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Fünftes Kapitel

Fritz hatte nicht rechte Lust, der Aufforderung zu folgen. Hinter den wenigen Worten, die er mit den Reisebekannten getauscht hatte, ja, hinter ihren Blicken und Gebärden lag irgend etwas Seltsames, das er nicht enträtseln konnte und das ihn im Grunde nicht anzog. Er wußte nicht recht, was er aus den jungen Leuten machen sollte. Die Russen, die er in den Kreisen seiner Verwandten kennengelernt hatte, mochten sie nun deutscher oder slawischer Herkunft sein, waren so ganz anders, leichtlebig, genußfreudig, hatten bei ihrer mehrsprachigen Erziehung allerlei Literatur mehr genascht als erfaßt, und es ließ sich mit allen gut leben und auskommen, wenn auch freilich irgendein tieferer Anschluß selbst dem Oheim gegenüber kaum möglich war. Als Fritz einmal anfangen wollte, politische Fragen an ihn zu richten, hatte Herr von Rooß das abgewehrt.

»Man spricht in Rußland nicht über Politik.«

Der junge Attaché, der ihm so freundlich entgegengekommen war und den er mehrfach besucht hatte, mochte auch nichts von solchen Gesprächen wissen, war überdies erst ein Vierteljahr hier und stöhnte, wenn er von der Botschaft kam, zur Genüge darüber, daß er 71 sich einen schönen Teil des Tages mit politischen Akten hatte plagen müssen.

So war denn in Fritz, wie das wohl so geht, das Gefühl groß geworden, es müsse schließlich so sein, wie es sei, und er hatte, was sonst gar nicht seine Art war, das innere Fragen fast aufgegeben, bemüht, zu beobachten und, was sich ihm bot, zu genießen.

Jetzt war er häufiger allein, der Oheim war für einige Tage zu einer Adelsversammlung nach den Ostseeprovinzen abgereist, Anna mit den Vorbereitungen eines Wohltätigkeitsfestes unter dem Schutze einer Großfürstin beschäftigt. Da kamen Fritz Stunden, in denen er nach langem Umherstreifen durch die entlegeneren elenden Viertel der riesigen Stadt doch wieder auf die alten Fragen stieß. Und er konnte das Gefühl nicht bannen, daß jene der gesellschaftlichen Umgebung der Seinen so fern stehenden Menschen ihn da irgendwie weiter bringen könnten, daß es doch lohne, ihnen nicht aus dem Wege zu gehen.

So betrat er denn wieder das Café Dominique und fand diesmal sofort die beiden, die er suchte, mit noch zwei Studenten am Tisch sitzen. Man empfing ihn zuvorkommend, lud ihn ein, Platz zu nehmen, plauderte dies und das, bis er sich eine Frage nicht mehr versagen konnte, die ihm schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte. Er hatte zu Hause ein damals Aufsehen erregendes Buch über Sibirien gelesen und keinerlei Handhabe besessen, zu scheiden, inwiefern hier Wahres und Falsches gemischt sein mochten. So fragte er denn danach. 72

Die Antwort war ein allgemeines Verstummen. Der kleine Apotheker sah sich vorsichtig um und sagte dann halblaut: »Mein wißbegieriger Herr, das Buch ist bei uns verboten, und über solche Dinge spricht man nicht bei Dominique.«

Fritz entschuldigte sich und sagte dann ganz ruhig, er hätte von Rußlands politischen Verhältnissen im Grunde hier kaum etwas gesehen oder gehört und hätte das Gefühl gehabt, hier etwas erfahren zu können.

