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Erstes Kapitel

Der Roßgärter Markt lag so öde da wie ein Exerzierplatz am Sonntag. Denn es war um diese Mittagsstunde unsinnig heiß. Man fühlte die Hitze nicht nur, man sah sie auch von den Häusern zurückflimmern; man roch sie mit der Nase, die in die Sonnenglut witterte, man schmeckte sie förmlich mit der Zunge und dem trocknen Gaumen, ja man hörte die Luft allmählich singen und kochen. Hätte man sieben Sinne gehabt, sie alle wären dieser unvergleichlichen Hitzwelle teilhaftig geworden, die heute über der Stadt lag.

Ruhe, Ruhe war die Losung auf dem weiten Platz. Die Fußgänger machten vorsichtige Schritte und hielten sich im spärlichen Schatten der Häuser. Alle Fenster in weitem Umkreis waren durch Vorhänge und Jalousien verdunkelt; in welcher Bekleidung die Bewohner sich in den Zimmern aufhielten, durfte man nur ahnen, wenn etwa ein Kunde, der durchaus und durchum zur Apotheke mußte, nach reichlich fünf Minuten den Provisor mit einem ordentlich haßerfüllten Gesicht langsam, wie zum Richtplatz, die Kellertreppe emporschleichen und dabei den Rock ängstlich bis oben zuhalten sah, während ihm die Hosenträger nachschleiften. Ab und zu fuhr im Schritt ein Wagen vorbei. Das Pferd der kleinen, gelben Straßenbahnlinie, die hier entlang 2 führte, zockelte müde einher, und sein Strohhut schaukelte gelinde auf und ab. Die Witwe Naujokat, die sonst selbst im Sommer warmen Rinderfleck auf glühenden Holzkohlen feilhielt, hatte zu dem Kolonial- und Materialwaren-Händler Michelau gesagt: »In den fünfunddreißig Jahren, wo ich all hier sitz', hab' ich noch nie geschwitzt, und nu fühlen Sie mal!« Und sie hatte begonnen, sich zu entblößen, daß Herr Michelau voller Grauen geflohen war und die Türe zugeworfen hatte. Die Naujokatsche aber hatte das Feuer ausgestökert und war ganz langsam nach Hause gegangen.

Nun war wieder eine Pferdebahn vorbeigetrottet und hatte den Zigarrenhändler Schameitat an der Ecke zu dem philosophischen Ausspruch bewogen: »Die fahrt und fahrt nu immer zu und wird nicht alle, grad wie deine Erbsensupp' im Winter.« – Aber seine Frau, die mit geschlossenen Augen hinter der Kasse saß, hatte auf die Anzapfung nur leise geächzt. Da drang jäh ein Laut durch die Stille. Der Schaffner fuhr auf und zum Klingelzug empor, weil er meinte, jemand hätte die Bahn angerufen. Eine Katze erwachte aus dem schönsten Mittagsschlaf unter der großen Laterne und floh nach dem ersten besten Speicher, und Herr Schameitat vollbrachte eine Heldentat: er ging zur Ladentür, öffnete sie und trat hinaus, was die gelähmten Lebensgeister seiner vor Hitze vergehenden Frau zu dem ebenso sinnreichen wie zeitgemäßen Anruf wachrief: »Aber August, du wirst dir noch erkälten!«

August fürchtete sich nicht, und sein Heldenmut blieb nicht ohne Nachahmung; ein paar Vorhänge wurden 3 aufgerollt, und Köpfe mit bloßen Hälsen reckten sich aus den Fenstern. Je näher das noch undeutliche Geräusch kam, um so lebhafter wurde es auf dem Markte, und jetzt vernahm man Musik, Hörner und Flöten, und vom Roßgarten her schwenkte ein Zug über den Markt.

Voran ging eine Kapelle von zwei Bläsern, einer Pauke und zwei Flöten. Welche Melodie sie spielen wollte, war nicht zu erkennen. Herr Schameitat meinte, zu seiner Gattin zurückgewandt, halb über die Schulter: »Als ich noch im Flügelkleide«; Michelau hielt es für die Wacht am Rhein – jedenfalls war es ohrenbetäubend. Man vergaß aber ganz darauf zu achten, über dem, was nun kam. Zunächst ein paar junge Männer mit wilden schwarzen Perücken, blanke Säbel unter dem Arm, Revolver um den Leib geschnallt, die Hosen in hohen Schaftstiefeln, Hemden mit roten Schärpen darüber. Dann drei andre, von denen jeder eine große Puppe aus Stroh, Bettlaken und Stöcken trug; die eine hatte ein Schild: Maria Stuart, die zweite: Jungfrau von Orleans, die dritte: Braut von Messina. Nun folgte, von zwei jungen Leuten in studentischen Schnürröcken gestützt, ein blasses Individuum, eine graue Mütze schief auf dem Kopf. Hinter diesen einer in Lodentracht mit einem Flitzbogen. Dann kamen wieder vier Studenten, die auf Kämmen eine ganz andre Melodie bliesen als die Musizi vorn, allerdings nur, soweit ihnen dies vor Lachen möglich war. Um den Wahnsinn und den Höllenlärm zu vervollständigen, hatte sich ein Dutzend Straßenjungen zu dem Schwarm gesellt und tanzte, heulte, tobte mit. So ging es 4 dreimal um den ganzen Platz, alle Fenster und Türen waren allmählich besetzt worden.

