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Neuntes Kapitel

Fritz ging fast regelmäßig in jeder Woche einmal zu Natja. Er hatte in diesem Winter nicht viel belegt und so verhältnismäßig viel freie Zeit, obwohl er seit dem Gespräch mit Kossekel seinen Couleurverpflichtungen besonders gewissenhaft nachkam. Er nahm keine russischen Stunden, aber es war ihm zur Gewohnheit geworden, einen Abend bei Natja zuzubringen und ein paar Stunden mit ihr zu verplaudern. Ein paarmal traf er Hermann Sander, der jetzt jeden Abend für seine Prüfungsstunden ausnutzen mußte, gerade im Weggehen nach dem Unterricht; sie sprachen dann zwischen Tür und Angel noch ein paar Worte. In Fritzens Augen war bei diesen Begegnungen ein Ausdruck, der Natja gegenüber mit Absicht verborgen wurde, den vor Hermann zu unterdrücken er nicht für nötig hielt. Es war ein Schein von Eifersucht und ein befremdetes Fragen darin, auf das wieder Hermann, dessen Blick offen war wie je, ersichtlich nicht antworten wollte, das zu verstehen sein helles Auge leugnete.

Sobald dann Fritz Natja allein gegenüber saß oder gleichgültige Dritte sich zu ihnen gesellten, schwand der gespannte Augenausdruck, und er war ganz an das Gespräch mit ihr hingegeben, so hingegeben, daß er die ohne Mühe festgehaltene, gleichgültige Ruhe des 121 Mädchens nicht bemerkte, daß er seine Wärme, die sich auch dem alltäglichen Gespräch zuwandte, in das, was sie sagte, in die Art, wie sie sich gab, selbstherrlich hineinlegte.

Und dazu hoben die gärenden politischen Gespräche, die oft und oft in den kahlen vier Wänden der Heiligengeistgasse widerhallten, diesen Verkehr für Fritz noch in eine besondere Atmosphäre, der jugendliche Eifer, auch das hervorzusprudeln, was er im Gespräch mit der Mutter, Hermann oder dem alten Witte vorsichtig wägend zurückhielt oder mit gutem Bedacht richtig wandte – das alles braute sich um Natjas Gestalt zusammen, deren schmerzliche Lieblichkeit er vom ersten Tage an stark empfunden hatte.

Häufiger und häufiger, wenn er bei Frost oder Tauwetter des nun schon mit den ersten, schüchternen Versuchen des Frühlings kämpfenden Winters durch einsame Straßen nach Hause ging, verlängerte er absichtlich den Weg, träumte vor sich hin und setzte wohl auch das Gespräch fort, das nur zu oft mehr oder minder ein Monolog gewesen war – aber wie in jener Januarnacht oder auch sonst vor einem Hause in der Tragheimer Kirchenstraße stehen zu bleiben, vermied er halb unbewußt.

Auch an den regelmäßigen Abenden im Witteschen Hause fehlte die Russin selten. Und Hermann wußte es jedesmal so einzurichten, daß er, wenn auch in später Stunde, von seiner entfernten Wohnung noch herüberkam.

Aline war an diesen Abenden meist sehr schweigsam. 122 Sie hatte, wie sie's Fritz versprochen, eine Annäherung an die Fremde gesucht, die ihr unbefangen entgegenkam, hatte ihr diese oder jene Besorgung erleichtert, ihr manches in Königsberg gezeigt – und dennoch waren die jungen Mädchen nicht miteinander warm geworden, und Fritz sah nicht ohne Befremden, daß der Ton zwischen den zweien jetzt fremder war als am Anfang ihrer Bekanntschaft.

