzugrüßen, und ließ sich weiterschieben. –

Als sie ein Stück fortgeschritten waren, sagte Fritz: »Wie gut der General sich hält, nach dem Schlaganfall.«

»Ach,« meinte Klara, »der war ja nicht so schlimm. Aber die alten Wunden machen ihm jetzt soviel zu schaffen. Er soll noch zwei Kugeln in einer Schulter sitzen haben.«

Fritz blieb still. Nach einer Weile sagte er: 31 »Merkwürdig, der General von Witte hatte heute für mich eine auffällige Ähnlichkeit mit Doktor Witte, besonders im Ausdruck der Augen.«

»Aber lieber Fritz,« sagte Sander, »das ist doch das Natürlichste von der Welt; es sind ja Brüder.«

Unwillkürlich blieb Fritz stehen.

»Brüder? Der alte Generalleutnant und der Doktor. Der General ist ja auch von Adel.«

»Freilich,« sagte Klara, »nach dem Krieg siebzig geadelt.«

Hermann sprach weiter: »Viel Gebrauch haben sie anscheinend von der Verwandtschaft nicht gemacht. Ich sehe sie fast nie miteinander.«

»Das hat seine Gründe,« erklärte Frau Klara. »Achtundvierzig stand der Doktor ja ganz links, und da hat der Bruder, der damals Leutnant war, mit ihm gebrochen. Sie haben wohl zwanzig Jahre kaum miteinander gesprochen, obwohl der Offizier immer einlenken wollte. Da setzte aber der Doktor seinen ehernen Kopf auf. Erst seit Königgrätz haben sie sich einander wieder genähert.«

Fritz ging in tiefen Gedanken. Sie waren inzwischen in den alten Park Luisenwahl eingebogen. Hier hatte die unglückliche Königin in den Schicksalsjahren Preußens oft und oft geweilt, der Park war jetzt ein Besitztum ihrer Nachkommen. Alte Bäume gaben willkommnen Schatten, im trocknen Bachbett grünten Farne, blühten Glockenblumen.

»Warum,« begann jetzt Fritz, »müssen nur politische Gegner sich immer wieder persönlich so heftig 32 bekämpfen? Ich meine jetzt gar nicht die beiden alten Wittes allein. Ich meine, einer muß doch dem andern glauben, daß er's mit dem Vaterland ebenso gut und ehrlich meint wie er selbst.«

»Wem sagst du das, lieber Fritz?« erwiderte Hermann. »Aber wo soll bei uns in Deutschland soviel politische Selbstverständlichkeit herkommen? Bedenke doch die Geschichte, die konfessionelle Zerrissenheit, die entsetzliche Kleinstaaterei. In England soll's ja anders sein. Außerdem ist bei uns der Kastengeist bekanntlich nicht ganz klein, und jede Kaste findet wieder ihren eignen politischen Ausdruck.«

»Zugegeben. Dann muß eben das Kastenwesen zerrissen, zerbrochen werden, daß die Trümmer fliegen.«

Frau Klara lachte.

»Aber Fritz, du redest ja wie ein Sozialdemokrat.«

Fritz fuhr auf und wollte sich heftig verteidigen, da sagte Hermann lachend: »Aber Fritz, die politischen Richtungen sollen sich doch gentlemanlike nähern. Was wäre es denn Schlimmes, Sozialdemokrat zu sein?«

Jetzt lachte auch Fritz.

»Die Mutter soll mich nur nicht mißverstehen.«

Klara faßte seinen Arm und stützte sich darauf.

»Tu' ich ja gar nicht, Junge.«

Und dann traten sie in die kleine Meierei und setzten sich zu einem heitern Vespermahl. –

Am andern Tage fuhr Fritz zeitig an die See hinaus. In Königsberg war der Himmel hell gewesen, je näher aber der Zug seinem Endziel kam, um so düstrer wurde 33 er, und als Fritz in Cranz ausstieg, lagen die Häuser des Dorfes unter einem immer wieder zerreißenden Wolkenmantel wie geduckt in ihrer Glanzlosigkeit da. Ein heftiger Seewind ließ die Fahnen auf den Gasthöfen knattern und blies den vom Bahnhof Hereinwandernden entgegen, die nun auch schon das Rollen der Wellen deutlich vernahmen.