Als der Zug zum drittenmal den Eingang zur Königstraße kreuzte, kam von da her der alte Professor Jugurtha mit seinem historischen roten Schirm. Der erste der drei verwogenen Gesellen mit der roten Schärpe brüllte: »Halt, Halt!« und sprang, als das nichts half, vor die Musik, riß einem das Piston weg und drängte die andern zurück. Das wirkte schließlich. Alles blieb stehen, so gut es ging. Der Führer aber schritt auf den verblüfft dastehenden Professor zu, lüftete höflich den Räuberhut, senkte den Schläger und meldete: »Melde gehorsamst, daß Friedrich Schiller soeben in die Sugambria rezipiert worden ist.«

Der Professor stand noch immer regungslos, den Oberleib zurückgelegt, die Hände auf der Schirmkrücke. Der Chargierte aber kommandierte: »Wir singen das Allgemeine: Ein freies Leben führen wir. Der Kantus steigt.«

Brüllend zog die Schar weiter, während Musik und Kammbläser vergeblich die Weise zu finden suchten, und verschwand nach dem Schloßteich zu.

Professor Jugurtha schüttelte das Haupt und setzte dann seinen Weg fort, der Marktplatz aber war nun erwacht und fiel fürs erste nicht in seinen Schlaf zurück.

Die Sugambrer mit ihrem unakademischen Gefolge schlängelten sich durch die Weißgerbergasse zum Schloßteich, über die Brücke. Sie wollten eben den Börsengarten betreten, als der Pförtner in seiner grünen Livree atemlos gerannt kam und sich breit vor sie hinstellte. 5

»Bitte, meine Herren, hier geht's nicht hinein.«

Der Chargierte schoß einen Herrenblick.

»Bitte, wir haben alle Karten.«

»Das ist mir gleich. – So kann ich die Herren nicht einlassen.«

Da schrie der erste Chargierte den versteinerten Mann an: »Menschen, falsche, heuchlerische Krokodilenbrut,« kommandierte: »Kehrt, Marsch,« und führte sein Fähnlein in ein studentisches Lokal.

Auch da war es öde und leer. Nun wurde die Musik entlassen und ein großer Tisch im kühlsten Zimmer belegt. Die Puppen wurden in die Straßenfenster gestellt, vor denen die jauchzende Gassenjugend verblieben war, jeder wurde eine Zigarre in den Mund gesteckt und eine alte Mütze auf den Kopf gestülpt. Nachdem der Chargierte mit schmetternder Stimme alle nötigen Befehle erteilt hatte, setzte sich die ganze Gesellschaft um ein paar zusammengeschobene Tische, und nun ertönte zunächst ein unauslöschliches Gelächter, zu dem einer den andern mit fortriß.

Nur der junge Mann, den die beiden Kommilitonen geführt hatten, und der jetzt am unteren Ende der Tafel saß, stimmte nicht mit ein. Der erste Chargierte schrie ihn schließlich an: »Mensch, Schiller, kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«

Der Angeredete aber schien nicht zu hören, und als ihn einer rüttelte, fiel er nach links hinüber und schien eingeschlafen.

»Schlappier!« entschied der Präses. »Füchse! Raustragen!« 6

Der Schläfer wurde entfernt, und dann begann eine solenne Kneiperei, die, durch Zustrom von Verbindungsbrüdern verstärkt, bis in den Abend dauerte.

Als Fritz Friedrich erwachte, sah er sich erstaunt um. Er kannte den Raum nicht, in dem er sich befand, offenbar war es ein Wirtshauszimmer. Neben der Bank, auf der er lag, stand ein unpolierter Tisch, auf dem Bierfilze übereinandergeschichtet waren. Auf dem schmalen Fensterkopf standen leere Seidel. Er richtete sich langsam auf und vernahm nun vom Nebenzimmer her Gesang. Jetzt rieb er sich die Stirn, und dann lächelte er. Das sah hübsch aus, wie sich der weiche, jugendliche Mund in dem schmalen Gesicht verzog.

Dann griff er nach der grauen Mütze, die neben ihm lag, strich über den Deckel und lächelte wieder. Er faßte nach seiner Brust und fühlte ein schmales, silberdurchwirktes Band. Da setzte er die Mütze entschlossen auf, rückte sich zurecht und ging ins Nebenzimmer.

Allgemeines Hallo empfing ihn. Unter einer brennenden Gaslampe saßen wohl zwanzig junge Leute am Tisch. Friedrich ging auf den Präsiden zu, meldete sich zurück, empfing ein gnädiges: »Na, ausgeschlafen, altes Kamel?« und setzte sich an seinen Platz unter die Füchse.

Das Gespräch ging immer noch um den Aufzug vom Mittag. Die nicht dabei gewesen waren, wollten alles haarklein erzählt haben, und einer der Teilnehmer verbesserte immer den andern, weil jeder am besten wissen wollte, wie es »eigentlich« gewesen war.

Und damit wandte sich dann das Interesse dem zu, dem die ganze Sache gegolten hatte, und der immer 7 noch still lächelnd unten saß. Alte Semester tranken ihm zu, und er kam pflichtgemäß nach.