Er schob es auf Aline. Aber so oft er einen Ansatz nahm, es ihr zu sagen, war das Gespräch nicht weiter gekommen, und schließlich hatte Fritz gemerkt, daß sie selbst es nicht fortführen wollte. Da hatte er aufgehört. Aber nun empfand sie, daß er ihr gegenüber kühler ward; jene ritterlich-herzliche Vertraulichkeit schien gewichen, die seit dem Unfall an der See, der seiner raschen Beschützertat gefolgt war, seinen Ton ihr gegenüber bestimmte – an ihre Stelle war eine um ein paar Striche förmlichere, äußerlichere Höflichkeit getreten. Das schmale Oval von Alines zartem Antlitz erschien blasser, ein wenig in die Länge gezogen, und ihre Augen hatten den Gleichmut ihrer ruhigen Stunden, die heitere Beseeltheit lebhafterer Minuten verloren und sahen, wie mit einem trüben Rätsel beschäftigt, vor sich hin oder in die Weite.

Als eines Tages Frau Klara zu ungewohnter Stunde das Wittesche Haus betrat und unangemeldet, wie es ihr als nun eingelebter Hausfreundin zustand, ins Wohnzimmer kam, fand sie Aline ohne Regung am Fenster sitzen, den Rücken der Straße zugewandt, von der ein trübes Spätnachmittagslicht hereinfiel. 123 Und als das junge Mädchen sich überrascht, fast erschreckt erhob und die ersten Worte der Begrüßung sprach, klangen Tränen durch ihre Stimme.

Mit dem unvergleichlichen instinktiven Takt reifer, ganz weiblicher Frauen tat Klara Friedrich ganz unbefangen und brachte zunächst ein gleichgültiges Gespräch in Gang. Aline drückte ihr dankbar die Hand. Aber als sie Licht anzünden wollte, zog Klara sie mit einer mütterlichen Gebärde neben sich, und nun sank Alines Haupt ihr an die Schulter, sie, die sich sonst kerzengerade hielt, lehnte sich fest an die ältere Frau, und das Schluchzen, das sie vorher zurückgehalten hatte, kam nun auf und schüttelte ihren schlanken Körper.

Klara Friedrich sah starr geradeaus, dabei streichelte sie den Kopf des jungen Mädchens, fuhr ihr über die Schultern und zog sie schließlich mit fester Gebärde an sich, während ihr eignes Haupt sich wandte und sie nun mit warmem Anteil auf die halb an ihr Hingesunkene hinabsah.

Noch immer sprachen beide kein Wort. Alines Schluchzen hörte auf und ging in ein lautloses Weinen über. Da sagte Klara: »Sei ruhig, mein liebes Kind.«

Aline horchte auf. Noch verstand sie nicht ganz, was dieses Du bedeutete, da hatte Klara sie mit beiden Armen umschlungen, und während das Lächeln einer alles verstehenden Mutter um ihren Mund lag, sprach sie leise, beruhigende Worte auf den Scheitel der Jungen hinunter. Die hörte nur die Wärme, die Güte, den Anteil heraus. 124

»Ich kenne meinen Jungen,« sagte jetzt Klara. »Überlaß ihn nur mir, sei gewiß, er bleibt dir.«

Aline richtete sich wie zu einer Frage empor, aber mit demselben Lächeln, das ihre Züge befriedete und verschönte, sagte Klara, ohne daß die andre eine Silbe gesprochen hätte: »Nein, nein, er hat mir nichts gesagt, aber ich weiß, ich weiß alles. Er hat ja auch dir noch nichts gesagt.«

Aline schüttelte den Kopf.

