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Drittes Kapitel

Fritz fuhr aus leichtem Schlummer empor und stieß mit dem Kopf gegen das Rückenpolster. Die Tür des Abteils war geöffnet worden, und jemand hatte etwas hineingerufen. Indem er bemüht war, sich zurechtzufinden, vernahm er vom Bahnsteig her immer wieder deutlich den Ruf: Eydtkuhnen, Eydtkuhnen. Er holte sein Gepäck aus den Netzen und legte es auf die Bänke, da niemand außer ihm im Coupé war. Nach wenigen Minuten ging es weiter, der Lichtschein des Bahnhofs verlosch, hier und da nur blitzte ein Signallicht auf, dann wurde es wieder ganz hell, der Zug hielt aufs neue, und ehe Fritz noch sich irgendwie hatte umsehen können, waren zwei untersetzte Gestalten mit dunklen Mützen und weißen Schürzen die Trittbretter emporgeklettert, hatten sein Gepäck an sich gerissen, und er hatte Mühe, ihnen durch das Gewühl in einen riesigen Saal zu folgen, um den eine breite, schmutzige Bank lief. Innerhalb des Bankovals stand eine Anzahl ähnlicher Gestalten wie die, die jetzt seine Koffer niederließen, und zahlreiche Beamte in verschiedenen Uniformen. Eben verschwand ein Gendarmerieoffizier mit den am Eingang abgenommenen Pässen in einem kleinen Nebenraum, indes von der Tür her die Reisenden sich durch den ganzen großen Raum rings um die 49 Zollbank verteilten. Hochelegante Gestalten, gegen die kaum spürbare Herbstkühle durch kostbare Pelze verwahrt, standen neben einfachen Reisenden, Frauen mit bunten Kopftüchern, ein paar Bauern in hohen Filzstiefeln, und überall tauchten Juden mit langen Bärten und Locken im Kaftanrock auf und schleppten mit Hilfe der Träger ihre Säcke und Kasten zur Verzollung. Fritz mußte lange warten, bis einer der von Platz zu Platz gehenden Revisoren auch an ihn kam, er mußte seine Koffer öffnen, und alles wurde genau geprüft und dann, da er nichts Zollpflichtiges hatte, jeder Koffer mit einem Kreidezeichen versehen. An einer andern Ecke wurden die Pässe aufgerufen; er erhielt endlich den seinen und trat nun durch eine Tür an der entgegengesetzten Seite über einen langen Gang in den Wartesaal. Im Gegensatz zu der freudlosen Öde der Zollkammer, die nur ein kleines Heiligenbild mit einem brennenden Lämpchen und ein großes Öldruckbild des Zaren Alexander geschmückt hatten, war es hier außerordentlich behaglich. Der große Ofen war offenbar geheizt, eine kaum übersehbare Zahl von Tischen gedeckt, und an der breiten Rückwand standen mehrere Büfetts mit einer reichen Auswahl von Speisen, dampfenden Teemaschinen, Früchten, Kuchen.

Fritz nahm Platz, bestellte sich etwas zu essen und sah aufmerksam in das fremdartige Getriebe. An einer langen Tafel saßen wohl zwei Dutzend Offiziere, es wurde scharf gezecht und, wie Fritz mit Staunen sah, an allen Ecken zwischen zwei Platten geraucht. Kam dann der neue Gang, so flog die Zigarette halb 50 angeraucht auf die Diele. An einigen andern Tischen wurde deutsch gesprochen: er erkannte Physiognomien, die ihm von Königsberg her nicht fremd waren, vernahm dann wieder einen scharfen Akzent, den er kaum je gehört hatte.

