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Achtes Kapitel

Die Sugambria beriet eine Feier von Kaisers Geburtstag. Kossekel hatte, da er in Vorbereitungen zum Examen stand, das Amt des ersten Chargierten abgegeben, und dies war an Rose gekommen. Der leitete die Verhandlungen mit der ein wenig zur Schau getragenen Korrektheit eines höheren Beamten, ohne daß eine Beimischung von leicht gespielter Verdrossenheit gefehlt hätte, die manche Leute anlegen, um zu zeigen, daß sie über den von ihnen betriebenen Dingen zu stehen glauben. Man wollte den ersten Geburtstag des jungen Kaisers mit einigem Glanze begehen. Ein Kommers unter Beteiligung möglichst vieler alter Herren ward beschlossen, es sollte deshalb zeitig eingeladen und auch Rektor und Senat sollten aufgefordert werden.

Langsam füllte sich am Vorabend des 27. Januars der Saal der Deutschen Ressource.

An der Quertafel nahm das Präsidium Platz, in der Mitte Rose, neben ihm der erste Chargierte der Suevia, die mit der Sugambria im Kartell stand, dann abwechselnd die übrigen Chargierten, ein paar Stühle blieben leer. An den Längstafeln saßen links die Sugambrer, rechts die Sueven, alte Herren und Aktive durcheinander. Viele standen noch in lebhafter Unterhaltung: hier begrüßten aus der Provinz 109 herübergekommene, ergraute Altburschen lange nicht gesehene Studienfreunde, dort ging noch einer auf die Tribüne, wo die Couleurdamen saßen. Auch Fritz warf noch einen Blick hinauf zu seiner Mutter, die da neben Aline Platz genommen hatte. Da ertönte das Aufklappen des Schlägers auf den Holztisch, und Rose kommandierte mit lauter Stimme: » Ad loca!«

Fritz stellte sich zum erstenmal unter die Burschen. Man hatte ihm heute das Burschenband gegeben und ihm mit Rücksicht auf seine schon vorgerückten Semester den Rest der Fuchsenzeit erlassen. Nun stand man in langen Reihen an den Tafeln, während je zwei Chargierte der beiden Verbindungen den Prorektor und die Dekane in den Saal geleiteten. Sie wurden mit lebhafter studentischer Akklamation empfangen, und die Musik blies einen Tusch. Die Herren traten an den Quertisch, verneigten sich nach allen Seiten und nahmen dann zwischen den studentischen Würdenträgern Platz. Auch alles andere saß nun, und vor den Damen auf der Estrade lag das grau und hellblau gestreifte Feld der Mützen und Stürmer.

Jetzt stieg das erste Allgemeine. Eichrodts Lied vom deutschen Volk in der getragen schwungvollen Weise von Arndts Bundeslied:

»Singt mir das Lied vom deutschen Volke,
Vom Strom, der majestätisch rollt,
Den Hymnus von der Wetterwolke,
Vom Sturme, der in Bergen grollt; 110
Singt mir das Lied der höchsten Ehren,
Der Seelen feurigsten Akkord,
Das Heldenlied, das wir begehren,
Im Glockenton und Donnerwort.«

Mit mächtigem Hall erfüllte den weiten Raum der Gesang aus Hunderten von Kehlen. Nach dem Hin und Her der Begrüßungen sank Sammlung auf den großen Kreis hernieder, und taktfest schwoll der Kantus immer brausender empor:

»Was mir geträumt in besten Träumen,
Was wir in heißem Wunsch ersehnt,
Es schwebt nicht mehr in fernen Räumen,
Es lebt und wirkt, es strahlt und tönt;
Der Widersacher Spott zuschanden,
Erstritten unser heilig Gut,
Das Vaterland, nun ist's erstanden
Durch seiner Söhne Opfermut!«

Jetzt fiel das Lied:

»Mein Volk, mein Volk, du hast's errungen,
Du stehst in Heldengröße da,
Das starke Volk der Nibelungen,
Wie es der alte Erdkreis sah.
Ein Menschenborn, der jede Zone
Mit Lebensdrang und Geist erfüllt –
Laß leuchten deine Völkerkrone
Von nun auf ewig unverhüllt.« 111

