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VIII.

Das akademische Viertel war noch nicht verflossen, als sich in einer geräumigen Trinkstube des Ratskellers fast schon die ganze Prima versammelt hatte. Es fehlte nur noch Adalbert, der »natürlich nicht kam«, wie jedermann mit hörbarer Befriedigung sagte; drei oder vier waren nicht geladen. Es hatte eine Differenz zwischen ihnen und der Majorität in Verbindungsangelegenheiten gegeben, die noch »hing« und trotz der versuchten Vermittelungen wohl nur durch ein paar »blutige« ausgetragen werden konnte.

Ich hatte im Vorübergehen die Sache durch Schlagododro erfahren, der selbstverständlich zur »Borussia« gehörte und ein sehr einflußreiches Mitglied derselben war. Es gehörten überhaupt alle zu derselben mit alleiniger Ausnahme von mir und Adalbert. Man hatte seiner Zeit meine Entschuldigung, daß meine Verhältnisse mir dergleichen nicht verstatteten, mehr als bereitwillig entgegengenommen; Adalbert auch nur aufzufordern, war niemand in den Sinn gekommen. Heute hatte man uns nicht gut umgehen können, vertraute mir Schlagododro; und mich habe man gern gebeten, nachdem ich mir durch meine Bismarck-Sonette die Herzen aller im Sturm erobert; was den anderen betreffe –

Schlagododro brach jäh ab, und in dem großen gewölbten Raum, der von dem lauten Gespräch der Versammelten widerhallte – man hatte sich noch nicht gesetzt, sondern wirrte in kleineren und größeren Gruppen, das Zeichen des Vorsitzenden erwartend, durcheinander – wurde es plötzlich tiefe Stille. Die Thür hatte sich wieder einmal geöffnet, aber anstatt eines der geschäftig ab und zu eilenden Kellner war Adalbert eingetreten. Ich hatte den Rücken nach der Thür gewandt gehabt, und meine Aufmerksamkeit wurde erst durch Schlagododros finsteren Blick und das Schweigen der anderen nach jener Richtung gelenkt. Als ich Adalbert erblickte, hatte er bereits ein paar Schritte in das Gemach hinein gethan. Mit jener ihm eigenen gelassenen Sicherheit ging er auf den Vorsitzenden zu, den er begrüßte, aber ohne demselben die Hand zu reichen (er reichte ja auch mir selten die Hand); dann verbeugte er sich vor den übrigen, in der That etwas steif, als wenn ihm die Bewegung physisch schwer würde; und stand nun ruhig da mit halb niedergeschlagenen Augen, wie jemand, der gegen eine Gesellschaft, in die er nicht eben gern gegangen, die Pflichten der Höflichkeit seinerseits erfüllt hat, und nun gelassen abwartet, welches Betragen die Gesellschaft ihrerseits ihm gegenüber annehmen wird.

Indessen war der bei weitem größere Teil der jungen Leute gesellschaftlich viel zu gut geschult, als daß man über die erste Bestürzung, welche Adalberts unerwartetes Erscheinen hervorgerufen, nicht alsbald hätte wegkommen sollen. Der Vorsitzende (oder nannten sie ihn Sprecher?) ersuchte ihn, sich einen Platz an der Tafel zu wählen. Ich wußte nicht, ob ich es gut oder übel nehmen sollte, als er sich weit von mir und Schlagododro, der mich nicht von seiner Seite ließ, zwischen zwei ihm, soweit im Schulverkehr das Wort zulässig ist, völlig fremde Kommilitonen setzte.

Der Kommers begann.

