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Zehntes Kapitel

Der größte Hörsaal der Berliner Universität war bereits zur Hälfte gefüllt, als Fritz ihn eine Viertelstunde vor Beginn der Vorlesung betrat. Reihenweise saßen Studenten und zwischen ihnen alte Herren, denen man die Last eines hohen Staatsamts oder die Muße eines den Studien gewidmeten Alters ansah, vor dem Katheder. Er zählte auch mindestens zwei Dutzend jüngerer Offiziere in Uniform, und unablässig strömte durch die Tür eine Schar von Kommilitonen, die nach dem Schluß andrer Vorlesungen von allen Ecken des weiten Gebäudes hierher zusammenfloß. Atemlos stürzten Mediziner herein, die halb laufend den Weg von den Kliniken und den Instituten zurückgelegt hatten, und längst vor dem akademischen Viertel war der tiefe Saal voll gefüllt. Neben und hinter den Bänken standen viele, die keinen Sitzplatz mehr hatten bekommen können. Lebhafte Unterhaltungen wurden ausgetauscht, und um das in dieser Mannigfaltigkeit noch nicht gesehene Gewirr eines akademischen Hörsaals ganz auszukosten, trat Fritz aus der Bank und stellte sich an die Seite, so den vollen Blick zu gewinnen – schon war sein Sitzplatz von einem andern eingenommen. Hier und da zog ein jüngeres Semester die Uhr, Viertel war bereits vorbei, es wurde sehr warm in dem 130 von Gasflammen erhellten Raum, jetzt zeigte die Uhr zwanzig Minuten nach sechs, es wurde leiser, im nächsten Augenblick sah man draußen die Mütze des Pedellen auftauchen, der die Tür aufriß – und nun betrat eine riesige Gestalt, breitschultrig, von starkem Körperbau, das Katheder. Ein betäubendes Trampeln, an dem offenbar alles teilnahm, ging durch den Raum. Aber ohne es zu beachten, hatte der Mann auf dem Rednerpult mit einem heißen Blick der dunklen Augen die Menge überfliegend, schon begonnen, ein paar Blätter, in die er einstweilen keinen Blick warf, aus der Brusttasche genommen, und indem er noch die Handschuhe abzog, ging die Rede schon weiter. Atemloses Schweigen ringsumher.

Fritz hatte zunächst nur die Gestalt, die er noch nicht gesehen hatte, mit den Augen umfaßt, den mächtigen Kopf, der so sicher und fest auf gewaltigen Schultern stand – von der Rede hatte er noch nichts verstanden, sie klang ihm zuerst wie eine fremde Sprache, deren Tonfall nicht zu enträtseln war. Mit einer unbewußten Bewegung legte er beide Hände hinter die Ohren, beugte sich etwas vor, um den Schall, der noch dazu von den Wänden unschön zurückgeworfen wurde, ganz in sich aufzunehmen, und nun endlich, aufatmend, verstand er, was Heinrich von Treitschke sprach.

»Der moderne Mensch,« sagte er eben, »muß, um die Majestät des Staats zu verstehen, aus einer ganzen Reihe von anerzogenen Anschauungen heraustreten. Was man heute politische Ansichten nennt, ist meist nur der Ausdruck wirtschaftlicher und sozialer Interessen. 131 Nur im Kriege tritt die Politik unmittelbar an uns heran, im friedlichen Ruheleben denken die meisten wenig an den Staat und sind deshalb gern geneigt, ihn zu unterschätzen.«

Mit leuchtenden Augen, mit gespannten Sinnen lauschte Fritz. Wie ein tiefes Glück trank er die Stunde in sich ein, da er endlich dem heiß verehrten Manne lauschen durfte, den, wie er ja wußte, sein Vater im Herzen getragen hatte. Jeder dieser runden, schönen, klassisch geprägten Sätze kam hier ungestüm, von der falschen Atemgebung des tauben Mannes zerhackt, zerrissen heraus und wirkte dennoch mit noch ganz andrer Gewalt als auf bedruckten Blättern. Hier sprach kein falsches Pathos, sondern hier fand das alte griechische Wort seine wirkliche Bedeutung des Leidens, der Leidenschaft, die mit allen Fibern und Fasern dem Staat, dem Volk, dem Vaterland und seinen Geschicken zugewandt war, die mitbebte, wenn der große Organismus, dessen Teil sie war, erschüttert wurde. Alle bange Ahnung, alle schwüle Stimmung dieser Frühlingstage lag auf Treitschkes Worten. Die beginnende Entfremdung zwischen dem Kaiser und dem Kanzler warf ihre Schatten über das deutsche Leben, wurde von keinem so haarscharf bis in die feinsten Schwingungen nachempfunden wie von diesem, der, des Gehörs beraubt, doch, wie kein andrer mit vollen Sinnen, den Herztakt der Nation bis in die letzten Untertöne vernahm, mitempfand und rücksichtslos nachsprach, nachsprach mit Worten, die kein andrer neben ihm gefunden hätte.