Als der Gesang verklungen war, hob der Präside nicht gleich den Schläger – eine allgemeine Bewegung ging durch die Reihen, Fritz sah, wie Witte mit feuchten Augen einem seiner Nachbarn die Hand gab. Dann war der Bann gebrochen, und der Kommers ging weiter. Rose hielt die Rede auf den Kaiser in flüssigen Worten, die aber eingelernt klangen und nicht unmittelbar geworden. Dann sang man stehend: Heil dir im Siegerkranz. Nach der ersten Strophe setzten sich die meisten, der Rektor, wohl in dem Gefühl, hier nur ein Amt und keine Meinung zu haben, wollte es eben auch tun. Da tönte die Stentorstimme des alten Witte, und mit ihm sangen seine beiden Nachbarn und am Schwabentisch Professor Schuster:

»Nicht Roß und Reisige
Sichern die steile Höh',
Wo Fürsten stehn:
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Manns,
Gründet den Herrscherthron,
Wie Fels im Meer.«

Von den Aktiven stand nur Fritz und sang mit. Langsam erst erhoben sich alle andern und fielen unsicher ein. Der Oberregierungsrat von Danilewski stand mit gekniffenen Lippen stumm da und schaute auf sein Glas.

Kossekel, der mit sicherm Blick erkannte, daß die Situation rasch gerettet werden mußte, gab Rose einen Wink, und ehe noch das Rücken der Stühle beim 112 Niedersitzen verklungen war, ertönte ein donnerndes Silentium für ein Mitglied der Suevia, das auf Rektor und Senat toastete.

Der Rektor, ein alter Burschenschafter, erwiderte sofort. Er konnte sich's nicht versagen, mit einer ganz feinen, leisen Ironie, die den wenigsten zum Bewußtsein kam, von der aus den entlegenen Sturmjahren der Verbindungen bis auf die Gegenwart hinüber wirkenden Tradition zu sprechen.

Fritz hatte von seiner Mutter einen Wink bekommen und fand sie, als er hinaufkam, zum Fortgehen gerüstet. Er geleitete sie und Aline, die den Vater grüßen ließ, bis auf die Straße, wo sie mit einer ganzen Anzahl Damen gemeinsam den Heimweg durch den schönen, kalten Winterabend antraten. Als er den Vorraum des Saales durchschritt und sich eilte, um beim Gaudeamus, dessen Klänge ertönten, noch mitzutun, traf er auf Kossekel. Der faßte ihn unter den Arm und ging mit ihm den jetzt leeren Korridor auf und ab. Er sagte erst eine Weile gar nichts. Dann sah er zu Fritz, der etwas größer war als er, empor, seine klugen Augen hinter dem Kneifer hefteten sich eindringlich in Fritzens, und er begann: »Lieber Kerl, du weißt, daß ich dich sehr gern mag und dir immer die Stange gehalten habe, wenn's mal irgendwo haperte. Ich hab' dich auch als Leibbursch sehr anständig behandelt und immer darauf Rücksicht genommen, daß du kein blutjunger Fuchs mehr warst. Aber jetzt bist du bald zwei Semester bei uns. Wir haben dir ja – auch auf meinen Vorschlag – das erste für voll gerechnet, und nun bist 113 du Bursch. Jetzt weißt du doch, wie's bei uns ist, und darfst nicht immer so drauflostapfen. Du hast auf deiner ersten Mensur brillant gestanden. Neulich die Geschichte, wie du den Meyer abgeführt hast, war ja sehr gut. Aber es haben sich doch viele drüber aufgehalten, daß du überhaupt in solche Gesellschaft gehst.«

»Erlaube mal,« sagte Fritz sehr ernsthaft, »was heißt das: in solche Gesellschaft?«

Kossekel wiegte den Kopf.

»Schwer auszudrücken,« meinte er dann. »Aber schließlich russische Studenten mit einer Sie dazwischen –«

Fritz blieb stehen und legte dem andern die Hand auf den Arm.

»Fräulein Natja Lubakow,« sagte er, jede Silbe betonend, »verkehrt im Hause meiner Mutter und bei unserm Alten Herrn Witte. Ich möchte dich bei aller Anerkennung deiner Freundlichkeit bitten, jede Bemerkung über die junge Dame zu unterlassen. Und wenn ein andrer, mit dem ich nicht so stehe wie mit dir –«

Kossekel legte nun seine freie Hand auf Fritzens andern Arm, so daß sie sich fast Brust an Brust gegenüberstanden, fiel ihm ins Wort und sagte mit seiner bierehrlichen Stimme, die immer etwas Beruhigendes hatte: »Immer sachte mit die jungen Pferde. So böse hat das keiner gemeint, und mit dem, was du mir über die junge Dame erzählst, ist die Geschichte für mich erledigt. Aber glaubst du, daß heute bei der Hymne deine Position in der Verbindung sich gerade glänzend verbessert hat?« 114

Sie hatten sich losgelassen und gingen nun wieder auf und ab, sprachen auch leiser, weil drinnen das Lied verklungen war und sie den Vorsaal nicht mehr für sich allein hatten.