Allmählich war die Gesellschaft müde geworden. Früher als sonst wurde die Zusammenkunft geschlossen, und man ging auseinander. Als die Studenten auf die Straße traten, atmeten sie auf. Es war kühler geworden, in der Nähe mußte ein Gewitter vorübergezogen sein, zwischen leichten Wölkchen stand der Mond am Himmel. –

Fritz Friedrich hatte am Nachmittag so viel geschlafen, daß er nachts erst spät in Schlummer gefallen und früh am Morgen wieder erwacht war. Er zog sich an, ging nach der Militär-Schwimmanstalt und nahm ein Bad. Es machte ihm wie immer Vergnügen, schwimmend zu den roten Mauern der Festung hinüberzublicken, den Teich nach allen Seiten zu durchschneiden, endlich in der Badeanstalt am jenseitigen Ufer aufzutauchen und dann zurückzukehren. Um neun Uhr ging er ins Kolleg, um elf hatte er Fechtkurs. Als er von da eben allein nach Hause ging, traf er den alten Professor Jugurtha, der, Hefte unter dem Arm, aus der Schule kam. Fritz grüßte, und der Alte hielt ihn an. In dem weichen thüringischen Dialekt, den er in vierzig Jahren unter Ostpreußen nicht abgelegt hatte, sagte er: »Nun sagen Sie mir, lieber Friedrich, was war das gestern für eine unglaubliche Geschichte?«

Fritz lachte.

»Ach, Herr Professor, ich war eben bei den Sugambrern eingesprungen, sie hatten mich lange bekeilt, ich bin aber erst jetzt am Ende des Semesters mürbe 8 geworden. Und Sie wissen ja, Schiller war schon auf der Schule mein Spottname.«

Jetzt lachte Jugurtha.

»Jawohl, ich weiß. Und so was kann der Wusche (er sprach das Wort Bursche so aus) Kossekel sich nicht entgehen lassen. Meinen Jugurtha verdank' ich ihm ja auch.«

»Ach nein, Herr Professor. Der Name ist viel älter. Kossekel hat ihn nur zum erstenmal vor Ihnen laut werden lassen.«

»Ei, ei, so, so,« sagte Jugurtha, lächelte erst, machte dann ein Gesicht wie bei der Rückgabe eines Extemporales mit neun Fehlern und schritt ohne Abschied weiter.

Friedrich blieb erst betroffen stehen, dann ging er nach Hause.

Kaum war er daheim, da wurde die Tür aufgerissen, und ein sehr langer, blonder junger Mann schoß ins Zimmer. Er schleuderte ein »Morgen« heraus, nahm im übrigen von dem am Schreibtisch sitzenden Wirt keine Notiz. Friedrich legte die Feder hin und rückte sich bequem zurecht. Der andre stelzte auf seinen langen Beinen im Zimmer umher und rief, schrie, brüllte schließlich: »Du bist wohl ganz und gar verrückt geworden? Oder war der Drang wirklich so unaufhaltsam? Sugambrer! Der junge Herr können ohne Mütze und Band nicht mehr leben! Erst muß die ganze Renommierbacke verhauen sein wie ein Beefsteak! Du glaubst wohl, deine Vorfahren haben keine Ruhe im Grabe, wenn du ohne Saufleber und Herzklaps zu ihnen hinabsteigst? Himmel, Himmel, Himmel! Fritz, 9 Mensch, Roß, Schiller – mußte das sein? Ich kann C und Cis nicht unterscheiden, aber ich schwöre dir, daß ich morgen als dreijährigfreiwilliger Hoboist bei den Dreiundvierzigern eintrete, wenn du Sugambrer bleibst. Du eignest dich genau so gut dazu, wie ich zum Pistonblasen, das heißt wie ein Walroß zum Skatspielen, oder wie der alte Jugurtha zum Quadrilletanzen. Und das alles bei der Hitze!«

Er sank erschöpft auf die Sofalehne. Fritz sah ihn lachend an, nahm dann ein Buch vor und sagte: »Bitte, melde mir, wann du wieder zu sprechen bist. Wasser zur Akühlung und die Zigarrenkiste stehen neben dir.«

Der andre stöhnte, fuhr wieder auf, schüttelte die Hände, packte dann Friedrich bei beiden Schultern und sagte nun, ihn leicht rüttelnd, ganz gedämpft: »Liebster, mußte das sein?«

Friedrich nahm die beiden Hände des Freundes in die seinen, drückte sie herzhaft und sagte, ohne sie vorerst loszulassen, so herzlich er konnte: »Mußte? Nein. Aber, lieber Hermann, warum nicht? Es wird doch nicht nur gesoffen und gepaukt. Ich bin nun einmal ein Organisationsmensch.«

»Nein,« schrie Hermann Sander dagegen und riß seine Hände los, »das bist du eben nicht! Du bist ein Alleinmensch! O der Unverstand,« stöhnte er wieder.

Friedrich verlor seine gute Laune nicht.

»Alleinmensch? Ich bin, wie du schon aus dieser Gegenüberstellung merkst, ein Mensch mit seinem Widerspruch. Ich brauch' einen Kreis, in dem ich mich 10 auslebe, den ich mit meinen Gedanken erfülle, vielleicht beeinflusse.«

»Beeinflussen? Du? Die?« – Jetzt lachte auch Hermann. »War vielleicht der gestrige Umzug, von dem die ganze Stadt spricht, das erste Werk dieses Einflusses? Diese Affenkomödie?«

»Aber, lieber Freund, wenn du ahntest, wie wenig ich in der Lage war, Einfluß zu üben. Ich wurde durchaus getan, ich tat gar nichts.«

»Und machtest dich so zum Gespött.«

»Wessen? Der paar harmlosen Philister? Die haben daran Vergnügen für ein paar Wochen und sind aus ihrer Hitzelethargie aufgeweckt worden. Und sonst? Ich denke, der gemeine Trott der Tage soll gerade mal farbig unterbrochen werden.«

»Farbig,« ächzte Hermann. »Farbig nennt er das! Ich nenne es geschmacklos. Aber gut, aber gut. Wir sprechen uns ja hoffentlich noch, dann werden wir ja sehen.«

»Ja, das meine ich auch. Darf ich dich übrigens auf der morgigen Kneipe als Gast einführen?«

Hermann Sander sah Fritz Friedrich an, als ob er wirklich an seinem Verstande zweifelte.