Ich hatte einem solchen Feste noch nie beigewohnt, aber Schlagododro mir früher von seinen geliebten Kneipabenden genug erzählt, so daß mir alles, was da vorging und vorgenommen wurde, neu und bekannt zu gleicher Zeit erschien, und ich mich mit leidlichem Anstand bis zum Schluß aus der Affaire zu ziehen hoffen durfte. Dank besonders meinem Nachbar zur Linken, dem von Sylow, einem feinen jungen Mann, der sich in liebenswürdiger Weise eben so gesprächig und zuthunlich gab, als der Freund an meiner andern Seite mürrisch und verschlossen war und blieb. Es fiel die Schuld sicher auf mich, wenn ich mich heute abend nicht für immer von dem Wert und der Würde einer Gymnasiasten-Verbindung überzeugte, welche die normale Vorbereitung zu dem Korpsleben auf der Universität sei; in welchem Korpsleben wiederum das Ideal studentischen Thun und Treibens seine Verwirklichung finde: Freundschaft, Ehre, Mannesmut, Loyalität – für jede Tugend fließe da und da allein die lautere Quelle der Erkenntnis; sei da und da allein die hohe Schule der Uebung bis zur Vollendung. So tönte es begeistert von den Lippen des Jünglings, die mit einem zierlichen blonden Flaum geschmückt waren – ein allerliebster Anblick, der mich aber doch ein paarmal fast um den schuldigen Respekt gebracht hätte: der Gegensatz der jugendlichen Lippen zu dem priesterlichen Ernst, mit welchem mir diese Weisheitslehren vorgetragen wurden – wie einem Neophyten, der zwar das Allerheiligste nicht betreten darf, dem man aber doch die Vorhänge so weit lüftet, daß er sich an dem Anblick der Herrlichkeit berauschen kann – es war gewiß sehr frivol von mir, aber ich vermochte meine Lachlust hin und wieder nur zu zügeln, indem ich mir selber kräftig auf die Lippen biß. Besser ging es, als wir dann auf den Krieg zu reden kamen. Von Sylow wollte Jura studieren, vorläufig aber bei den ersten Garde-Dragonern in Berlin eintreten. Er ging übermorgen dahin ab, hoffte in vier Wochen spätestens vor dem Feinde zu stehen. Daß der Krieg so bald zu Ende, daran sei nicht zu denken; er wisse das ganz genau von seinem Onkel, dem General, der augenblicklich unter Friedrich Karl vor Metz eine Brigade kommandiere. Metz sei noch lange nicht über; und wenn Mac Mahon auch geschlagen würde, so sei noch immer Paris da und das ganze mittlere und südliche Frankreich. Ich hörte das so gern. Und mußte wieder heimlich lachen, als der jugendliche Oberpriester der studentischen Mysterien, der sich nun in einen Höchstkommandierenden verwandelt und alle Geheimnisse des großen Generalstabes am Schnürchen hatte, mich und alle bedauerte, die zurückbleiben müßten.

Unterdessen war der Abend vorgeschritten, und die allgemeine Stimmung, welche mir anfangs ein wenig gemacht lustig erschien, hatte sich sichtbar und hörbar zu wirklicher Lust gesteigert. Die Gesichter unter den schmucken Cereviskäppchen (mit denen, ebenso wie mit den entsprechenden Bändern, außer mir und Adalbert, alle ausgestattet waren,) glühten; lauter erschallten die Lieder, und in den dann folgenden Unterhaltungen, den donnernden Zurufen und Gegenrufen zum Trinken, die unablässig erschallten, ging die Möglichkeit eines regelrechten Gespräches von Nachbar zu Nachbar verloren.

Ich glaubte mich rühmen zu dürfen, bis jetzt vollkommen nüchtern geblieben zu sein, trotzdem ich weidlich gezecht hatte, vielmehr hatte zechen müssen. Denn als ich im Anfang das schmeichelhaft häufige Zutrinken der andern mit einer höflichen Verbeugung und obligatem Nippen an meinem Glase erwidern wollte, raunte mir mein Nachbar zu, daß an der Verbeugung sehr wenig, aber sehr viel daran gelegen sei, daß ich auf einen »Halben« einen Halben und auf einen »Ganzen« einen Ganzen nachkomme. Es sei das für mich freilich nicht obligatorisch, indessen – Ich hatte ihn nicht ausreden lassen und mich nur gefreut, daß mir das völlig ungewohnte Zechen nichts anhaben zu können schien. Wer konnte wissen, ob mir diese neu entdeckte Eigenschaft in den Tagen, denen ich entgegensah, bei den Verhandlungen mit Bahnbeamten, Spediteuren, Fuhrknechten und anderen wackeren Leuten nicht trefflich zustatten kommen würde! I. I. hatte sogar etwas derart direkt angedeutet und dazu bemerkt, daß auf den sehr Brünetten nach dieser Seite gar kein Verlaß sei.