Nach einer Weile näherte sich in demütiger Haltung, die Mütze in der Hand, der eine seiner Kofferträger und wollte ihn offenbar bedeuten, daß sein Gepäck eingeräumt sei. Er löste eine Fahrkarte und bestieg den russischen Zug. Als er von dem Seitengang des Wagens aus ein Abteil betrat, erkannte er in dem undeutlichen Licht der einzigen Stearinkerze, die über dem Fenster angebracht war, seine Koffer und verabschiedete den Mann. Nach einer ganzen Weile setzte sich der Zug langsam in Bewegung und fuhr mit sehr viel geringerer Geschwindigkeit als der deutsche in die Nacht hinein. Fritz versuchte durch die doppelten Scheiben etwas zu erkennen, gab dies aber bald auf und war auf den breiten, bequemen Polstern nach wenigen Minuten eingeschlafen. Am Morgen erwacht, fröstelnd, lief er den Seitengang auf und ab und sah nun in die Landschaft hinaus, die ihm öde genug erschien. Fast überall schlecht angebautes Land, morastige Wege, nichts, was sich einer wirklichen Chaussee vergleichen ließ. Ab und zu ein Dorf mit hölzernen Hütten, dazwischen eine grün gekuppelte Kirche. An den großen Stationen immer dasselbe Bild, Bauern mit verwahrlosten Bärten in hohen Filzstiefeln, Männer und Weiber in den gleichen graubraunen Stoff gehüllt und mit verständnislosen Augen den Zug anstarrend. 51 Dazwischen Juden in großer Zahl, in lebhafterem Hin und Her.

Als er nach dem Mittagessen auf einem großen Haltepunkt wieder in sein Abteil zurückkehrte, fand er drei Personen darin. Einen jungen Mann in blauer Uniform mit silbernen Knöpfen, einen andern in ziemlich schäbigem Reiseanzug und ein junges Mädchen in losem, schwarzem Kleid. Sie hatte ihren Hut abgenommen und auf den Schoß gelegt, so daß man ihr zu einem schlichten Knoten gedrehtes braunes Haar sehen konnte.

Die drei ließen sich durch ihn in ihrer lebhaften russischen Unterhaltung nicht stören, ja, als der nicht uniformierte junge Mann einmal besonders laut wurde und das junge Mädchen warnend eine Hand hob, unterbrach der andre sie und sagte etwas, was offenbar bedeutete, der Fremde verstände kein Russisch, und sie brauchten keine Sorge zu haben.

Fritz holte ein Buch aus seiner Handtasche und las einige Seiten, als das Gespräch plötzlich abbrach und er aufsehen mußte unter dem Gefühl, scharf beobachtet zu sein. Als er die Augen hob, sah er in der Tat, wie alle drei ihn unverwandt anblickten. Sie bemühten sich auch gar nicht, dies zu verbergen, und der nicht uniformierte junge Mann sagte jetzt deutsch, langsam, aber ganz richtig, mit unverkennbarer russischer Aussprache: »Verzeihen Sie, mein Herr, Sie haben da eine politische Schrift. Wie sind Sie damit über die Grenze gekommen? Wissen Sie nicht, daß das Buch in Rußland verboten ist?« 52

»Verboten? Ich habe keine Ahnung davon. Das ist ja ein ganz altes Werk. Ich hatte es (er wies nach oben) in dieser kleinen Tasche, und die hat der Beamte an der Grenze durchgesehen.«

Jetzt lachte der Uniformierte wie toll.

»Das Rindvieh hat natürlich nicht deutsch lesen können.«

Das Lachen steckte an, und alle fielen ein, das junge Mädchen mit einem dunkeln, ein wenig weichen Ton, der andre junge Mann, der Fritz angeredet hatte, mit spürbar bittrem Nachklang.

»Ich rate Ihnen aber doch, das Buch hier wegzustecken,« sagte jetzt das junge Mädchen, »man weiß in Rußland nie, was passiert.«

Die Unterhaltung, die einmal in Gang gekommen war, brach nicht wieder ab. Sie erstreckte sich freilich nur auf gleichgültige Dinge, die Gegend, diese oder jene Sehenswürdigkeit Petersburgs, dem sie nun immer näher kamen. So oft Fritz auf ein allgemeineres Gebiet lenken wollte, russische Verhältnisse oder irgend etwas Politisches zu streifen begann, lenkten die andern die Bahn des Gesprächs so merklich ab, daß er sich schließlich fügte und in dem leichten Fahrwasser blieb.

Es stellte sich heraus, daß die Uniform des jungen Mannes die eines Studenten der Rechte war, so daß Fritz nicht umhin konnte, sich als Fakultätsgenossen vorzustellen. Der andre junge Mann war ein Apotheker, der in Petersburg in Stellung war, das junge Mädchen studierte gleichfalls in der Hauptstadt.