»Laß es gut sein,« fuhr Klara fort. »Zeig' dem Vater nicht ein so trauriges Gesicht. Ich sag' dir noch einmal: er kommt dir wieder. Vielmehr: du hast ihn gar nicht verloren, nur in seiner Phantasie ist er anderswo.«

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Fritz gehört zu den Menschen, deren Schicksal sich in der Jugend entscheidet – mit seinem Vater war es ebenso. Ich weiß seit dem Tage in Cranz, nein, seit einem Tage in Warnicken, damals, als ihr die Sonne aufgehen saht, wie es um ihn steht. Laß dich nicht beirren. Ich wünsch' mir nichts Besseres, und er sich ganz gewiß auch nicht.«

Jetzt sah Aline empor. Durch die dicken Wolken draußen war ein letzter Strahl der untergehenden Sonne ins Zimmer gefallen, und das Mädchen erkannte im Blick der Frau alle mütterliche Güte, alle Liebe, die der Mutterlosen solange gefehlt hatten. Und dann sah sie, daß es seine Augen waren, es ging wie ein leiser Schauer des Glücks über sie, sie legte mit einer rührend hilflosen Gebärde Frau Klara beide 125 Arme um den Hals, und sie gaben sich einen stillen, festen Kuß, der alles sagte.

Dann standen beide auf, Aline ging hinaus, und als sie mit einer Lampe wiederkehrte, glänzte etwas von der Heiterkeit früherer Tage in ihrem Antlitz: die Tränen waren schon, leicht, wie Jugendtränen trocknen, fast spurlos wieder vergangen. –

In Gedanken ging Klara nach Hause. Sie überlegte, ob und was sie mit ihrem Sohn sprechen sollte. Aber bald verwarf sie diesen Plan völlig, und als sie an ihrer Wohnung anlangte, war sie sich darüber klar, daß diese Angelegenheit zwischen den Frauen allein ausgemacht werden sollte, sofern und solange das ginge.

Am andern Tage, wiederum am späten Nachmittag, ging sie zu Natja. Sie hatte wohl einmal, kurz nach deren erstem Besuch bei ihr, ihre Karte bei der Fremden abgegeben, sie aber nicht zu Hause getroffen, und betrat nun zum erstenmal das Zimmer, dessen bedürfnislose Ausstattung ihr selbst in dieser Stunde auffiel.

Natja war zu Hause und kam Klara ganz unbefangen entgegen, dankte ihr für den Besuch.

»Ich wollte doch mal sehen, wie Sie hier leben; schließlich hat man als Mutter doch auch ein Interesse daran, den Raum zu sehen, wo der Sohn so oft weilt.«

Die Worte waren so ruhig gesprochen, daß Natja nichts in ihnen auffiel. Sie lenkte das Gespräch ganz unabsichtlich in ein allgemeineres Fahrwasser, und Frau Klara hatte Mühe, es nach ihrem Sinn zu steuern. Als ihr das nicht gelang, gab sie es mit raschem Entschluß auf, und es entstand eine kleine Pause, für Klara 126 nicht ohne Bedrücklichkeit, die Natja erst zu empfinden begann, als der Blick der Älteren sich nun fest und ernst auf sie legte – nicht ohne Liebe und Teilnahme, wie ihr schien.

»Gnädige Frau, Sie wollen mir etwas sagen,« begann da die Studentin, und vor der Klarheit, mit der das gesprochen wurde, ließ Fritzens Mutter völlig jeden Umweg und sagte: »Ja, liebes Fräulein Lubakow, ich möchte etwas mit Ihnen besprechen, rein als Frau zur Frau. Fritz ist sehr häufig bei Ihnen – (sie hob die Hand ein wenig). Ich finde, so weit kennen Sie mich wohl, gar nichts dabei, ich weiß, daß er sich hier behagt, aber –«

Natja sah Frau Klara ruhig an, indes langsam eine Röte ihr vom Halse her ins Antlitz stieg.

»Ich habe Fritz nicht so erzogen, daß ich ihn nach irgendeiner Richtung hin direkt stark beeinflussen möchte. Ich habe das auch (sie sprach jetzt mit einem gewissen Stolz) nie nötig gehabt, obwohl er noch jung ist.«

Jetzt unterbrach sie Natja, und in ihrer Stimme war eine leise Rauheit, ja, Erregung.