Der Student, den er schon kannte, sah ihn von der Seite an, verständigte sich durch einen Blick mit den übrigen, sah noch einmal durch den Raum, der jetzt, da die Frühstücksstunde vorbei, fast unbesucht war, und sagte dann in gewollt gleichgültigem Ton: »Trinken Sie doch heute abend mit uns Tee.«

Und ehe noch Fritz seine Wohnung hätte erfragen können, stand alles geräuschvoll auf, und mitten unter dem Stühlerücken sagte der Student ihm leise mit scharf akzentuierter Stimme eine Adresse. Fritz fragte: »Wann darf ich kommen?«

Und jener erwiderte: »Von neun Uhr ab.«

Die Kälte hatte nachgelassen, es war Tauwetter und in den Straßen ein unergründlicher Schmutz. Durch üble Gassen fand sich Fritz endlich zu einem hohen, schmalen Hause, stieg drei schmierige Treppen hinauf und machte dann vor einer Tür halt, die sich fast augenblicklich öffnete. Der Student Iwanow erschien und führte ihn über einen kleinen, dunklen Korridor in ein größeres Zimmer, wo ihm zunächst der jedes russische Gemach von der Kneipe bis zum Festsaal irgendwie 73 durchziehende Zigarettenrauch entgegenschlug. Es war eine größere Gesellschaft versammelt, er sah noch einen von den drei Studenten, die er vormittags bei Dominique getroffen hatte, den kleinen Apotheker, drei oder vier andre junge Leute, darunter einen mit einem scharf ausgeprägten jüdischen Rassekopf und zwei Frauen. Er erkannte in der einen seine Reisegefährtin, die wieder das lose, schwarze Kleid trug, begrüßte sie und wurde den andern durch Iwanow mit einer allgemeinen Handbewegung als ein deutscher Bekannter vorgestellt. Weder sein Name, noch die der Anwesenden wurden genannt.

Es wurde hin und her gesprochen, in der einen Ecke russisch, in der andern deutsch. Fritz hatte sich mit Iwanow in ein Gespräch eingelassen und ließ sich von ihm das System der Verbannungen schildern.

»System. Was heißt hier schließlich System,« sagte der. »Das einzig Systematische daran ist die Willkür der Machthaber.«

Natja, die junge Studentin, die dabei stand, nickte mit dunkel leuchtenden Augen. Iwanow erzählte weiter, sprach von Bekannten, die man verschickt hatte, von andern, die glücklich durch Bestechung entkommen waren, zeigte ihm einen ältern Mann in der Ecke, der nach zehnjährigem Aufenthalt zurückgekehrt war.

Das halblaute Sprechen ringsherum übte einen verwirrenden, betäubenden Einfluß auf Fritz. Er fand sich wie in einer fremden Welt. Natja, die das merkte, sagte, als Iwanow von einer andern Gruppe abgerufen 74 wurde: »Sie staunen. Aber so sind wir. Öffentlich darf man nicht sprechen. Was sollen wir tun?«

Ihre Augen glänzten wieder in jenem düstern Licht.

»Irgendwie,« sprach sie mit unterdrückter Leidenschaft weiter, »muß es doch heraus, wenn wir nicht ersticken wollen. Sehen Sie, man spottet über uns, und ihr Deutschen vor allem, daß wir das Volk der endlosen Debatten seien. Wer hat uns denn dazu gemacht? Was soll der tun, der nicht handeln darf? Und schließlich: ist nicht jeder von uns bereit, zu leiden? Sehen Sie jenen (sie zeigte auf den aus Sibirien Zurückgekehrten), bei dem hat man ein paar deutsche sozialistische Schriften gefunden. Seitdem wurde er bewacht. Dann hat er in einer Versammlung gesprochen, die ganz unpolitisch war; ich glaube, es handelte sich um die Erbauung einer Volkslesehalle. Du lieber Gott, eine Volkslesehalle in Rußland, wo wir achtzig Prozent Analphabeten haben. Er hat sich da wohl nicht ganz vorsichtig ausgedrückt, er wurde auf zehn Jahre verschickt. Nun sehen Sie, was aus ihm geworden ist.«

Fritz sah den Mann an, in dessen blutlosen Händen ein unausgesetztes Zittern war, dessen Ohren wachsbleich von dem grauen Kopf abstanden.