Der Abend war völlig hereingebrochen, da begann 53 im Zuge eine lebhaftere Bewegung, immer mehr Lichter tauchten zu beiden Seiten auf, und nun erhoben sich auch Fritzens Reisegefährten, und alle vier machten ihr Gepäck fertig. Der eine fragte Fritz höflich, ob er ihm in Petersburg behilflich sein könnte. Fritz sagte jedoch, daß er von seinen Verwandten auf dem Bahnhof erwartet werden würde. Als der Zug bereits in den Bahnhof fuhr und die drei Russen vor Fritz das Abteil verließen, warf der Student hin, er wäre meist gegen eins bei Dominique. Ehe aber Fritz noch erfragen konnte, wo das wäre, hatten andre Fahrgäste und hereinstürmende Gepäckträger die Gesellschaft getrennt.

Als Fritz auf den Bahnsteig herniederstieg, sah er fast unmittelbar vor sich seinen Oheim stehen. Er ging auf den großen, blondbärtigen Herrn, der sich noch suchend umsah, zu und begrüßte ihn. Nach den ersten eiligen Fragen winkte er einem hinter ihm stehenden Diener, der Fritz das Gepäck abnahm, und nun strebten sie durch das Bahnhofsgewühl der Straße zu. Es schien Fritz, daß er nie eine solche Anzahl von Gefährten allerart beisammen gesehen hätte, wie sie vor dem Bahnhof im Schmutz der Straße standen. Die Kutscher riefen und schrien durcheinander, Gepäckträger und Schutzleute riefen dazwischen, der Onkel hatte aber Fritzens Arm fest gepackt und führte ihn mitten zwischen den gestikulierenden Leuten hindurch zu einer Equipage, die sie aufnahm und von dem Kutscher, einem Russen in breitem, wattiertem Mantel, mit großer Sicherheit zur Straße gelenkt wurde, auf der es nun in raschestem Trabe dahinging. Sie fuhren eine breite, hell 54 erleuchtete Allee hinab, kamen dann durch schmalere und dunklere Straßen, bis sie plötzlich wieder in das grelle Licht einer Avenue einbogen, wie sie Fritz von solcher Breite noch nie gesehen hatte. Auf dem Fahrdamm konnten wohl zehn Wagenreihen nebeneinander fahren, und nun ließ der Kutscher, der in den Nebenstraßen etwas eingehalten hatte, den Pferden die Leine lang, und in raschester Gangart ging es ziemlich in der Mitte der Straße geradeaus. »Der Newskijprospekt,« erklärte der Onkel. Man fuhr über eine Brücke, an einem rötlichen Palais vorbei, über einen weiten Platz, dann durch ein Tor zwischen zwei Häusern und hielt endlich in einer schmalen, von sehr hohen Gebäuden begrenzten Straße.

»Da wären wir,« sagte der Onkel in seinem harten Deutsch.

Sie stiegen aus, traten an einem sich tief verbeugenden Mann in schmierigem Pelz, der die Haustür aufhielt, vorbei in den marmornen Treppenflur und gingen dann eine breite Stiege hinauf bis zum ersten Stock, wo Fritz auf einem Messingschild in russischen Lettern den Namen seiner Verwandten sah. Er fuhr mit dem Finger von Buchstabe zu Buchstabe und lautierte: » R-o-o-s-s.«

»Richtig gelesen,« sagte der Onkel; und indem tat sich die Wohnungstür aus, und eine helle Stimme rief von innen in durchaus ostpreußischen Lauten: »Das war aber schwer, nicht wahr, Fritzchen?«

Die kleine, lebhafte Frau reckte sich an Fritz empor, küßte ihn gehörig ab und ließ ihn kaum von der Hand, 55 während er Mantel und Hut ablegte. Dann führte sie ihn in ein großes Zimmer und hier zunächst unter die Lampe, betrachtete ihn um und um, schlug in die Hände und rief: »Jungchen, was bist du nur in den fünf Jahren groß geworden.«

Die Augen wurden ihr feucht, als sie sagte: »Augen und Stirn hast du von der Mutter, aber sonst gleichst du ganz deinem Vater.«

Fritz sah unterdessen, daß seines Vaters Bild gerade auf dem Tisch unmittelbar vor ihm stand, und küßte mit instinktiver Bewegung der Tante die Hand.