Ich konnte diesem Gedankengange, auf dem ich bald weit ab von der mich umgebenden Scene dahin geriet, wohin all mein Sehnen und Denken dieser Wochen gestrebt hatte, unbehelligt folgen, da meine beiden Nachbarn, der stumme Schlagododro und der gesprächige von Sylow, mich gleichzeitig verlassen hatten, wie denn überhaupt eine große Unruhe in die Gesellschaft gekommen war, und kaum einer noch auf seinem Platze saß. Da fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter, und, aus meinen Träumen emporschreckend, sah ich Adalbert neben mir stehen. Ich hatte ihn seit der letzten Stunde oder so wirklich aus den Augen verloren, und wunderte mich jetzt, daß sein Gesicht völlig dasselbe war, wie bei seinem Eintreten: still und ernst, fast traurig; aber der letztere Eindruck mochte wohl nur hervorgebracht werden durch den schroffen Gegensatz dieser bleichen Züge zu den weingeröteten Wangen und Stirnen der Lärmenden. Und jetzt zuckte auch ein Lächeln über die bleichen Züge.

Ich glaube, man wird uns beide nicht eben vermissen, sagte er; und ich möchte Dich doch, bevor wir uns trennen, noch einmal sprechen. Willst Du mir ein paar Minuten schenken?

Er winkte mit den Augen nach der Eingangsthür; ich war bei seinen ersten Worten aufgesprungen und folgte ihm aus dem Saal.

Wir hätten sie nur geniert, sagte er; sie wollen den Landesvater singen. Wozu hätten sie auch sonst ihre Kappen? Wir beide haben, Gott sei Dank, keine. Komm weiter weg; wir sind hier, wie es scheint, aus dem Regen unter die Traufe geraten.

Es war in der Nähe der Thür, welche zu einem anderen separaten Raum führte, der an den Kommers-Saal stieß, und aus dem jetzt, als die Thür sich öffnete, ein womöglich noch größerer Lärm als aus jenem ertönte. Die Herren Schauspieler! sagte ein vorübereilender Kellner; – sind immer den ersten Abend bei uns versammelt – sehr lustige Herren! hören Sie!

Komm weiter weg! wiederholte Adalbert.

Wir schritten tiefer in den Keller hinein, welcher hier nur noch spärlich erleuchtete offene Lauben hatte, während auf der andern Seite Faß an Faß sich reihte, in langer Linie, welche zuletzt im Dunkel verschwand. An der letzten noch erleuchteten Laube machten wir Halt und nahmen einander gegenüber an dem Eichentisch auf den an der Wand befestigten, mit hohen geschnitzten Lehnen versehenen Bänken Platz. Ein verschlafener Kellner, der aus einer der ganz dunklen Lauben heranschlürfte, fragte nach unsern Befehlen. Adalbert bestellte eine Flasche. Ich habe noch keinen Tropfen getrunken, sagte er, als ich abwehren wollte; bin in dieser Hinsicht von einer mohammedanischen Abergläubigkeit und trinke und esse mit keinem, dessen Blut vielleicht einmal über mich kommt, oder meines über ihn – je nachdem.

Wenn Du aber so gesinnt bist, sagte ich, weshalb bist Du überhaupt gekommen?

Deinetwegen, erwiderte er. Du bist mir ja all diese Tage aus dem Wege gegangen. Hier, wußte ich, würdest Du mir nicht ausweichen können. Es sieht freilich aus, als hättest Du nicht übel Lust dazu noch in diesem Augenblick.

Ich finde es hier nur verzweifelt kühl und feucht, sagte ich, zusammenschauernd.

Trink ein Glas! sagte er; auf das fade Bowlenzeug wird Dir ein Schluck herben Rheinweins gut thun.

Er hatte die grünlichen Gläser gefüllt; der Kellner war wieder davon geschlürft; ich bemerkte, daß Adalbert ihm prüfend nachblickte. So, sagte er, jetzt sind wir bis etwa auf die Ratten allein; und ich kann in aller Ruhe mein Testament machen, soweit es Dich betrifft.