Fritz war glückselig. Er eilte zum Korso, sah von dem hohen Steinwall einen Augenblick in den Gischt, der gegen die Zyklopenmauer brandete, und stieg dann rasch zum Herrenbade hinab. In wehende Laken gehüllt, stand hier eine ganze Anzahl von Männern im immer noch warmen Sande und blickte aufs Meer hinaus, indes der Wind jede Unterhaltung von den Lippen pflückte und ins Ungehörte entriß. Ein paar Jungen rannten jauchzend ins Wasser und ließen sich von der ersten heranbrausenden Woge umwerfen, kämpften sich prustend, spuckend, lachend empor und wiederholten das Spiel immer aufs neue. Aufmerksam standen zwei Wärter halbnackt auf den weit hinausgebauten Stegen und riefen allzu vorwitzigen Schwimmern erst freundlich, dann befehlend zu, sie sollten sich in den durch die Taue abgegrenzten Raum zurückbegeben.

Fritz suchte eine Badezelle, konnte aber in der ersten Reihe keine öffnen, weil der Wind die Türen mit aller Macht zupreßte. So ging er in die zweite Linie. Hier pustete der Sturm nur unter den fahrbaren Zellen der ersten durch, oben war es ziemlich ruhig. In einem Herrn, der mit einer Zigarette aus der obersten Stufe 34 eines Badekarrens saß, erkannte er Bergmüller, der sehr rot wurde, aber mit höhnischem Gesicht sitzen blieb.

Fritz fand etwas weiter eine freie Zelle und sprang nach wenig Minuten ausgekleidet herab. Das große Handtuch trug er auf dem Arm, knotete es am Strande, immer dem Winde wehrend, an einen der Ständer fest und rannte dann ins Wasser. Unwillkürlich schrie er vor Lust auf, er fühlte förmlich, wie der Wind ihm die Laute von den Lippen abjagte. Er warf sich mit krummem Rücken gegen eine Welle, ließ sie über sich zusammenklatschen, hob den pudelnassen Kopf und duckte sich der nächsten entgegen. Langsam ging er weiter hinein, indem er fühlte, wie das Rückwasser im Abfließen ihm Sand und Steine über die Füße riß. Und wieder jauchzte er laut auf, als wie ein grüner, schneebekrönter Glasberg die Woge vor ihm aufstieg; schon begrub sie ihn unter sich, und, den Kopf noch ganz voll von dem Donnergeräusch, warf er sich der nächsten zu.

So trieb er es eine Weile, schlug mit den Armen um sich, legte sich parallel den Wogen auf den Rücken und ließ sich über Wellenkämme tragen, versuchte gegen den Drang anzuschwimmen und hatte Not, nicht gegen einen der Taupfähle geschleudert zu werden. Da sah er am Ufer jemanden winken. Er versuchte, einen Augenblick stillzustehen, und erkannte durch den sprühenden Gischt undeutlich einen alten Herrn in Sturmmütze, der schon ganz bekleidet war, sich mit einem kleinen Handtuch den Bart abrieb und dabei mit der andern Hand wieder und wieder Zeichen gab. So weit Fritz sehen konnte, war 35 er allein im Wasser, offenbar galten die Gesten also ihm. Er wunderte und ärgerte sich, bis er in einem Augenblick ruhigeren Seegangs den alten Witte erkannte, der jetzt seinen Bart genug bearbeitet hatte und ihn im Winde fliegen ließ.