»Also reden wir von was anderm. Hast du die gestrige Kaiserrede gelesen?«

»Nein, gib her.« Friedrich sprach's mit Hast. Und rasch waren sie vertieft und redeten von andern Dingen. –

Die Sugambria war eine alte Verbindung. Kurz nach den Freiheitskriegen geschaffen, war sie später 11 rücksichtslos unterdrückt worden, aber immer wieder aufgelebt und stand nun nicht gerade in Blüte, aber immer noch in Ansehen. Ihr Stolz waren von je die bedeutenden alten Herren gewesen, die das grün-grau-goldene Band getragen hatten und bei allen studentischen Gelegenheiten noch trugen. Da waren zahlreiche berühmte Parlamentarier, zwei bekannte Dichter, eine Reihe Universitätsprofessoren – alle über das ganze Reich verstreut; sogar ein amerikanischer Senator war darunter, der 1849 hatte auswandern müssen, um dem Zuchthaus zu entgehen, und nun gelegentlich als gefeierter Gast das neue Reich und in ihm auch die alte Verbindung besucht hatte.

In den drei Zimmern, die diese im Sockelgeschoß eines am Schloßteich belegenen Hauses innehatte, strotzte es von Andenken. Hunderte von Bildern alter Sugambrer, mit Namen, Zirkel und Semesterzahlen unterschrieben, bedeckten zwischen Schlägern, Mützen, gerahmten Diplomen die Wände. Im Lese- und Archivzimmer zog sich über den Bildern ein Fries von weißen Blättern die Mauer entlang, Druckblätter in allen Größen, alle in verblichnen schwarz-rot-goldnen Rahmen. Gerade in der Mitte hing ein stark vergilbtes Queroktavblatt. Fritz Friedrich war auf einen Stuhl gestiegen, um es herabzunehmen und zu lesen, da trotz dem hellen Vormittagslicht der Text hier unter der Decke nicht deutlich erkennbar war. Jetzt hielt er es in Händen, wischte den Staub ab und las es dann. Es war eine Mitteilung der deutschen republikanischen Regierung aus Lörrach vom September 1848, 12 mitunterzeichnet von einem alten Herrn der Couleur, der dann lange in den Kasematten von Rastatt hatte schmachten müssen.

Nachdenklich sah Fritz auf die verblaßten Lettern; er hatte noch nie ein solches Dokument der Revolution in Händen gehabt und konnte sich einer gewissen Bewegung nicht erwehren, gemischt aus dem fast ehrfürchtigen Gefühl der Vergänglichkeit aller Dinge, das uns so oft vor historischen Erinnerungen befällt, und aus der Empfindung eines leisen persönlichen Zusammenhangs, der durch den Namen auf dem Blättchen gegeben war.

Ein Kommilitone, der am Tisch saß und die Zeitung las, blickte auf und fragte gleichgültig: »Was hast du denn da?«

Fritz antwortete: »Sieh mal selbst.«

Der andre kam zu ihm herum, las, zuckte dann die Achseln und meinte: »Wo kommt denn das her?«

Fritz sah das ältere Semester erstaunt an.

»Aber das hängt doch hier oben (er deutete auf den jetzt freien Wandfleck) hast du dir das noch nie angesehen?«

»I bewahre! Die alten Dinger hängen da schon ewig! Wer soll sich denn darum kümmern?«

»Erlaube mal, das sind doch große Erinnerungen. Unsre Couleur ist doch sozusagen mit dabei gewesen.«

»Ach Gott, das ist so lange her. Heute denken wir doch ganz anders.«

»Natürlich, wir sind vierzig Jahre jünger. Aber 13 weißt du nicht, was Bismarck mal zu dem Sohn von Robert Blum gesagt hat?«

»Ne, weiß ich wirklich nicht.«

»Du weißt doch, daß Robert Blum 1849 aus der Brigittenau wegen Unterstützung der Wiener Revolution erschossen wurde?«

Der andre nickte zerstreut; es war merkbar, daß er auch das im Grunde nicht wußte.

»Na, sieh mal, später hat Bismarck seinem Sohn gesagt: Ihr Vater war zwar gut liberal, aber auch gut national. Und du weißt doch, wie Bismarck achtundvierzig und später zu diesen Dingen stand?«

Der andre ließ auch das undeutlich und sagte dann: »Wir haben davon nichts mehr auf der Penne gehabt. Im übrigen haben wir jetzt das neue Reich und fertig.«

Fritz wurde lebhaft.

»Ja natürlich. Aber wir dürfen doch zu allerletzt die alten Achtundvierziger vergessen.«

»Hör' mal, lieber Fuchs. Willst du mir hier Geschichtsunterricht geben? Ich danke dir für die gute Absicht. Du kannst heute abend mal mit einem Ganzen anschwirren.«

Und damit griff er zu den Fliegenden Blättern.