»Aber Sie wollen nicht, gnädige Frau, daß er weiter hierher kommt, und da Sie es ihm nicht sagen wollen, soll ich's ihm sagen.«

Sofort fiel Frau Klara ein: »Liebes Kind, seien Sie nicht bitter und mißverstehen Sie mich nicht. Wenn ich Sie nicht schätzte und gern hätte, würde ich Sie, auch Fritz zuliebe, nicht so in mein Haus gezogen haben, wie es geschehen ist. Aber –« 127

Sie schwieg.

»Aber?« fuhr Natja fragend fort.

»Sie machen mir's sehr schwer, Fräulein Natja. Sie müssen doch empfinden, daß Fritzens Besuch bei Ihnen mehr ist als Ihr Geplauder in Petersburg.«

Natja sah den Gast noch immer groß an.

»Aus mir spricht nicht Muttereifersucht,« sagte Frau Friedrich; »aber (und nun wurde ihre Stimme ganz warm und herzlich) ich hatte ihm ein Glück zugedacht, und ich durfte hoffen, nein, ich wußte, daß seine Gedanken da denselben Weg gingen. Und nun (jetzt stand sie auf, trat Natja gegenüber an den Tisch und legte ihre Hände auf die des jungen Mädchens) und nun möchte ich nicht, daß das anders würde. Ich kenne ihn und weiß, daß er richtig gewählt hatte –«

Natja, noch immer über und über glühend, war aufgestanden und hatte ihre Hände Frau Klara entzogen. Sie lehnte sich leicht gegen den Tisch, und so sagte sie, jetzt in der Erregung die fremde Sprache härter noch sprechend als sonst: »Ja, was kann ich denn dafür? Ich war freundlich zu ihm, kameradschaftlich, wie wir's gewohnt sind –«

»Aber, liebes Fräulein, ich mache Ihnen keine Vorwürfe, da verstehen Sie mich ganz falsch, das müssen Sie doch merken. Ich wollte Sie nur bitten, herzlich bitten, helfen Sie ihn mir zurückbringen, Sie sind ja klug, Sie wissen, was ich meine.«

Jetzt kam in Natjas Mienen ein Lächeln, das Frau Klara nicht verstand, ein glückliches und zugleich sehr schelmisches. Eben wollte sich Klara unbefriedigt, fast 128 geärgert in dem Gefühl, absichtlich mißverstanden zu werden, abwenden, da sagte Natja sehr leise: »Verzeihen Sie mein Lächeln, gnädige Frau. Aber vielleicht beruhigt es Sie, und vielleicht wirkt es auf Fritz, wenn ich Ihnen sage, was ich eigentlich nicht verraten darf: ich bin schon seit einigen Wochen mit Hermann Sander verlobt.«

Frau Klara war so erstaunt, daß sie zunächst nur Natja groß ansah und kein Wort fand. Dann steckte das Lächeln, das immer noch um deren Mundwinkel und in deren Augen lag, sie an, und nun lachten beide, herzlich, freundschaftlich, und Klara sagte: »Da wünsch' ich aber Glück, von ganzem Herzen.«

»Hoffentlich nicht nur Fritz und Ihnen,« sagte Natja.

»Das wissen Sie doch,« erwiderte Frau Klara, und nun ließ sie sich von den Plänen des jungen Paares erzählen, das seine Verlobung erst nach Hermanns Examen bekannt machen wollte. Natja hatte vor, dann nach Rußland zurückzugehen, bis Hermann sie, wie er hoffte, recht bald, für immer zurückholen würde.

Nun überwog Klaras frauliches Interesse zunächst alles übrige, und erst als sie sich heiter getrennt hatten, kam die Heimkehrende zum Bewußtsein dessen, was sie eigentlich mit ihrem Besuch bezweckt hatte.

Es wird ihn schmerzen, sagte sie zu sich, aber es wird ihn auch gehörig aufrütteln, und das wird ihm nicht schaden. 129

 


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