Fritz winkte nun gleichfalls, wollte doch noch ein paar Wellen mitnehmen und strebte ins tiefere Wasser zurück. Eben setzte die Brandung wieder stärker ein, eine riesige Schaumkrone schloß sich über ihm zusammen, und als er auftaumelte, stieß er mit dem Rücken heftig gegen den verhängnisvollen Pfahl, an den das Wasser – es zog heute stark nach Westen – ihn mit unwiderstehlicher Kraft gerissen hatte. Ehe er sich noch ganz aufgerafft hatte, schleuderte die nächste Welle ihn mit dem Kopf gegen das Holz, und unwillkürlich streckte er halbbetäubt die Hand nach dem Stege aus, wo er eine menschliche Gestalt zu sehen glaubte. Der aber da stand, sah ihn, wie es Fritz in seinem Dämmer schien, mit höhnischem Grinsen an. Und ehe er das noch recht besinnen konnte, hatte ihn eine nächste und noch eine und wieder eine Woge fortgerissen. Taumelnd, ohne Besinnung schwankte er hin und her, mühte sich instinktiv noch einmal, sich aufzurichten, wie tausend Farben tanzte es vor seinen geschlossenen Augen, undeutliche Melodien zogen durch seinen Kopf, ihm war, als ob er einen Augenblick seine Mutter vor sich sähe, und dann stürzte er rücklings ins Wasser, schon wieder von der Brandung gehoben, geworfen, geschüttelt wie ein lebloses Wrack.

Die beiden Badediener waren eben beschäftigt 36 gewesen, ein mühsam einlaufendes Fischerboot am andern Stege festzubinden, jetzt stürzte der alte Witte über die Bretter, die beiden Leute hinter ihm her, während der einsame Badegast, der vorhin auf dem Stege gestanden hatte, langsam zurückging. Witte schrie ihn an: »Warum tun Sie denn nichts? Warum stehen Sie hier herum wie ein Stück Holz?«

Indes hatten sich die beiden Badewärter, wie sie waren, in die See gestürzt und schleppten mit aller Kraft den Verunglückten ans Land.

Fritz träumte. Er war in einem Segelboot in völliger Dunkelheit draußen auf dem Meer. Langsam schaukelte er auf den Planken, während das Wasser dumpf gegen die Bretter schlug. Immer wilder ward das Schwanken, das Boot schlug hin und her, und da – er schrie jäh auf – brach es in tausend splitternde Bretter auseinander, er lag in den Wogen, bemüht, seine Kleider, die ihn überall hinderten, von sich zu streifen. Er griff um sich, er konnte kein rettendes Brett erreichen, während ihn das höhnische Angesicht Bergmüllers ansah, der auf einer großen Planke rittlings durch die Wogen fuhr. Da wurde es hell um ihn, und durch die Wasser klangen Stimmen, er glaubte deutlich seine Mutter zu hören, jetzt klang ein andrer Ton dazwischen, rauh, tief, ihm war's wie der des alten Witte, und nun ertönte ganz von fern eine Stimme, die er einmal vernommen und deren Charakter ihm im Ohre geblieben war. Er fühlte, wie das Schaukeln abnahm, wie die Dämmerung um ihn wich. Noch lag er weich, aber nicht mehr umhergeworfen, sondern, wie wenn er auf dem Rücken 37 schwimmend in völliger Ruhe, wie so oft, das stille Meer langsam geteilt hatte.

Er schlug die Augen auf. Er lag in einer hellen, niedrigen Stube im Bett, zu dessen Fußende seine Mutter mit dem alten Witte stand.

»Na, du hast deiner Mutter keinen schlechten Schreck eingejagt, kann ich dir sagen.«

Fritz wollte sich aufrichten, fühlte aber Schmerzen im Kopf und in den Schultern und blieb liegen. Er streckte nur der Mutter, die vor Bewegung keines Wortes mächtig war, die Hand entgegen.

Er wollte sprechen, aber Witte legte den Finger auf den Mund.

Da schloß er wieder die Augen, der alte Traum kam nicht wieder, er sah nur Glanz, ruhigen, prachtvoll ermüdenden Schimmer, er hörte nichts, vorbei war das Schlagen und Rollen der Wogen. Er schlief ein.