Fritz sah ihn erstaunt von der Seite an. Dann hing er das Manifest wieder an den Nagel und studierte die übrigen, den Stuhl immer weiter rückend, mal eins herabnehmend, um es genau zu lesen. Es waren Proklamationen, Briefe verbannter Bundesbrüder und ähnliches. 14

Als er fertig war, griff er zum Stock und verabschiedete sich. Er war heut bis zum Abend frei und beschloß, an die See, nach Cranz, zu fahren. Gegen Mittag war er draußen und schlenderte am Strand entlang zur Plantage. Dabei zogen, wie er in dem kaum spürbaren leichten Seewind durch die Sonne ging, links immer die beglänzte See vor sich, die letzten zwei Wochen an ihm vorüber, und er bedachte manches. Wie war er in die Verbindung gekommen? Sein Vater war Offizier gewesen, die Großväter Kaufleute – er hatte also keine akademische Tradition. Aber wie er schon aus der Schule einen Kreis gebraucht hatte, in dem er seine Gedanken aussprechen und an denen der andern schleifen konnte, so war in ihm auch auf der Universität das Bedürfnis erwacht, einen solchen Kreis zu finden – trotz dem Widerspruch seines Freundes Hermann Sander.

So war er noch jetzt, in seinem dritten Semester, Sugambrer geworden, gerade weil ihn der Glanz der geschichtlichen Erinnerungen angezogen hatte. Das ungebundene und doch von zum Teil komisch-ernsten Regeln umhegte Leben des Farbenstudenten gefiel ihm auch; freilich erwartete er noch das Richtige, das, was ihm eigentlich vorgeschwebt hatte.

Fritz beschloß, im heutigen Konvent einen Anfang zu machen. Man mußte doch mal von dem sprechen, was in diesem Schicksalsjahr alle bewegte. Die letzten Monate waren so inhaltreich, so voller tiefer Spannung gewesen, die jetzt noch längst nicht gelöst war. Eben vor dem Beginn der Osterferien war der Unterricht jäh 15 unterbrochen worden, die ganze Hörerschaft war in der Aula zusammengekommen, und mit einer Stimme, in der Tränen zitterten, hatte der alte Prorektor, immer wieder die widerspenstigen weißen Haare zurückstreichend, verkündet, daß der alte Kaiser Wilhelm gestorben war. Und wenige Wochen darauf hatte man in der schwarzausgeschlagenen Universität den Hingang all der Hoffnungen beklagen müssen, die sich an das Leben ihres Rektors, Kaiser Friedrichs, geknüpft hatten. Und eh' man noch recht dies tragische Geschick hatte besinnen können, trat nun der dritte Kaiser ins deutsche Leben, ein fast unbekannter Mann, vor allem einer, der nicht viel älter war als Fritz und seine Generation; und er empfand und, wie er fühlte, nicht allein, daß es wie ein ganz neues Werden in der Luft lag.

Fritz sang leise vor sich hin, dann brach er ab und dachte darüber nach, was er sagen wollte. Allmählich wurde er froher und freier, ganz vergnügt und innerlich sicher stieg er zu einem Aussichtstempel empor und blickte auf die See, die ganz ruhig dalag, kaum daß leichte Plauderwellen mit leisem Klatschen gegen den Strand schlugen.

Es war noch Mittagszeit und deshalb sehr ruhig ringsumher. Plötzlich hörte Fritz unter sich vom Strande eine zornige weibliche Stimme: »Bitte, lassen Sie mich endlich in Ruhe!«

Ein männliches Organ, das ihm bekannt war, antwortete: »Aber Fräulein, ich tue Ihnen ja nichts.«

Indessen kamen die Sprechenden, die bisher das Dünengebüsch deckte, am Strande zum Vorschein. Eine 16 junge Dame schritt so lebhaft voran, wie der immer wieder weichende Sand es gestattete, und in der Entfernung weniger Schritte, die er rasch einzuholen strebte, folgte ihr ein junger Mann. Das Mädchen sah sich suchend um, der Mann sah nur auf sie und versuchte schließlich, ihren Arm zu packen, so daß sie sich empört losriß, zu laufen begann und auf den kleinen Pavillon zueilte.

Ehe sie noch die unterste Stufe der in die Düne gelegten Holztreppe erreicht hatte, war Fritz unten, ließ die Dame, seine Mütze ziehend, vorbei und trat dann dem Mann in den Weg.

»Ich ersuche Sie,« sagte er sehr ruhig und bestimmt, »das Fräulein in Ruhe zu lassen.«

Der andre hatte in seiner blinden Gier Fritz erst gesehen, als er unmittelbar vor ihm stand, und sich, unwillkürlich stehenbleibend, zurückgebogen. Jetzt lachte er höhnisch.

»Laß du mich gefälligst in Ruhe.«

»Ich lasse Sie nicht eher vorbei, als bis Sie mir versprochen haben, die Dame nicht weiter zu belästigen.«

»Mach' doch keine Faxen,« schrie der andre, »was geht dich die denn an?«

Fritz blieb unbewegt stehen. Und da links und rechts der schmalen Stiege dichtes Nadelgebüsch stand, versperrte er dem Gegner jeden Aufstieg.

»Ich ersuche Sie dringend unten zu bleiben.«

Der andre packte Fritz am Arm und wollte ihn fortschieben.

Da sagte der: »Keine Gewalt,« schüttelte die Hand 17 ab und schob den andern etwas zurück. Das machte den wild. Er schrie: »Meinethalben geh mit dem Frauenzimmer zum Teufel,« und wollte kurz kehrtmachen.

Da aber war es Fritz, der ihn festhielt.

»Sie werden mir für diese Gemeinheit Genugtuung geben, Herr Bergmüller,« sagte er mit kalter Stimme, hinter der doch seine Erregung zitterte.

»Genugtuung? Ich mache den Unsinn nicht mit. Ich suche keine Kontrahage.«

»So, also erst brutal und dann feige,« sagte Fritz, ließ den Menschen los und schlug ihm dann ohne weiteres ein paar Ohrfeigen links und rechts.