»Wissen Sie, wie alt er ist?« fuhr Natja fort. »Fünfunddreißig Jahre. Und nun ein Greis.«

In dem Augenblick vernahm man ein leises Klopfen an der Tür, alles wurde still, Iwanow ging hinaus und kam mit einem jungen Mann wieder, der in fliegender Erregung war. Er warf seinen triefenden Hut auf den Boden, streckte die Arme weit aus und schrie mit dem 75 letzten Hauch, den ihm offenbar der hastige Treppenlauf gelassen hatte: »Chanschy ist frei!«

Dann brach er auf der Stelle, wo er stand, zusammen und schluchzte fassungslos. Aber niemand beachtete ihn mehr. Alles drängte sich um die junge Frau, die neben Natja saß und wie erstarrt geradeaus sah. Man drückte ihr die Hände, man umarmte sie, und die Vorsicht, mit der man vorher gesprochen hatte, schien für Minuten völlig verschwunden. Sie aber antwortete nichts, sondern stand plötzlich auf, ging durch den Haufen, der ihr Platz machte, auf den immer noch am Boden Sitzenden zu, rüttelte ihn bei den Schultern, und während die ersten Tränen sich von ihren Wimpern lösten, schrie sie ihn mit einer in letzter Erregung zitternden und bebenden Stimme an: »Du lügst, du lügst!«

Da raffte der sich auf, taumelte in die Höhe, und die Hand auf die immer noch wogende Brust gepreßt, sagte er absatzweise: »Nein – er ist frei – morgen kommt er her. – Sie haben ihm nichts nachweisen können –«

Da richtete sich die junge Frau, deren vergrämte Züge vorher wie im Schlummer gelegen hatten, hoch auf, ein unbeschreiblich schmerzliches und doch sieghaftes Lächeln legte sich um ihren schmalen Mund, sie preßte die Hände gegen die Schläfen und stand so eine ganze Weile, wie in sich selbst hineinhorchend.

Fritz, in dem peinlichen Gefühl des Unbeteiligten, der nicht weiß, warum die andern sich erregen, war an das Fenster getreten; nun trat Natja zu ihm und sagte: »Sehen Sie, dieser Chanschy, Monjas Mann, studierte in Bern. Er will seinen Paß verlängern lassen, man 76 verweigert es ihm. Er soll selbst nach Hause kommen. Er will nicht. Da bedroht man seine alten Eltern, Kleinbürger in einem südlichen Gouvernement. So muß er kommen. Und hier wird er an der Grenze schon in Empfang genommen, ins Gefängnis gebracht wegen Beteiligung an politischen Umtrieben. Wir hatten alle geglaubt, ihn nie wiederzusehen. Nun ist er doch frei gekommen. Wer weiß, warum. Natürlich muß er sofort wieder über die Grenze, wenn er jetzt den Paß bekommt. Jetzt wird der arme Teufel Revolutionär werden. Wer soll's ihm verdenken? Bedenken Sie, was es heißt, dreiviertel Jahre ohne Gericht, ohne jede Verbindung mit der Außenwelt in einem russischen Gefängnis sitzen.«

Der zuletzt Gekommene berichtete nun ruhig, daß Chanschy morgen hier sein würde, und es wurde beraten, wie er so schnell wie möglich nach der Schweiz zurückkehren sollte.

»Monja, du mußt mitgehen,« sagte Iwanow.

»O wie gern,« erwiderte sie. »Aber wir haben kein Geld.«

Ohne weiteres sagte einer: »Das gibt Bogdan.«

Und der kleine Apotheker sagte das sogleich zu. Fritz fiel auf, daß gar kein Wesens hiervon gemacht wurde, daß diese Menschen gegenseitige Hilfe als etwas ganz Selbstverständliches betrachteten.