Dein Testament? fragte ich erstaunt.

Man nennt es auch letzter Wille; und der Ausdruck paßt sehr gut insofern, als Du ja meine letztwilligen Bestimmungen nur cum beneficio inventarii anzunehmen brauchst.

Das heißt?

Das heißt, daß Du deshalb noch immer thun, oder lassen kannst nicht, was ich will, sondern, was Du willst. Aber ich habe es Maria versprochen; und wenn ich das auch nicht gethan hätte, mir blieb, wie dem alten Tollkopf von Lear, ›ein Stückchen von Herzen doch und das‹ –

›bedauert mich‹? wolltest Du sagen? rief ich, als er plötzlich abbrach.

Nein; erwiderte er; das wollte ich nicht. Ich meinte nur, Dein eigenes Herz würde Dir die beiden letzten Worte sagen, die ich im Herzen behielt und nun weiter so behalte.

Ich schlug die Augen nieder, beschämt von dem keuschen Stolz einer Liebe, an der ich immer gezweifelt hatte. Trotz Marias gegenteiligen Versicherungen, weil – nun ja! weil ich daran hatte zweifeln wollen; weil mein Herz gegen ihn zwiefach geteilt war: in Bewunderung und ein Gefühl, das ich mir nicht zu definieren vermochte, und das ich heute Scheu vor seiner Ueberlegenheit und morgen Abscheu vor seiner Kälte nannte, welche die Grazien und – die Liebe verscheuche. Und nun sollte ich so spät – zu spät erfahren, was es mit dieser Kälte auf sich hatte! Ich fühlte, daß ich ihm volle Offenheit schuldig sei.

So sagte ich ihm denn alles in fliegenden Worten, und daß ich morgen in der Frühe abreisen werde.

Er hatte, vor sich nieder blickend, zugehört; jetzt hob er die Augen, über deren stählernem Glanz eine Trübung zu liegen schien.

Nach menschlichem Ermessen, sagte er, sehen wir uns also hier zum letztenmal als Freunde. Unsre Wege scheinen so weit auseinander zu führen, daß, falls sie sich wieder kreuzen, es nur im feindlichen Zickzack sein könnte. Aber was ist menschliches Ermessen? Und ich bin ein zäher Mensch, gewohnt, fest zu halten das bißchen Glück, das mir je das Leben in den Schoß warf; und gar Dich möchte ich um vieles nicht verlieren. Du wiederum hast bei all Deinem idealistischen Feuer ein weiches Gemüt und jene tiefe Ehrfurcht vor der Wahrheit, welche, sobald nur erst die bessere Erkenntnis da ist, die Umkehr von dem eingeschlagenen Irrwege verbürgt. Und so denn: auf ein gutes Wiedersehen trotz alledem!

Jetzt war er es, der mir die Hand entgegenstreckte, welche ich nun meinerseits festhielt.

Ich lasse Dich so nicht, rief ich, Du mußt mir erst beweisen, daß ich auf einem Irrwege bin; daß das ein Irrweg ist, den ich mit Hunderttausenden freudig ziehe, und wäre es in den Tod.

Er hatte sich das geleerte Glas von neuem langsam vollgeschenkt und, bedächtig daran nippend, erwiderte er:

Eben deshalb bin ich gekommen. Nur daß ich jetzt, wo ich Dir wieder in die schwärmerischen Augen blicke, – indessen es mag d'rum sein. Vielleicht, daß es hilft, Dir den Umweg abzukürzen. Denn so hätte ich sagen sollen. Ein Irrweg ist es für Dich nur insofern, als es nicht der kürzeste ist, der zu dem Ziele führt. Die anderen, die große Menge, sie hat keine Ziele; und so kann man bei ihr von Irrweg und Umweg nicht sprechen.