Bergmüller war zurückgetaumelt. Er sagte kein Wort mehr, warf Fritz einen haßerfüllten Blick zu und ging strandwärts dem Dorfe zu.

Fritz schritt ans Ufer, spülte sich die Hände ab und stieg langsam empor. In dem kleinen Holzbau sah er die junge Dame schluchzend sitzen. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Allmählich hörte das Zucken ihrer Schultern auf, sie ließ das Taschentuch sinken und sah den vor dem Pavillon Stehenden an. Er trat nun näher, nahm die Mütze ab und nannte seinen Namen.

Sie stand auf, gab ihm die Hand und rief dann: »O ich danke Ihnen tausendmal. Er ist mir schon vom Waldhaus nachgegangen. Aber Sie haben Streit mit ihm gehabt, Sie werden große Unannehmlichkeiten bekommen.«

»Haben Sie keine Sorge, gnädiges Fräulein. Ich kenne den Burschen von der Schule her. Schon da war er mir durch seine Rouémanieren unausstehlich. Ich bin 18 sicher, er wagt nicht zu mucksen; er ist im Grunde ein ganz feiger Kerl. Der hält den Mund, und die Lehre wird ihm ganz gut tun.«

Sie mußte über die Sicherheit, mit der er das sagte, doch lächeln. Dann stand sie auf und schickte sich zum Gehen an. Fritz sagte: »Sie gestatten, daß ich Sie begleite.«

So gingen sie zusammen zurück. Aber ein rechtes Gespräch kam nicht auf. Sie war immer noch erregt und antwortete freundlich, aber einsilbig auf seine Fragen; vor einem Hause in der Strandstraße gab sie ihm die Hand, dankte noch einmal und ging hinein.

Fritz fuhr zeitig wieder nach der Stadt. Abends war Konvent. Vorher meldete er den Zwischenfall mit Bergmüller dem ersten Chargierten, er wurde protokolliert und weiter kein Wort darüber verloren. Der Konvent, der letzte vor den Ferien, war gut besucht, die Schlußkneipe noch voller, zahlreiche Inaktive und mehrere alte Herren waren da. Kossekel präsidierte schlagfertig und gewandt, Rose, mit dem Fritz am Vormittag das Gespräch gehabt hatte, war Fuchsmajor.

Als der Kommers im vollen Gange war, erbat er sich Silentium und verkündete, daß der Fuchs Schiller nach fünf Bierminuten eine Bierrede halten würde. Alles rief: Bravo! Als die kurze Vorbereitungszeit vorbei war, erhob sich Fritz und begann.

Er erzählte zunächst das Erlebnis von heute vormittag zwischen dem Fuchsmajor und ihm. Da er es mit leiser Ironie vorbrachte, hatte er die Lacher auf seiner Seite. Kossekel prostete Rose schweigend zu, andre 19 winkten ihm vergnügt. Einer rief: »Gut, Fuchs! Für die erste Rede geht's ja!«

Dann aber wurde Fritz ernst. Er sprach von dem Tode der beiden Kaiser, von dem jungen, neuen Herrn.

»Heute war ich am Meer, an unsrer Ostsee. Da ist mir vieles aufgegangen. Da habe ich an die alten Herren denken müssen, die vor vierzig Jahren hinüberfahren mußten, verfemt und geächtet, und an alles, was sie erlebt haben, an ihre Fehler und an ihre Taten. Und dann verstand ich, was es bedeutet, daß jetzt Deutsche unter einiger Flagge hinübergehen und wiederkehren, wenn sie auch nicht schwarz-rot-golden ist, daß sie deutsche Macht und deutsche Arbeit hinübertragen, fremde Ware zu unserm eignen Wohlstand zurückbringen. Jene lebten keuchend und beengt in der elenden Zerrissenheit der achtunddreißig Vaterländer, wir stehen aufrecht im neuen Reich, das Bismarck uns geschaffen hat.«

Einige glaubten, die Rede wäre nun aus, und hoben schon die Gläser; auch Kossekel sah Fritz in der Erwartung an, daß er nun – vielleicht mit einem Hoch auf Bismarck – schließen würde, und war geneigt, in Anbetracht des löblichen Patriotismus das durchgehen zu lassen, obwohl der Charakter der Bierrede nicht gewahrt war. Fritz aber richtete sich nur ein wenig höher auf und sprach unberirrt weiter: »Und dennoch! Auch wir haben nicht ganz die Atemfreiheit, die wir brauchen. Noch muß der Deutsche jenseits der Meere fast überall unter fremder Flagge arbeiten, noch hat er dort und in den paar Kolonien nicht den Schutz, den dem Engländer 20 seine Flotte, sein mächtiges Selbstbewußtsein, sein großes Parlament, sein – jetzt sprach er fast mit männlicher Reife – sein eherner Patriotismus gewähren.«

Widerspruch wurde laut: »Wir sind auch Patrioten. Unsinn! Das ist ja keine Bierrede!«

Kossekel schwankte einen Augenblick, da rief einer der alten Herren neben dem Präsiden: »Zum Donnerwetter! Silentium!«

Und der Chargierte beeilte sich, das energisch zu wiederholen und mit dem Schläger zu bekräftigen.