So war man wieder ruhiger geworden. Die beiden Frauen saßen enge beieinander, die Männer ringsherum.

Jetzt wandte sich das Interesse wieder Fritz zu. Es 77 wurde hin und her gesprochen, und schließlich sagte Iwanow: »Wir wollen zu Ehren unseres deutschen Gastes heute zum Schluß in deutscher Sprache lesen.«

Und er nahm ein kleines Buch vor und fragte Fritz: »Kennen Sie Turgenjews ›Neue Generation‹?«

Fritz verneinte.

Iwanow entwarf in kurzen Zügen ein Bild des Romans und las dann das letzte Kapitel. Alles lauschte aufmerksam. Diese Menschen lebten den Ausklang der Dichtung offenbar voll mit. Und nun kam Iwanow zum Schluß: »›Sie gehen?‹ sprach Paklin. ›Sagen Sie mir wenigstens, wo Sie wohnen.‹

›Ich habe keine bestimmte Wohnung.‹

›Ich verstehe: Sie wollen nicht, daß sie mir bekannt sei. Nun so sagen Sie mir doch wenigstens dies eine: Stehen Sie noch immer unter der Leitung des Wassili Nikolajewitsch?‹

›Wozu wollen Sie das wissen?‹

›Oder vielleicht unter der eines andern, – des Sidor Sidoritsch?‹

Thekla antwortete nicht.

›Oder unter dem Befehl eines Namenlosen?‹

Thekla überschritt bereits die Schwelle.

›Ja, möglicherweise unter dem Befehl eines Namenlosen.‹

Sie zog die Tür hinter sich zu.

Lange Zeit stand Paklin unbeweglich vor dieser geschlossenen Tür.

›Namenloses Rußland!‹ sagte er endlich.« –

Es war eine gewaltige Stille in dem kleinen Raum. 78

Dann sagte Monja mit einer vor Erregung zitternden Stimme: »Namenloses Rußland!«

Und ohne ein weiteres Wort trennte man sich, stieg leise die Treppe hinab und verteilte sich unten rasch nach verschiedenen Richtungen. Bogdan schloß sich Fritz an und sagte: »Ich führe Sie noch bis zum Fünfeckenplatz, da finden Sie Droschken. Ich brauche Sie wohl nicht zu bitten, von unsrer Zusammenkunft in Ihren Kreisen nicht zu sprechen.«

Fritz versprach das selbstverständlich und fuhr davon. Als sein kleiner Wagen auf dem Newskij einbog, traf er singende und johlende Leute, halb betrunken. In der Mitte der Straße jagten glänzende Equipagen einher, zur Seite fuhren langsam kleine Istwoschtschiks mit geschminkten Dirnen, die Vorübergehenden winkten und sie anriefen.

Fritz fror. Er drückte dem Kutscher ein kleines Geldstück in die Hand, der trieb sein Pferdchen an, und so ging es rascher der Galernaja zu. Er fühlte sich müde und konnte doch, als er im Bett lag, lange den Schlaf nicht finden. Trübe und gräßliche Bilder erfüllten ihn, und als plötzlich vom Flusse her schwermütiger Gesang ertönte, setzte er sich im Bett auf und horchte hinaus, ganz in dem Gefühl, in der Fremde zwischen lauter Menschen und Dingen zu sein, die er nicht recht verstand. Und dabei saß doch ein tiefes Mitleiden ihm in der Brust. Blitzartig flog vor seinem inneren Auge der Schlitten des Zaren vorbei, er sah, wie der die Hand zur Mütze hob, und plötzlich war es die zitternde, kraftlose Hand des aus Sibirien 79 Heimgekehrten, und hinter dem Wagen rannte der kleine Apotheker und schrie unablässig: Chanschy ist frei, Chanschy ist frei! Da hörte er noch einmal eine Stimme sagen: Namenloses Rußland. Aber es war nicht Monjas Organ, wie es ihm schien, sondern Natjas dunkler Ton, der trotz dem gebrochenen Akzent so weich klang.