Als er wieder erwachte, war er um vieles klarer. Rings um ihn war tiefe Stille, Vögel sangen vor dem Fenster, irgendwo krähte ein Hahn, es mußte Morgen sein. Er versuchte, sich umzusehen, der Kopf schmerzte zwar noch, aber es ging ganz gut. Da fühlte er von der andern Zimmerecke her einen Blick auf sich gerichtet, er kam ihm entgegen und erkannte Hermann. Er streckte die Hand nach ihm aus, der Freund ergriff sie, sagte zuerst gar nichts und dann nach einer ganzen Weile: »Mußt du unbedingt in eigner Person für die Unterhaltung des Cranzer Badepublikums sorgen? Kannst du das nicht andern überlassen?«

Dabei drückte er immer noch Fritzens Hand, und die 38 tiefe Freude, die aus seinen Augen sprach, strafte die heitre Ironie seiner Worte Lügen.

Fritz lächelte und sagte dann: »Ich muß mich erst wieder ein bißchen zurechtfinden. Nicht wahr, ich bin gestern gegen einen Pfahl gestoßen und konnte nicht allein aus dem Wasser?«

Jetzt lachte Sander ganz hell und fröhlich.

»Gut gebrüllt, Löwe! Wenn du einen Zustand, in dem zwei Menschen dich wie ein Paket aus der See tragen mußten, nennst: du kannst nicht allein aus dem Wasser, so wollen wir darüber nicht streiten.«

Fritz fuhr fort: »Jetzt bin ich im Witteschen Hause, nicht wahr?«

»Richtig geraten.«

Fritz rieb die Stirn.

»Aber vorhin war doch meine Mutter hier; oder hab' ich das nur geträumt?«

»Nein, sie ist noch hier. Sie hat sich schlafen gelegt, ich habe sie abgelöst.«

Fritz sagte: »Ich danke dir,« und ergriff wieder des Freundes Hand.

Jetzt wurde es im Hause lebendig. Fritz wollte aufstehen, Hermann ließ es aber nicht zu, bevor der alte Doktor es nicht genehmigt hätte. Da kam dieser schon herein, laut, lustig, beklopfte den Patienten, ließ ihn einige Bewegungen machen und gab dann die Erlaubnis zum Anziehen und Aufstehen. Langsamen Schrittes verließ Fritz das Zimmer und trat auf die Veranda. Eben kam von der andern Seite seine Mutter herein, Witte und Sander blieben zurück, und Mutter und 39 Sohn hielten sich eine Weile umschlungen, indes Frau Klara den Tränen nicht wehren konnte. Er küßte ihr die Hand und sagte: »Mutter, ich bin nicht unvorsichtig gewesen, ich weiß selbst nicht, wie die ganze Geschichte gekommen ist.«

Sie streichelte nur immer seinen Kopf und seine Schultern und konnte nicht gleich sprechen.

In ihm kristallisierte sich das Gewesene langsam zu deutlicheren Bildern, sein Blick bekam etwas Grübelndes, Suchendes, und als jetzt Witte und Sander mit einem jungen Mädchen zusammen die Veranda betraten, ging es wie ein blitzartiges Erinnern über Fritzens Züge. Rasch wandte er sich an Witte und sagte: »Sag' mal, stand nicht jemand auf dem Steg, als ich zum erstenmal gegen den Pfahl geflogen war?«

Witte sagte: »Natürlich, der Kerl, der wie ein Stock dastand und sich nicht rührte.«

Jetzt erst nahm Fritzens immer noch wie in sich versenkter Blick die Erscheinung des jungen Mädchens wahr, und das Wort, das er sprechen wollte, blieb in der Kehle. Er tat zwei Schritte auf sie zu und verbeugte sich, sehr erstaunt. Witte lachte und sagte: »Na, vorstellen brauch' ich also nicht. Gib deiner Couleurschwester nur die Hand und dann mal erst ran ans Frühstück.«

Da wußte sich Fritz sein eignes Erstaunen erst zu deuten, er erkannte die junge Dame, mit der er vor wenig Wochen bei jenem unangenehmen Abenteuer im Waldpavillon zusammengetroffen war. Und indem er sich nun zwischen den beiden Frauen zu Tisch setzte, 40 schien ihm erst der volle Zusammenhang beider Tage hier an der See aufzugehen. Offenbar wußte Witte von jener Begegnung und dem, was sich dabei abgespielt hatte. Denn eben rief er über den Tisch: »Nun, Aline, jetzt hast du den Ritterdienst vergolten.«