»Wir brauchen mehr Luftraum!« fuhr Fritz fort, der diese Zwischenspiele gar nicht beachtet, sondern nur wie suchend geradeaus geblickt hatte. »Mehr Mut innen, weniger alte Zöpfe, mehr Selbstbewußtsein nach außen. Wir wohnen hier am Meer, wir wissen, was Seeluft ist. Unser junger Kaiser scheint es zu fühlen, er liebt die Flotte wie sein Vater. Möge er der Kaiser des größeren Reiches werden!«

Wieder wurde gemurrt, wieder griff der alte Herr mit den weißen, buschigen Augenbrauen ein, indes sein Gegenüber, auch ein altes Haus, peinlich berührt die Achseln zuckte.

»Ich trinke auf ein größeres Deutschland. Ich wünsche damit etwas, was jene alten Herren von achtundvierzig (wieder zuckte der zweite alte Herr), ob auch in andrer Form, gleichfalls gewollt haben. Unsre Freiheitswünsche sind andre. Wir wollen keine deutsche Republik, aber unser Idealismus ist derselbe. Auch wir wollen,« so sprach er jetzt mit ein wenig jugendlichem 21 Überschwang, der aber seiner Rede doppelte Wärme lieh, »auch wir wollen mit Goethe.«

»Schiller,« riefen zwei, drei Stimmen zwischen.

»Mit Goethe mit freiem Volk auf freiem Grunde stehn, dem Ozean deutsches Zukunftsland abgewinnen.

Er trank sein Glas leer, verbeugte sich jetzt, meldete: »Bierrede ex,« und nahm wieder Platz. Rose würdigte ihn keines Blickes. Kossekel sah unergründlich aus und trank still in sich hinein, bis der alte Herr links neben ihm, eine elegante Erscheinung mit grauen Kotelettes und goldenem Zwicker, sich an ihn wandte. Sofort nahm der Präside die Zigarre aus dem Munde und neigte sich höflich nach links.

»Wer ist der Fuchs? Ich habe den Namen nicht recht verstanden.«

»Friedrich,« erwiderte Kossekel.

»Was studiert er?«

»Jura und Kameralia.«

Ein flüchtiges Lächeln zuckte um die Lippen des alten Herrn.

»Stammt er aus Königsberg?«

»Ja. Sein Vater war Hauptmann, fiel bei Gravelotte, als Friedrich zwei Jahre alt war.«

Der alte Herr dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er zu Kossekel: »Ich bitte um Silentium.«

Der ließ den Schläger niederdonnern.

»Silentium für den alten Herrn von Danilewski!«

Die lange Gestalt erhob sich. Zunächst strich der Oberregierungsrat von Danilewski seine Kotelettes 22 links und rechts mit einer Bewegung, die er vielleicht von einem bekannten Minister auf der Bundesratstribüne gesehen hatte. Dann sagte er: »Sugambrer! Liebe, junge Freunde! Unser jüngstes Mitglied hat soeben patriotische Worte gesprochen. Ich freue mich immer, wenn ich in eurem Kreise dergleichen höre. Die Erziehung zur vaterländischen Gesinnung ziert die Verbindung.«

»Bravo!« riefen einige Stimmen.

»Freilich: Patriotismus und Patriotismus ist etwas sehr voneinander Verschiedenes und Idealismus und Idealismus auch. Auch ich (jetzt sprach er mit leichten Handgesten, recht wie ein Parlamentarier) nehme dieses hohe Gefühl für mich in Anspruch, aber ich leugne, daß es mit dem der sogenannten Achtundvierziger viel gemein hat.«

Der alte Herr gegenüber schoß einen vollen Blick auf den Redner, nahm die Mütze ab, als ob ihm heiß wäre, fuhr sich einmal über die Glatze und setzte den Deckel wieder auf.

»Mein Idealismus – und das ist wohl auch der eure – ist in erster Linie Hingabe an das Vaterland, an das Königshaus, das Kaiserhaus, das,« er prononcierte, »mit des Fürsten Reichskanzlers Rat und unserm glorreichen Heere das Reich geschaffen hat und ohne die Demokratie, ja, gegen sie. Und mein Idealismus und mein Patriotismus sagen mir, daß jene Germania major (der Redner gab seinen Worten jetzt eine leicht ironische Färbung) eine Utopie ist. Gerade der Fürst Reichskanzler hat Deutschland einen saturierten Staat 23 genannt. Und wenn ich mir auch nicht anmaße, die Gedanken unsres allergnädigsten Königs und Herrn zu erraten, so sollte ich meinen, er steht so sehr in den Ideen seines hochseligen Großvaters und des Kanzlers, daß auch ihm unser auf dem Heere vor allem ruhendes heutiges Reich genügt. Wasser (jetzt zog der Rat an seinen Bartenden und lächelte wieder), sagt man, hat keine Balken, aber das Reich in seiner Geschlossenheit steht wie ein Rocher de bronze. So soll es bleiben!«

Danilewski sah auf. Er hatte schließlich gesprochen wie bei einem offiziellen Beamtendiner. Jetzt wurde er sich der Situation erst wieder ganz bewußt, hob den Krug und rief: »Ein Schmollis der Ganzen!«

»Fiduzit,« kam es dröhnend zurück.