Und darüber schlief er ein. –

Baron Rooß war aus Kurland zurückgekehrt, frisch angeregt durch das Zusammensein mit den Standesgenossen, befriedigt vom Zustande seines Gutes, das er besichtigt hatte.

»Und weißt du, Anna,« sagte er beim ersten gemeinsamen Frühstück: »Das Erfreulichste sind unsre sozialen Verhältnisse. Unser Bauernstand, die guten Letten, haben ja nicht das russische Gemeineigentum, und das hat sich doch sehr bewährt. Von all dem Gären und Kriseln, das wir hier haben, das auch auf dem Lande hier und da sein soll, ist bei uns nichts zu merken.«

Fritz horchte auf. Es war das erstemal, daß er ein derartiges Gespräch im Hause hörte. Aber da war es auch schon wieder vorbei, und es wurde von andern Dingen geredet.

Er kam noch einige Male zu Iwanow und nahm an den Zusammenkünften der Freunde des Studenten teil. Die fremdartigen Eindrücke konnte er nie überwinden, aber das ganze Gebaren dieser Menschen, von denen jeder, wie er empfand, bereit war, alles an alles zu setzen, besaß doch für ihn mehr als einen bloß romantischen Zauber. Er konnte sich eines ehrlichen Respekts nicht entschlagen, und selbst wenn, da man ihm 80 gegenüber nun die einstige Zurückhaltung mehr und mehr fallen ließ, die Wogen der Erregung hochgingen und wohl ein Schwall erregter Phrasen aus dem einen oder dem andern Munde kam, konnte er nicht, wie wohl daheim, über derartiges lächeln, sondern empfand hinter allem eine glühende Sehnsucht, aus unerträglichen Verhältnissen unter gewaltsamem Druck in freiere Luft zu gelangen.

Chanschy und Monja waren inzwischen abgereist, und eines Tages brachte jener junge Mann, der offenbar mit der Polizei Beziehungen hatte, die Nachricht, sie wären glücklich über die deutsche Grenze gekommen.

»Das genügt noch nicht,« meinte einer, »sie müssen erst in der Schweiz sein. Solange sie in Deutschland sind, sind sie noch nicht sicher.«

Und die nachdenkliche Zustimmung, die diese Worte fanden, zeigte Fritz wieder die seltsame Erscheinung, daß man von Deutschland hier nicht hoch dachte. Er hatte einmal ein rasch verdecktes Lächeln bemerken müssen, als er die freien heimatlichen Verhältnisse gegenüber den russischen hervorhob. Alle diese jungen Leute hatten draußen studiert, viele in Berlin oder Königsberg, sprachen mit glühender Bewunderung und Begeisterung von deutscher Philosophie, deutscher Wissenschaft, deutscher Dichtung, aber, ohne daß es für ihn verletzend herausgekommen wäre, schwang doch in den Stunden radikaler Begeisterung ihre Kritik sich weit über deutsche Freiheit und Einheit hinaus bis zu den Idealen, die noch jenseits dessen lagen, was Fritz wohl von Kommilitonen gehört hatte, die später in die Reihen 81 der Sozialdemokratie getreten waren. Er empfand, daß alle diese Menschen, denen die Heimat soviel versagte, nun bis ins entgegengesetzte Extrem getrieben, keinen Damm fanden, an dem ihre Gedanken sich halten konnten.

Er schüttelte zu solcher Ungerechtigkeit wohl den Kopf. Aber wenn in ruhigeren Gesprächsstunden darüber debattiert wurde, drang er nicht durch. So trennte ihn denn vieles von den neuen Bekannten. Aber ihre innere Energie zog ihn immer wieder an, so daß er mit leiser Wehmut an einem der letzten Septemberabende von ihnen Abschied nahm.