Dann wurde aber weder hiervon noch von Fritzens Unfall viel Wesens gemacht, und in der friedlichen Morgenruhe des Sommertages ging diese Stunde wie ein immer noch ungewisses Glück an dem aus Untiefen fast schon jenseits dieses Lebens Erwachten vorüber. –

Auf des Arztes Rat blieben Friedrichs in Cranz. Sie hatten ein paar Zimmer nahe der See bezogen und lebten das Leben der Strandgäste mit, dessen einzige Beschäftigung Ruhe und Untätigkeit sind. Fritz erholte sich rasch völlig, durfte sich schon wieder dem Meere vertrauen und seine Spaziergänge immer weiter ausdehnen. Auch Hermann Sander war noch draußen, und die drei jungen Menschen nutzten die Spätsommertage und durchstreiften gemeinsam Dünen und Wälder. Schon gilbten in den spärlichen Laubgehölzen die Blätter, aber überall, wo die hohen, schwarzen Fichten emporstrebten, ihre schlanken Kronen dem wolkenlos blauen Firmament entgegenhoben, war noch nichts von Abschiedsweh zu spüren. Rostrot standen die Stämme, wenn hinter ihnen fern die Sonne unterging und man den Geruch des perlenden Harzes empfand wie den vergehenden Duft des Tages, den nun zur Nacht ein feuchter Pilzgeruch ablöste. An den schroffen Abhängen, die von der Meeresküste zur See niedergingen, grünte zwischen ockergelben Sandflecken Erlengebüsch, 41 klammerten sich Brombeersträucher mit tiefschwarzen Früchten an, blühte hier und da ein gelber Ginsterbusch. Wo die Schluchten sich zum Meere öffneten und die großen Steine lagen, fanden die Wanderer wohl in heißer Mittagsstunde eine Robbe liegen, die sich behaglich sonnte und bei dem ersten Laut nahender Schritte mit zwei, drei unbeholfen schiebenden Bewegungen wieder im Meere war.

Aline klatschte dann in die Hände und konnte ausgelassen werden wie ein Kind. Ihre zarte Haut, die Haut sehr heller, reinrassiger Blondinen, rötete sich langsam, man sah förmlich das Blut von innen in die Wangen steigen, zuerst wie Morgenrot leichte, fingrige Streifen vorschicken, dann das ganze Gesicht überfluten.

Sie waren bis zum Leuchtturm gewandert, hatten in einem Bauernhaus Milch und Brot erhalten und kehrten nun über den Wachbudenberg zurück. Als sie eben die Bank auf der Höhe erreicht hatten, hörten sie von unten Pferdegewieher und dann ein Rufen: »He, ihr Ausreißer!«

Da sahen sie schon den alten Witte mit Frau Klara emporsteigen, während ein leichter, offner Wagen langsam kehrte und ins Dorf lenkte.

»Deine Mutter wollte auch mal hier heraus, sie kennt's noch gar nicht,« sagte der Doktor, als die beiden oben waren. Und dann genossen sie miteinander zuerst das schöne Bild: nach Westen die immer glatter werdende Küste mit den Schornsteinen des Bernsteinwerks am fernen Rande, nach Osten die bewaldete Kante über dem Strand, zerrissen, seltsam eingebogen. 42 Ab und zu lugte ein rotes Dach durch die Bäume, ganz fern erschien als ein undeutlicher Häuserhaufen Cranz, und dahinter schwang sich der Strand in leichter Biegung bis zur schimmernden Nehrung.

Langsam gingen sie hart am Absturz einen schmalen Weg zur See hinab und dann durch die Rosenschlucht. Bald waren sie ganz in der tiefen Senkung hinter dem Hügel, dessen drei spitzkappenförmige Erhebungen ihm den Namen Zipfelberg eingetragen hatten; scharf hoben die gelben Sandhelme sich gegen den Himmel ab. Am Ausgang der Schlucht, deren Heiderosensträucher voller Hagebutten hingen, wartete der Wagen, und nun fuhren sie gegen den leichten Seewind über das Land.