Wie? rief ich: das, was ein großes Volk einmütig erstrebt, wofür es Gut und Blut getrost aufs Spiel setzt, das nennst Du kein Ziel? Vaterlandsliebe, der Kampf einer Nation für die bedrohte Freiheit, die geschändete Ehre – das wäre kein heiliger Kampf? Weißt Du, Adalbert, Du sprichst gerade wie Professor Willy. Auch er hat mir neulich auseinandergesetzt, daß der Krieg, in dem wir sind, dem Endziele der Menschheitsentwickelung schnurstracks entgegenlaufe. Ich weiß nicht, ob es Dir angenehm ist, Dich mit dem Professor auf einem Wege zu finden.

Um Adalberts feine Lippen zuckte ein satirisches Lächeln.

Meinst Du? sagte er. Wenn zwei dasselbe sagen, soll es nicht immer dasselbe bedeuten. In diesem Falle gewiß nicht. Das Menschheitsideal des Professors liegt rückwärts, meines vorwärts. Seines findest Du in Wilhelm Meister; meines in einem Roman, der – noch geschrieben werden soll. Seines ist ein Bund schöner Seelen, der einzig und allein auf der breiten Basis einer misersa plebs gedeiht, welche zum Banausentum und noch Schlimmerem verurteilt bleibt, um jene in dem ausschließlichen Genuß feinsten Empfindens und sublimsten Denkens nicht zu stören; meines ist ein Bund, der alle Menschen einschließt und noch von dem letzten verlangt und ihm verbürgt, daß er seines Namens wert sei, und müßten die schönen Seelen darüber nach Wolkenkuckucksheim auswandern. Nein, mein Freund, was der Professor will, und was ich will, das ist durch Siriusfernen voneinander getrennt: ein Himmel, der, ich weiß nicht wo, ist, und diese meine arme geliebte Erde. Du aber, Du schwebst vor der Hand, wie Mohammets Sarg, zwischen Himmel und Erde.

Das sind mir Rätsel, sagte ich verdrossen.

O, daß ich sie Dir deuten könnte! rief er; Dir, gerade Dir!

Er schenkte sich sein Glas voll, das er diesmal mit einem Zuge leerte und fuhr fort mit einer vor innerer Erregung, wie ich sie nie bei ihm gekannt, vibrierenden Stimme, während aus seinen stahlharten Augen Blitze schossen, deren Glanz ich nur schwer ertragen konnte:

Aber ich fürchte, Du hältst zu fest an der Botschaft, der uralten, deren Bimbam durch die ganze Weltgeschichte läutet, und der sie gläubig gefolgt sind: die Assyrer und Aegypter, Meder und Perser, Griechen und Römer und Germanen und wie sie alle heißen, über tausend und abertausend Schlachtfelder und durch Meere von Blut, immer für Freiheit, Ehre und Vaterland, immer nach demselben Ziel der Obmacht des Stärkeren über den Schwächeren, die dann von dem demnächst Stärkeren abermals in Frage gestellt wird, worauf der wüste Kampf sich erneuert in schauerlicher Monotonie. Nein, und tausendmal nein! Das kann nicht das letzte sein, weshalb es die Natur zu einem Menschengehirn gebracht hat! Sie hätte es sonst ebensowohl bewenden lassen können beim Gehirn des Stieres, der seine Hörner gegen den Leitstier der Nachbarherde kehrt; beim Gehirn der Wölfe, von denen das eine Rudel das andre von seinem Jagdgrunde beißt. Einmal muß der Blitz aus dem Menschengehirn fahren, um diesen furchtbaren Zirkel zu durchbrechen. Nicht aus dem Gehirn eines Menschen: aus dem Gehirn der Menschheit! Ein Mensch kann das Ungeheure nicht vollbringen. Das ist ja der Wahnsinn meiner Mutter, die darin nur ein Prototyp ist von Euch, die ihr alle von demselben unseligen Taumel ergriffen seid. Und nicht bedenkt, daß, könnte es Einer vollbringen, Christus es vollbracht hätte, und der Moment, als man ihn ans Kreuz schlug, der letzte des Menschenelends gewesen wäre. Der letzte! wenn die blöde Menschheit wieder und wieder in den Trugschluß verfällt, das Werkzeug des Heils für das Heil selbst zu nehmen! Und nun die arbeitsscheuen Hände in den Schoß legt Jahrzehnte, Jahrhunderte lang – wie's eben kommt – und gläubig auf den blickt, welcher der Welt Sünde trägt und weiter tragen mag. Bis sie endlich fühlt und sich überzeugt – und der Tag wird kommen und ist vielleicht näher, als Ihr denkt – daß sich nichts verändert hat, oder gar die Last, die sie abgewälzt wähnte, die eigenen Schultern schwerer drückt, als je. Und daß kein Gott und kein Heiland dem hilft, der sich selbst nicht hilft. Und der Menschensohn, der verheißene Messias, kein anderer ist, als sie selbst, die Menschheit, das Gehirn der Menschheit, der Geist, der sich auf sich selbst besinnt und begreift als geboren vom Geist, wie der Tropfen vom Meere geboren ist: eines und einig mit dem Erzeuger und ihm gleichen Wesens von Ewigkeit an.