Bogdan begleitete ihn wiederum.

»Wenn's Ihnen recht ist, gehen wir noch ein Stück den Newskij herab; es ist ja heute trocken.«

Fritz war es zufrieden, und sie gingen. Da sagte Bogdan: »Sehen Sie, Herr Friedrich, ich bin ja weitaus älter als ihr alle und habe bei Ihnen in Deutschland gelebt. Aber da ist nichts zu wollen. Man hat diese Leute, ihre Mütter, ihre Väter, ihre Großväter so lange getreten und gedrückt, daß nach dem alten Gesetz nun nur das radikalste Mittel ihnen Heilung zu bringen deucht.«

»Aber Ihr Einfluß,« begann Fritz.

Bogdan unterbrach ihn: »Was will man da machen,« sagte er mit echt russischem Gleichmut und warf ein »Nitschewo« dazwischen. »Mal muß es doch bei uns zu Ende kommen. Und dann ist immer noch diese opferwillige Jugend besser als eine verzagte. Sie sieht bei Ihnen drüben nur den militärischen Drill, der doch ganz 82 anders ist als die Abrichterei in unsrer Armee, die niemals Heldentaten vollbringen wird wie die Ihre. Meine Leute sehen bei Ihnen nur das Kastenwesen (Fritz zuckte) und Bismarcks Kleinlichkeiten, aber nicht seine Größe. Die Eltern oder Großeltern haben noch wie das Vieh in Lehmhütten, Gott weiß wo an der Wolga gewohnt, andre sind verschickt gewesen oder leben in ewiger Angst vor einem viehischen Polizeimeister in irgendeinem Nest. Oder, wie die Eltern unsres Juden, mitten im Ghetto in Biala, wo zehntausend Menschen auf einem Fleck wohnen so groß, wie bei Ihnen ein Dorf von tausend. Es ist ein Wunder, daß da soviel geistige Energie und solche Charaktere, wie diese Monja, emporkommen. Schließlich (er sah sich vorsichtig um) mögen sich's die oben selbst zuschreiben, wenn es bei uns mal anders kommt, als bei Ihnen.«

Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Dann sagte Bogdan plötzlich in ganz anderm Ton: »Nur um eine ist mir angst, das ist Natja.«

Fritz sah erstaunt auf.

»Natja? Die erschien mir immer am ruhigsten von allen.«

Bogdan sagte: »Aber ich bitte Sie. Das Mädchen ist heute achtzehn Jahre. Ich kenne sie von Kind an. Bei ihr schläft das Temperament nur noch. Wenn sie einmal hingerissen wird, so wird sie rasch die Radikalste sein. Denn sie erfaßt nichts, was nicht bei ihr sofort letzte Leidenschaft wird.«

Bogdan schwieg. Sie waren unter einer Laterne, und Fritz sah von der Seite her, wie es in dem Gesicht 83 des kleinen, unscheinbaren Mannes zuckte. Plötzlich streckte er Fritz aus seinem langen Kragenmantel die Hand entgegen, eine große, knochige, behaarte Hand, und sagte, während Fritz langsam einschlug: »Wenn Sie nach Königsberg kommen, achten Sie etwas auf sie. Bringen Sie sie mit ruhigen, heiteren Menschen zusammen.«

Fritz fragte erstaunt: »Kommt sie denn zu uns?«

Und der andre sagte: »Ja, wahrscheinlich schon diesen Winter. Sie hat nur noch ein paar hundert Rubel und wollte von mir (er seufzte) nichts annehmen. Sie will dort russischen Unterricht geben, um später weiterstudieren zu können.«

Fritz versprach, was der andre gewünscht hatte, und so trennten sie sich.

Fritz ging vor dem Europäischen Hof entlang, um sich eine möglichst saubere Droschke auszusuchen, als er angerufen wurde. Er drehte sich um und erkannte den jungen Grafen mit einem ihm unbekannten Herrn.