»Ich glaube, ich bin zum vierundvierzigsten Male den Sommer über hier draußen. Und ich kenne nichts Schönres. Die deutschen Mittelgebirge sind viel einförmiger, und ein Schweizer hat mir mal mit Recht gesagt, ein Sonnenaufgang von der Warnicker Höhe über der Wolfsschlucht (der Doktor zeigte zu den dunklen Eichen hinüber) wäre ebenso schön wie einer auf dem Rigi.«

Hermann Sander lächelte.

»Glauben Sie's nicht, Sander?«

»Doch, Herr Doktor. Ich bewunderte nur den Mann, der zweimal im Leben früh genug aufgestanden ist, die Sonne aufgehen zu sehen.«

Alle lachten.

»Na, warten Sie nur, bis Sie Soldat sind, Hermann,« meinte Frau Klara.

Da sagte Aline: »Ich möchte auch mal die Sonne 43 hier aufgehen sehen. Läßt sich das nicht einrichten, Papa, daß wir mal in Warnicken übernachten?«

Alle – selbst, mit komischer Inbrunst, Sander – stimmten zu, und man beschloß, an einem der nächsten Tage Alines Wunsch zu erfüllen.

Und wirklich fuhr man, da das Wetter heiter blieb, schon zwei Tage darauf den bekannten Weg.

In Rauschen wurde das Fuhrwerk vor der Veranda des Gasthofes von einer lauten Schar umringt.

»Hier bleiben, hier bleiben,« hieß es, »heut wird getanzt.«

Man stieg aus. Da waren einige junge Mädchen aus der Stadt, Bekannte Alines, Studenten, junge Offiziere, die ein paar Urlaubstage hier zubrachten. Sofort wurden die jungen Leute mit Beschlag belegt, man wollte zuerst auf dem Teich rudern. Witte und Frau Friedrich betraten, indes der Wagen ausspannte, die Veranda. An einigen Tischen spielte man Karten, ganz in der Ecke saßen vier alte Herren beim Whist. Witte ging auf sie zu und erkannte erst jetzt in dem, der mit dem Rücken gegen den Eingang saß, seinen Bruder.

»Guten Abend, Hermann! Seit wann bist du hier?«

Der andre drehte sich sichtlich erfreut um.

»Seit gestern. Sie ließen mir keine Ruhe, ich mußte raus, weil sie nicht länger mit dem Strohmann spielen wollten. Und nun legen sie mich hier rein.«

»Ja,« meinte der alte Gymnasialdirektor mit dem schönen, grauumwallten Beethovenkopf; »um einen Viertelpfennig den Point.« 44

Der magere Sanitätsrat aber, der nur ganz flüchtig von seinen Karten emporgesehen hatte, schrie: »Kollege, nicht das Spiel stören!«

Und gehorsam setzte Witte sich neben seinen Bruder und sah zu, während Frau Klara bei einigen Damen Platz genommen hatte.

Es war im Grunde immer dieselbe Gesellschaft, die jahraus, jahrein die kleinen Bäder besuchte. So kannte man sich strandauf, strandab, half sich bei den einfachen Verhältnissen gegenseitig mit allerhand Nützlichem aus, wenn der Fleischer oder der Krämer oder die Königsberger Packjournaliere mal ausgeblieben waren, und führte ganz in der Natur bei harmloser Geselligkeit ein vergnügliches Leben.