»Ich befand mich doch dabei in der besten Gesellschaft. Du wirst gesehen haben, daß Witte und Schuster und noch ein paar von den ältesten Semestern ostentativ stehen blieben und weiter sangen.«

Kossekel machte eine Handbewegung, die alles mögliche bedeuten konnte; ihm schwebte Danilewskis verkniffenes Gesicht vor und das sichtliche Unbehagen der großen Mehrheit.

»Na, du wirst ja sehen,« sagte er dann. »Alles gut und schön, aber was heute nicht mehr paßt, paßt eben nicht mehr. Ich wollte dir nur sagen: suche deine Stellung zu festigen, halte dich zurück, fall' nicht immer auf. Was geht dich denn zum Deubel« – fuhr es ihm jetzt lebhaft heraus – »die Politik und all das Zeug an?«

»Ja, wenn es mich jetzt nichts angehen soll, wann denn? Ich werde nächstens einundzwanzig. Im nächsten Jahre werde ich exmatrikuliert. Ich bitte dich, wie alt muß man denn werden, um sich als erwachsener Mensch zu betrachten? Ich habe nicht Lust, später, wenn's heißt, politisch Farbe bekennen, was doch jedes Mannes verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, nur der Hammel in der großen Herde zu sein. Tut mir leid, wenn ich damit anstoße, – das kann ich und werde ich nicht ändern.«

Kossekel wiegte den Kopf und machte bedauernd: »Te te te.« Dann klopfte er Fritz auf die Schulter und 115 sagte: »Schließlich muß jeder seine Suppe allein ausessen. Ich habe getan, was mir nötig schien, mehr kann ich nicht.«

Fritz sah ihn an und sprach: »Ich danke dir, ich danke dir sehr.«

Und sie betraten wieder den Saal.

Kaum daß die Fidelitas eingesetzt hatte, ging Fritz fort; er wollte allein sein. Er schritt durch die windstille, kalte Nachtluft dem Königstor zu, durch das Tor auf der Landstraße weiter. Dabei wurde ihm frei und leicht, als er sich nun draußen fand, fern den Häusern zwischen kahlen Bäumen, endlich, als die Kirchhöfe, von denen hier und da ein Kreuz schattenhaft auftauchte, hinter ihm lagen, ganz auf der freien Ebene. Er schritt rüstig aus, blieb stehen, ging weiter und kehrte schließlich langsam um.

Er prüfte sich, wie ihm schien, schonungslos, aber er konnte nichts finden, was ihn zu einer Änderung seines Benehmens innerhalb der Verbindung nötigen mochte. Er nahm sich vor, besonders höflich und zuvorkommend zu sein – überall da aber, wo seine Überzeugungen ins Spiel kamen, diese so wenig zu verstecken, wie er das bisher getan hatte.

Unter solchen Gedanken hatte er das Tor wieder erreicht, er klopfte herzhaft mit dem Stock auf die hölzerne Dielung der Brücke, daß es von den Wällen her widerhallte, und durchschritt die Wölbung. Totenstill lag die Königstraße, eben schlug es von irgendeinem Turm her Mitternacht. An einem und dem andern Hause flatterte eine schon für den morgigen Tag ausgehängte Fahne 116 leicht hin und her, wenn ein stärkerer Lufthauch sie traf; jetzt tönten die Schritte der Ablösung, der Posten am Tore wurde gewechselt, der neue schulterte das Gewehr bequemer und ging in seinem weiten Mantel langsam auf und ab. Die Schritte der Abziehenden erklangen, und Fritz setzte seinen Weg fort. Er mochte jetzt nicht etwa heimkehrende Kommersteilnehmer treffen und bog deshalb linker Hand ab durch eine schmale Gasse, machte dann wieder rechtsum und ging geradeaus. Er pfiff, wie er's gern tat, unter willkürlicher Veränderung des Taktes, daß er zu seinem Marsch paßte, das Lohengrin-Motiv: Nie sollst du mich befragen. Da war's ihm, als ob die Melodie irgendwo aufgenommen würde, er brach ab, und richtig tönte es auf der andern Straßenseite ganz im gleichen falschen Takt wieder mit hellem Pfeifen: Nie sollst du mich befragen, noch wissend Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam' und Art.