Alles war im Bann, und dennoch wurde kaum, wie 132 in andern Vorlesungen, ein Laut des Beifalls zwischen den Worten dargebracht – man wußte, daß man da verlor, weil der Lehrer drüber wegsprach, unaufgehalten, wie er über das Ende der Stunde, das freilich keiner der hingegebenen Zuhörer bereits herannahen fühlte, hinaussprach, bis sein heutiges Thema erschöpft war.

Und also schloß Heinrich von Treitschke heute: »Nichts kann verkehrter sein als die Anschauung, daß die Staatsgesetze etwas künstlich Erzwungenes wären gegenüber einem Naturrecht. Ultramontane und Jakobiner gehen beide von dem Standpunkt aus, daß die Gesetzgebung des modernen Staats ein Werk des sündigen Fleisches sei. Es zeigt sich hier nur der völlige Mangel an Ehrfurcht vor dem nach außen gerichteten Gotteswillen, der sich im Staatsleben offenbart.

Fassen wir die Entwicklung des Staats als etwas innerlich Notwendiges auf, so leugnen wir damit nicht die Macht des Genies, des lebendigen Willens in der Geschichte. Denn es ist das Wesen des historischen Genies, national zu sein. Einen geschichtlichen Helden, der nicht national gewesen wäre, hat es nie gegeben.«

Es schien, als ob er noch etwas sagen wollte. Schon hatte er, wie er es gewohnt war, die Rechte in einer jener eindringlichen Bewegungen erhoben, mit denen er seinen Vortrag begleitete. Da ließ er sie wieder sinken, daß sie hart auf das Katheder fiel, und brach ab. Er empfand wohl, daß er seinen Hörern, denen er ja nicht nur Lehrer, sondern auch Erzieher sein wollte, 133 am Beginn dieses sich mit Schicksalsschwere ankündigenden Sommers nichts Besseres sagen konnte.

Sie hatten ihn verstanden. Nun erscholl ein immer neu anschwellender Beifallssturm, und ganz wider akademischen Brauch klatschten die Offiziere und klatschte nun alles mit hocherhobenen Händen mit, um so zu zeigen, was der Schwerhörige nicht hören konnte.

Treitschke hatte sich gesetzt, und ohne einen weitern Blick ins Gedränge, begann er zu testieren. Eine lange Kette von Studenten bildete sich, die ihm Mann für Mann ihre Kolleghefte vorlegten. Fritz war einer der letzten, der die nach hundert Unterschriften kaum mehr leserlichen Züge in seinem Heft davontrug. Vorsichtig ging er mit der noch nicht trockenen Unterschrift die Treppe herunter, immer noch ganz gepackt, und stand erst im Vorgarten aufatmend still.

Dann trug er seine erregten Gedanken durch das Gewühl der Straßen. Er hatte Berlin auf Ferienreisen mit der Mutter gelegentlich berührt, aber noch nie längere Zeit in der Stadt zugebracht, in deren abendlichen Menschenstrom er nun untertauchte. Das mannigfaltige Leben, das hier bis in entlegene Gegenden herrschte, war ihm wohl bewußt geworden, aber jetzt erst meinte er den tieferen Rhythmus dieses Hin- und Herwogens zu fühlen, den rascheren Puls, der hier in der Stadt großer Entfernungen, lebhaftester Arbeit alles zu ergreifen schien. Er ließ sich tragen, an hellen Schaufenstern vorbei, durch Menschenwellen, die in Theater strömten, schließlich an die stillen Ufer des Kanals hin bis vor das Haus, in dem er wohnte. Noch 134 einmal atmete er die milde Frühlingsluft des Apriltages ein, dann stieg er die drei Treppen hinauf, schloß auf und ging über den leeren Vorplatz in sein Zimmer. Er zündete die Lampe an. Da standen auf dem Schreibtisch an der gewohnten Stelle die Photographie des Vaters in der Uniform und die der Mutter, vor ihnen lag ein während seiner Abwesenheit angekommener Brief. Er setzte sich und las:

Königsberg, den 24. April 1889.