Noch ehe die Gläser alle auf den Tisch zurückgefahren waren, hatte der andre alte Herr sich erhoben, machte nur eine Handbewegung gegen den Präses und begann dann, während seine Rechte auf und nieder fuhr, doppelt so laut wie der erste: »Sugambrer! Auch ich möchte euch ein Wort sagen. Ich bin heute hier das älteste Semester. Als unser lieber Danilewski noch nicht oder eben erst geboren war, habe ich mit andern Sugambrern in Band und Mütze Johann Jacoby auf meinen Schultern vom Schloß herabgetragen, als die konservativen und fast durchweg adligen (Danilewski zuckte) Richter des Obertribunals ihn von der Anklage des Hochverrates freigesprochen hatten. Nachher – manche von euch wissen das vielleicht – bin ich nicht mehr mit ihm gegangen, weil er gegen die Einheit von siebzig war und ich die ehrlich mitgemacht habe, weil 24 er Bismarck auch dann noch bekämpfte, während ich einsah, daß der Mann oft hart und ungerecht, aber ehrlich und groß war. Große Leute haben große Füße – das haben meine alten demokratischen Freunde vergessen. Aber ihr Idealismus darf so wenig angetastet werden wie ihr Patriotismus!«

Der Redner machte, in offenbarer Bewegung, eine kleine Pause, niemand regte sich. Dann fuhr er fort: »Ich darf dafür zeugen, weil ich selbst mit ihnen zusammen gekämpft habe und gelitten habe. Ihr jungen Leute habt es leicht. Euch ist zugewachsen, was unsre Generation mühsam errungen hat in Kämpfen, an denen Hunderte zugrunde gingen. Nicht nur denen wollen wir dankbar sein, die, wie der Vater unsres lieben jungen Fuchses, im Kriege für die Einheit gefallen sind, sondern auch denen, die in andern schweren Kämpfen bluteten, die in den Gefängnissen büßten oder mit zerbrochener Seele übers Meer fliehen mußten.«

»Und darum freue ich mich,« fuhr er schon heller fort, »wenn mal einer kommt, ein Junger, und frische Gedanken ausspricht. Ich bin ein Studienfreund Wilhelm Jordans, wir sind beide aus Insterburg, wie haben wir beide für die deutsche Flotte geschwärmt! Ich habe ihn gesprochen, und wir haben beide geheult, als sie untern Hammer kam. Nein, das Deutsche Reich ist noch nicht fertig, das sage ich euch, der ich mich ruhig immer noch einen Achtundvierziger nenne, wenn ich auch für das Septennat agitiert habe.«

»Und nun, liebe, junge Kerls, nehmt es mir nicht übel: ich freu' mich, daß wir heute mal in ein andres 25 Fahrwasser gekommen sind. Ihr seid mir in den letzten Jahren alle etwas zu bierehrlich und dann wieder etwas zu fein geworden. Man kann auch mit Röllchen ein tüchtiger Kerl sein. (Seine Narben glühten.) Auch ihr jungen Leute sollt wissen, wofür ihr mal zu leben, zu arbeiten und so oder so zu kämpfen habt. Darum war mir die Bierrede von unserm Fuchs, die gar keine Bierrede war, eine Erquickung. Ich denke, dieser Ausklang ist kein schlechter Semesterabschluß. Und nun bitte ich euch (alles stand geräuschvoll auf), mit mir einen Ganzen zu trinken dem Gedächtnis der alten Sugambrer.«

Alles trank.

»Und nun erbitte ich mir vom hohen Präsidium mein altes Leiblied: Wir hatten gebauet.«

Während die Bücher aufgeschlagen wurden, ging Friedrich um den Tisch herum, auf den Sprecher, den alten Doktor Witte, zu. Der kam ihm auf halbem Wege entgegen, packte ihn ohne weiteres, küßte ihn mit dem feuchten Schnurrbart auf beide Backen und drückte ihm die Hand. Dann stieg das Lied:

»Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus
Und drin auf Gott vertrauet
Trotz Wetter, Sturm und Graus«

Ohne sein Buch zu öffnen, starr, mit leuchtenden Augen geradeaus sehend, sang der alte Witte Vers für Vers mit, bis der letzte kam: 26

»Das Haus mag zerfallen,
Was hat's denn für Not,
Der Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott.«

Da sah er sich wieder um und begegnete dem Blick Danilewskis. Er hob sein Glas und sagte: »Nichts für ungut, Danilewski.«

Der andre lächelte sauersüß und stieß mit ihm an.

Die behagliche Stimmung war aber fort. Man trank und sang zwar noch eine Weile, aber bald erinnerte sich das eine oder das andre ältere Semester, daß es morgen zeitig in die Ferien ging. So schloß denn Kossekel schon um ein Uhr, und im allgemeinen Abschied für die Ferien ging jede Auseinandersetzung unter. Fritz Friedrich stand bald draußen. Da rief ihn der alte Witte an: »Wo wohnst du?«

»Auf dem Steindamm, alter Herr.«

»Und ich in der Tragheimer Kirchenstraße. Dann wollen wir zusammen gehen.«

Das taten sie. Witte sprach nicht viel. Er brubbelte ab und zu etwas vor sich hin. Dann sagte er jäh: »Hast du gemerkt, wie der Danilewski von Hingabe fabelte? Auch so'n Modewort. Wir sagten Hingebung.«

Erst als sie in die Kirchenstraße einbogen, begann Witte wieder: »Wo gehst du in den Ferien hin?«

»Erst bleibe ich zu Haus. Später fahre ich zu Verwandten nach St. Petersburg.«

»Nach Petersburg?« 27

»Ja, meines Vaters einzige Schwester ist dort verheiratet.«

»So, so. Weißt du was, da besuche mich mal. Ich bin nur heute hereingekommen. Ich wohne für die Ferien in Cranz, Strandstraße 17.«

Fritz dankte und versprach zu kommen.

Der Alte hielt ihn fest.

»Aber bald,« sagte er. Und dann drückte er Fritz noch einmal eisern die Hand und verschwand im Haustor. 28

 


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