Fritz ließ den andern zu Ende pfeifen und rief dann hinüber: »Hermann!«

Es war wirklich der Freund, der in dieser Gegend wohnte. Sie kamen sich von beiden Seiten der Straße entgegen, und zunächst begleitete Hermann Fritz ein Stück, dann ging der wieder mit ihm zurück, und so schritten sie in der stillen Nacht die stille Straße auf und ab. Sie hatten sich zufällig einige Tage nicht gesehen und einander manches zu erzählen. Hermann war überdies bereits mitten in der ersten Prüfung und hatte demnächst seine schriftliche Arbeit abzuliefern. 117

Sie waren schon im Begriff, sich zu trennen, als Hermann plötzlich einen russischen Satz sagte.

Friedrich fragte erstaunt: »Wie?«

Und Hermann wiederholte langsam das Gesagte und fragte dann deutsch: »Ist es nicht ganz richtig?«

»Ja,« sagte Fritz erstaunt, »woher kannst du das?«

»Ich nehme Stunden bei Fräulein Natja,« erwiderte Hermann.

Als Fritz nichts sagte, sah ihn Hermann etwas verwundert an; doch da sprach Fritz schon mit ein wenig engem Ton: »Seit wann denn? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Seit acht Tagen,« gab Hermann zur Antwort. »Wir haben uns ja auch schon seit dem fünfzehnten, wenn ich nicht irre, nicht gesehen.«

»So, so,« sagte Fritz. Und dann etwas gezwungen: »Wie gefallen dir denn die Stunden?«

»Ausgezeichnet,« meinte Hermann. »Sie hat ja im Grunde keine Methode, aber ein gewisses natürliches Geschick. Übrigens ist sie ein tapferes kleines Frauenzimmer.«

»Ja, das ist sie wirklich,« sagte Fritz jetzt ganz warm. »Sie nimmt auch von meiner Mutter nichts an, was über eine landläufige Einladung hinausginge. Dabei geht sie in ihrem dünnen Mäntelchen einher.«

»Wie steht sie eigentlich mit Aline Witte?« fragte Hermann ganz wie beiläufig und doch mit einer gewissen Spannung, die dem versonnen blickenden Fritz entging.

»Mit Aline,« sagte der langsam, »ich weiß nicht 118 recht. Sie scheinen noch nicht ordentlich warm miteinander geworden zu sein.«

Sie waren während dieses Gespräches wieder ein gut Stück fortgeschritten und vernahmen jetzt fast über ihren Köpfen den Schlag der Turmuhr von der Sackheimer Kirche; sie lauschten – es war die erste Stunde.

Hermann gähnte.

»Mensch, ich hab' morgen zu arbeiten. Spätestens Mitte März hab' ich Termin. Auf Wiedersehen.«

Sie reichten sich die Hände und gingen nach verschiedenen Richtungen auseinander. Fritz suchte seinen Weg durch Gassen und Gäßchen, bis er fast unvermuteterweise am Pregel stand, er schritt das Bollwerk entlang und hörte dem Wasser zu, das eine dünne Eiskruste, die sich an den Rändern gebildet hatte, in leichter Bewegung hin und her schob, abbröckelte, daß es klang, wie wenn leichtes Glas in Stücke ginge. Er bog durch einen alten Torweg auf einen weiten Marktplatz und ging dann am Schloß entlang den Berg empor. Auf dem Schloßplatz war noch einiges Leben, Nachtschwärmer kehrten heim, er sah von weitem ein paar Verbindungsbrüder, die wohl noch einem Kaffeehaus zustrebten. Langsam ging er weiter, und immer noch klang das letzte in ihm nach, was zwischen Sander und ihm besprochen worden war. Immer wieder schaute er die beiden Mädchengestalten vor sich, wie sie damals am Tische seiner Mutter nebeneinander gestanden hatten. Er fand sich plötzlich vor Alines Haus, der alte Witte mußte eben erst nach Hause gekommen sein, denn oben war ein Fenster hell. Und wirklich sah er 119 plötzlich den Schatten des alten Herrn auftauchen und jetzt neben ihm die schlanken Umrisse von Alines Gestalt.

Er stand einen Augenblick und sah hinauf. Jetzt ward es dunkel, die beiden waren vermutlich in die nach hinten gelegenen Schlafzimmer hinübergegangen. Da schritt auch er nach Hause und fand nach dem langen Gang, dessen Ermüdung er jetzt erst spürte, bald Ruhe und Schlaf. 120

 


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