Und das meinst Du, rief ich, der ich kaum meine Ungeduld bis dahin hatte zügeln können, das könne je etwas anderes als das esoterische Geheimnis einiger wenigen denkenden Köpfe sein? Das könne je auf der Gasse gepredigt werden so, daß es das Volk faßte und begriffe? Und, wenn es wäre, stünd' es anders um die Menschheit und besser?

Wenn es wäre! sagte er mit tiefem Atemzuge; jawohl, wenn es wäre! Wenn jeder, hörst Du, jeder, er sei auch, wer er sei, sich wüßte und fühlte, faßte und begriffe als Teil des Teils, der alles ist und eines mit dem All – wo blieben die Unterscheidungen, mit denen man die alleinige Menschheit zerreißt in Allerhöchste und Höchste, Niedere und Allerniedrigste? Hoch- und Hochwohl- und Wohlgeborene? und solche, denen besser wäre, sie wären nie geboren? Wohin schwände der Glanz der Kronen und Zepter, der Orden und Epauletten, der Fahnen und Standarten! Wenn es wäre, daß es das Volk verstünde! Und Du meinst, das könne nimmer sein? Weil die Menschen ärgert, daß die Wahrheit so einfach ist? Ja, sie ist einfach, die Wahrheit; jedes Kind kann sie begreifen, müßte sie begreifen; nur daß Unverstand und Heuchelei die Wege der Erkenntnis zu seinem bildsamen Gehirn verstopfen und verkleben. Das Volk? ja, gerade das Volk, die Armen und Elenden, die da hungert nach Brot und dürstet nach der Gerechtigkeit. Waren es schriftgelehrte Pharisäer und philosophische Sadduzäer, die das Reich Gottes auf Erden verkündeten? War er nicht eines Zimmermanns Sohn? und waren, die ihm anhingen, nicht ungelehrte Weiber, einfältige Männer aus dem niedersten Volk: Fischer, Handwerker, Hirten, Ackerleute? Und ist es denn heutzutage anders? Kann es jemals anders sein? jemals von den verkniffenen Lippen der Privilegierten die Lehre erschallen, vor der ihre Privilegien verzehrt werden wie Nebeldunst vor der Sonne Strahlen: die Lehre von der Gotteskindschaft, der Heiligengeistgleichheit aller; der Gleichheit von allem, was Menschenantlitz trägt? Und den Konsequenzen, die daraus für das Erdenleben, die irdischen Verhältnisse der Menschen untereinander resultieren? Was will ich, was wollen sie, die denken, wie ich, anderes, als diese Konsequenzen ziehen? Sehr unbequeme Konsequenzen freilich für die Privilegierten der Gelehrsamkeit, die sich ihre Kreise; der Kunst, die sich ihre Träume; des irdischen Besitzers, der sich die Rechtstitel zu dem Stadthause und der Villa, welche der gelbe Tiber bespült, und den zusammengekauften Berggütern nicht entreißen lassen will? Und die nun zetern: darüber geht alles zu Grunde: Wissenschaft und Kunst, die aufgespeicherten Schätze der Bildung und Kultur der Menschheit von Anbeginn! – Ja, glaubst Du denn, sie haben nicht ebenso gezetert, die schriftgelehrten Juden und die kunstsinnigen Griechen und die staatsklugen Römer, als von der Gasse zu ihnen hereinscholl in ihre Studierzimmer und ihre Ateliers und ihre Senats- und Gerichtssäle: selig sind die Armen, selig sind die Einfältigen, selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit? Wähnst Du, daß sie nicht ebenso gemunkelt haben von Gesindel und Straßenpöbel und vaterlandslosen Lumpen, die man stäupen und ins Zuchthaus sperren, oder aus dem Lande schieben, oder ans Kreuz schlagen müsse? Nein, der heilige Geist der Wahrheit, wann und wo immer er erscheint und sich ausgießt über seine Erwählten, also daß sie mit Feuerzungen reden, was in aller Herzen lebt und darum von allen gleicherweise verstanden wird – immer und überall ist er ein Schreckgespenst für die, deren Reich nur von dieser Welt ist, und soll es sein. Immer und überall soll der Tag der Pfingsten mit Brausen kommen und gewaltigem Winde. Und wird von denen heißen, die draußen stehen, wie geschrieben steht in der Apostelgeschichte: »Sie entsetzten sich aber alle und wurden irre und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?« Was will das werden? Ja, Lieber, wer das wüßte! Ich weiß es nicht und keiner weiß es. Das aber weiß ich, und wenn's sonst keiner wüßte, daß, was da werden will, werden wird, unaufhaltsam, wie des Meeres Flut, unentwegbar wie der Gestirne Lauf. Und in dieser Zuversicht trinke ich auf die Zukunft, die unter dem Vielen, was sie bringen, auch Dich mir wieder bringen wird; trinke ich diesen sauren Krätzer als den süßesten der Weine und zerschmettere das Glas, aus dem ich das getrunken, wie ich hoffe, noch zu erleben, daß der hohle Götze des Wahns und Aberglaubens zerschmettert liegen wird zu den Füßen der befreiten Menschheit!