»Wo wollen Sie so früh hin?«

»Nach Hause.«

»Ach wo. Kommen Sie mit. Wir wollen ins Aquarium.«

Fritz war es nicht danach zumute, er sagte, er wäre nicht angezogen, der andre aber und sein Begleiter, ein junger Petersburger Bankier, duldeten keinen Widerspruch, nahmen ihn in die Mitte, setzten sich in einen Istwoschtschik, so daß Fritz halb auf beider Schoß saß, und fort ging's am Marsfeld vorüber zur Stadt hinaus. Der Wagen hielt an einem unscheinbaren 84 Eingang. Sie legten ab und befanden sich plötzlich in einem riesigen Saal. Man saß auf Gartenkies an kleinen Tischen, zwischen denen Palmen aus großen Töpfen emporwuchsen, auf der Bühne stand eine Chansonette und sang – wie Fritz nach dem ersten, verwirrenden Eindruck hörte – ein deutsches Lied. Unten drängte sich ein großes Publikum. Man sah Herren im Frack oder Uniform, dazwischen andere in abgetragenen Reiseanzügen, dicke Kleinbürger, die etwas draufgehen ließen und starren Auges zur Bühne emporsahen, wo immer neue Sänger und Sängerinnen auftraten. Man hörte englische, französische, tschechische, am seltensten russische Gesänge und Vorträge. Die Herren waren durchweg allein gekommen, aber zwischen den Tischen bewegten sich in überladen eleganten Toiletten geschminkte Frauen; Sektpfropfen knallten, die Kellner rannten mit der allen russischen Bedienten eigenen lautlosen Unterwürfigkeit hin und her.

Sie nahmen Platz und bestellten. Die beiden Herren hatten überall Bekannte, winkten und grüßten nach allen Seiten. Je später es wurde, um so lebhafter ward das Treiben. Eine nach der andern von den Sängerinnen, die mit ihrem Repertoire fertig waren, erschien im Saal, man sang nun auch hier und da an den Tischen, schrie durcheinander, Pärchen verschwanden in die benachbarten Restaurationsräume, und als es gegen Morgen ging, war alles in einem Taumel. Ein alter Kaufmann in Moskauer Tracht bezahlte nur in großen Noten und achtete in seiner Trunkenheit kaum auf das, was ihm die Bedienung herausgab. Er 85 war umdrängt von allerlei zweifelhaften Schönen. Es war ein Bild ohne jede Grazie, voller Lüsternheit, ein wirres, funkelndes Durcheinander, Patschuli und Zigarettenrauch, Weinduft und die Hitze erregter menschlicher Körper.

Fritz saß befremdet, unfähig, die Heiterkeit, ja Ausgelassenheit seiner Gefährten zu empfinden, dazwischen. Was war nun Rußland? Die oberflächliche Geselligkeit, die er in dem Hause seiner Verwandten und ihrer Freunde kennengelernt hatte, diese häßliche, barbarische Lustigkeit ohne echten Rausch mit der überschminkten Verderbtheit? Oder war's jener stille Mann mit dem ehernen Gesicht, der durch das tief sich beugende Volk fuhr, und den durch manche Scheibe ein haßerfüllter Blick traf? Oder war's jene enge Bude, in der heiße Herzen von Elend und Not, von innerer Not und von einem Freiheitsdrange schwärmten, der, mächtig geworden, Unübersehbares niederreißen mochte?

Er wußte es nicht. Wußte es noch nicht, als er am andern Abend, sorglich geleitet, in den Zug stieg, als er am nächsten Tage wieder durch das weite, öde Land rollte. Und erst als er an der Grenze in den ersten deutschen Bahnhof fuhr, die vertrauten Heimatlaute hörte und dann die Türme der Vaterstadt wieder vor ihm auftauchten, hatte er wieder ein freieres Herz. 86

 


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