Eben fuhr wieder ein Wagen vor, mit Hallo begrüßt. Schusters, hieß es. Schon war das breite, selbst hier auffällige Ostpreußisch des Professors hörbar, und fast gleichzeitig eilte vom Strande her eine Schar junger Leute empor, die Uhren in den Händen: »Zweiundfünfzig Minuten, Papa,« schrie der erste, »vom Lachsbach bis hierher.«

Es entbrannte ein Streit um die Entfernung vom nächsten Badeort, ein lautes Hinundher. Die Spieler legten zum Entsetzen des Sanitätsrats die Karten nieder, und als nun die Jugend von der Bootfahrt zurückkam, schwirrte es in der Veranda, daß man sein eignes Wort nicht verstand. Der Wirt mußte die drei Gerichte der Speisekarte immer wieder vortragen, an allen Enden wurde bestellt, einige Feriengäste gingen in das von ihnen bewohnte Fischerhaus zum Essen, andre 45 wollten erst mal einen Grog zur Erwärmung. Endlich saß man leidlich, und das Abendbrot brachte einige Stille.

Dann lief einer in den niedrigen Saal ans Klavier, und schon drehten sich die ersten Paare.

Aline hatte eben mit Hermann Sander getanzt und saß aufatmend in einem Stuhl nahe der Tür, als Fritz sie aufforderte.

»Ach bitte, jetzt nicht,« sagte sie.

Er machte ein enttäuschtes Gesicht und wollte zurücktreten.

»Nein, bleiben Sie hier, sehen Sie doch das hübsche Bild. Wie das durcheinanderwogt, jeder sich bemüht, nicht anzustoßen.«

Sie lachte.

»Sehen Sie nur Hermann Sander, der tanzt mit Gefühl.«

Fritz lächelte. Hermann hatte eine dicke, kleine Dame und reckte seine lange Figur doppelt auf, während er die Kleine vorsichtig herumdrehte.

»Und dort die Zwillinge!«

Zwei von Fritzens Kameraden, Zwillinge, die man immer verwechselte, tanzten mit zwei schlanken Mädchen und wechselten bei jedem zehnten Takt schleifend die Damen. Jetzt gaben sie sich einen Wink und führten die Mädchen an die Plätze; die hatten nicht gemerkt, daß es zum Schluß beim Tausch geblieben war und der falsche Bruder sie zurückbrachte.

»Nun wollen wir tanzen,« sagte Aline.

Und sie tanzten. 46

Draußen war der Mond aufgestiegen, und als man in tiefer Nacht weiter fuhr, glänzte die See immer wieder silbrig empor. In Warnicken waren die bestellten Zimmer bereit, rasch trennte man sich mit dem Ruf: »Morgen um halb fünf!«

Und Aline sagte: »Ich freu' mich –«

Fritz war zeitig auf und rüttelte Hermann mühsam wach. Der sagte ganz ernsthaft: »Das wird mein Tod,« stand aber dann rasch fertig da.

Es war recht kalt. Aline wartete, in ein dickes Tuch gehüllt, auf der Wiese vor dem Hause.

Schweigend stiegen sie in die dunkle Schlucht hinab, langsam am Ende des Einschnitts, hart an der See, die lange, schief getretene Treppe zur Höhe empor und standen nun schweigend an der Brustwehr.

Man hörte das Rauschen des Meeres, konnte aber in der Tiefe nichts erkennen. Im Westen flammte das Blinkfeuer des Leuchtturms in regelmäßigen Pausen. Da rauschte es lebhafter in den Eichen, ein kühler Zugwind fuhr über sie hin. Unwillkürlich hatte Aline die Hand auf Fritzens Arm gelegt; rasch zog sie sie zurück.

Jetzt erglomm unten rechts in der Ferne der Himmelsrand, ein leichter rosafarbener Strich erschien wie ein schmaler, loser Blütenkranz, dämmrig verbreitete sich der Schein über die Wogen, die nun erkennbar wurden, glitt näher heran, daß der Schaum rötlich erschien. Das Licht wuchs, ward breiter und höher, wurde eine Flamme, überpurpurte das Meer, und 47 rasch stieg die rote Scheibe der Sonne empor. Der Tag war da.

Immer noch sprachen sie kein Wort. Fritz aber sah von der Seite Aline an, die wie gebannt und verzaubert in die Sonne schaute. Sein Blick begegnete plötzlich dem Hermanns, der ihn von der andern Seite her traf. Beide wandten sich ab. 48

 


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