»Mein lieber Fritz!

Den angekündigten langen Brief habe ich erhalten und mit Vergnügen gelesen. Es freut mich, daß Du eine Wohnung recht nach Deinen Wünschen gefunden hast, nicht ganz ohne Blick ins Grüne. Nun werden ja die Vorlesungen auch bereits begonnen haben, und ich denke mir, daß Du Dich dann rasch einleben wirst.

Gestern war ich wie gewöhnlich bei Wittes, die Dich herzlich grüßen lassen, Hermann, der junge Referendar, war auch da, Natja ist gestern nach Petersburg abgereist.

Wir haben uns ja hier nie ganz ausgesprochen, und ich habe Dich mit voller Absicht nicht dazu aufgefordert, weil solche Auseinandersetzungen erst in dem Augenblick am Platze sind, wo sie ordnen und heilen, während sie im unrechten Moment auch bei besten gegenseitigen Absichten, selbst zwischen Mutter und Sohn, verstimmen können, ohne etwas zu nützen. So 135 habe ich denn Deinen Entschluß, nach Berlin zu gehen, den Du so rasch faßtest, ohne viel Worte gebilligt und billige ihn auch noch. Ja, ich verspreche mir viel von Deinem Aufenthalt dort und sehe jetzt eigentlich ein, daß ich Dich schon früher hätte dazu anregen sollen, ein Semester fern von Königsberg zuzubringen.

Du wirst empfunden haben, daß keiner Dir hat wehtun wollen, und ich denke, Dein langes Gespräch mit Hermann wird so verlaufen sein, daß Eure Freundschaft jetzt nur noch fester ist – so deutete ich mir wenigstens seinen Händedruck und die Art, wie er von Dir sprach.

Dir ist das große Glück geworden, Dich in Jahren fürs Leben zu entscheiden, da andre noch irrlichterieren und ohne Gedanken an die Zukunft umhergehen. Ich nenne es deshalb ein großes Glück, weil ich Dich für ernsthaft genug halte, richtig zu wählen, und ich weiß, daß das, was Dir einmal zufallen wird, und worüber Du Dich ja noch nie mit Worten ausgesprochen hast, manchen Einsatz wert ist. So wirst Du vielleicht jetzt, was dazwischen gekommen ist, nicht mehr so schwer nehmen, und das ist gut, zumal da die Lösung für alle Beteiligten erfreulich war und nach einer Weile eine Aufnahme der alten, herzlichen Beziehungen in voller Unbefangenheit zwischen Euch allen mit Sicherheit zu erwarten ist.

Was eine Mutter im stillen um ihre Kinder aushalten muß, weiß nur eine Mutter, und nur in einer solchen Stunde wie dieser soll sie ihren Kindern gegenüber davon sprechen. Ich habe Dich allein erziehen 136 müssen, da Dein geliebter Vater so früh von mir ging, und ich darf Dir, ohne Dich eitel zu machen, sagen, daß Du es mir nie schwer gemacht hast. So denke ich, daß Du mich auch in diesen Tagen, wo ich Dir Schmerzen zu bereiten schien, die Du Dir doch selbst zugefügt hattest, ganz verstanden hast, und daß Du heute vielleicht bewußter als je, zum erstenmal für längere Zeit von mir getrennt, Dir dessen inne bist, daß niemand. niemand, Fritz, Dich wärmer liebt und Dich besser kennt als

Deine Mutter.«

In der gehobenen Stimmung, die ihn noch immer durchglühte, empfand Fritz diesen Brief wie ein Geschenk, er las sich selbst an ihm klar. Und nun erst fand er den Mut, ein Bildnis Alines, das er aus den Sommertagen des vorigen Jahres bewahrte, aus der Schreibtischlade zu nehmen und aufzustellen, gerade neben dem der Mutter. Er nahm das kleine, schmale Bildchen, das die fragwürdige Kunst des Saisonphotographen immerhin noch freundlich genug gestaltet hatte, noch einmal in die Hand und umfaßte mit warmen Blicken die schlanke Gestalt, die da mit der leichten Strandmütze vor der niedrigen Düne stand, in deren Schutz das Bild aufgenommen war. 137

 


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