Nach einer Viertelstunde saßen die drei um den Teetisch. Frau von Rooß bereitete dem Neffen eigenhändig ein Glas Tee, der Oheim versorgte ihn mit allerlei Eßbarem, und während sie ihn zum Zugreifen nötigten, verlangten sie gleichzeitig unausgesetzt, daß er erzählen sollte. Die Tante kam vom Hundertsten ins Tausendste, und der Onkel warf zwischen ihre flink einherkommenden Fragen ruhigere Erkundigungen, so daß Fritz schließlich aufatmend sich im Stuhl zurücklehnte und aus vollem Herzen lachte.

Da lachten die beiden mit, und jetzt beschuldigte einer den andern, daß sie Fritz nicht zum Essen kommen ließen; der Baron zwang seine Gattin, stillzusitzen, er selber rührte in seinem Tee, und beide begnügten sich damit, eine Weile zuzusehen, wie es Fritz schmeckte.

Dann schob dieser Teller und Glas von sich, legte seine Serviette zusammen, machte eine feierliche Verneigung im Sitzen und sagte: »Jetzt stehe ich zur Verfügung.« 56

Das erste, was der Onkel fragte, war: »Du rauchst doch?« und nach Fritzens Bejahung nahm er seine Frau unter den einen, den Neffen unter den andern Arm, führte sie durch die vom Diener geöffnete Flügeltür in ein rings mit Büchern bestelltes zweites großes Gemach, holte mit förmlicher Verbeugung die Erlaubnis der Hausfrau ein, gab Fritz eine Zigarre und brannte sich selbst eine an. Drei Lederstühle wurden um einen runden Tisch in einer Ecke gerückt, und nun mußte Fritz wirklich erzählen.

Die Verwandten hatten sich lange nicht gesehen. Baron Rooß hatte seine Frau kennengelernt, als er vor fünfzehn Jahren beim russischen Konsulat in Königsberg gearbeitet hatte, als junge Eheleute hatten sie in Paris gelebt, dann eine Weile in Amerika, wo er Konsul gewesen war. Vor fünf Jahren hatte Rooß den Abschied genommen, war damals zum letztenmal mit seiner Frau in Königsberg gewesen, sie hatten sich dann bald auf ihrem Gut in Kurland, bald auf Reisen im Orient aufgehalten und waren nun zum erstenmal seit längerer Zeit in ihrer Petersburger Stadtwohnung eingekehrt.

Es gab also auf beiden Seiten viel zu berichten, insbesondere die Tante konnte nicht genug Kleines und Kleinstes aus der Heimat hören, schloß aber immer wieder mit der Beteuerung, sie werde schon dafür sorgen, daß es Fritz in Petersburg gefallen solle. Sie wollte schon ein Tagesprogramm für die Wochen machen, die Fritz hier zu verbringen vorhatte, der Baron unterbrach sie aber und sagte: »Anna, warum willst du dir 57 die Mühe machen? Du stößt ja doch morgen alles wieder um. Lassen wir's doch darauf ankommen.«

Frau Anna war rot geworden, was der noch sehr jugendlichen Frau gut stand, rüttelte ihren Mann bei den Haaren und sagte dann zu Fritz: »Siehst du, so ist er. Also machen wir kein Programm. Einen Baedeker habe ich vorher bei deinem Gepäck gesehen. Du hast also die Erlaubnis, frei in Petersburg umherzugehen, und wenn du einmal nicht weiter kannst, so rufe einen Istwoschtschik und sage ihm: ›Galernaja dom Dawidoff,‹ dann bringt er dich hierher.«

Fritz wiederholte gehorsam und bat dann um die Erlaubnis, auf sein Zimmer zu gehen, da es inzwischen spät geworden war.

Sein Onkel sah nach der Uhr.

»Spät? Ein Uhr. Du wirst dich erst an russische Zeitrechnung gewöhnen müssen, lieber Freund: aber für heute seist du in Gnaden entlassen. Wir sind noch eingeladen.«

Staunend sah Fritz auf und bemerkte jetzt erst, was ihm unter dem lebhaften Hin und Her nicht aufgefallen war, daß der Onkel den Frack trug und die Tante gleichfalls ein Gesellschaftskleid angezogen hatte.

»Ja, so leben wir hier,« sagte sie lachend, und damit trennte man sich für heute. 58

 


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