Er hatte das volle Glas – das letzte aus der Flasche – bis zur Neige geleert und schleuderte es gegen die Wand der Laube. Aber war es die elastische hölzerne Täfelung, war es die Dicke des Glases – es zerschellte nicht, sondern fiel heil auf den Boden und rollte vor unsern Augen aus der Laube, die zwei oder drei Stufen herab, in den Keller hinein. Da, wo es für uns verschwunden war, tauchte der Aufwärter, den das Geräusch geweckt haben mochte, aus dem Dunkel und glotzte uns schlaftrunken an. Ich blickte auf Adalbert. Er stand da, regungslos, gerade vor sich hin ins Leere starrend. Nun bewegten sich seine Lippen, wie eines Sprechenden, ohne daß ein Laut hörbar wurde. So mochte ein Geist zu Geistern sprechen. Ein Schauder packte mich; ich war in Begriff, ihn anzurufen, als er plötzlich zusammenzuckte, ein jäh Erwachender; sich mit der Hand über die Stirn strich und, die Augen langsam auf mich wendend, lächelte – ein schauerliches Lächeln.

Verzeih', sagte er leise; ich bin des Weines nicht gewohnt.

Die Stimme, die eben noch einen so hellen, vibrierenden Ton gehabt hatte, klang dumpf und apathisch. Er bebte leicht in sich zusammen.

Es war in der That kalt hier; sagte er; wo habe ich nur meinen Ueberzieher?

Drinnen, sagte ich; ich will ihn Dir holen.

Du würdest ihn schwerlich finden unter so vielen; und dann: ich muß mich doch den Herren noch einmal zeigen.

Wir verließen die Laube; er ging raschen Schrittes, als hätte er es eilig, fortzukommen. Ich wünschte im Herzen, daß er nur erst fort wäre, aber ich wagte nicht, meine Bitte zu wiederholen. Auch standen wir bereits vor der Thür des Kommerssaales, aus dem uns ein ungeheurer Lärm entgegenschallte, und in welchem wir nun, als wir eintraten, die Scene, die wir verlassen hatten, wunderlich verändert fanden.

Sie standen auf den Stühlen, auf den Tischen mit erhobenen Gläsern, die Mützen schwingend, aus vollen Kehlen Hurras und Lebehochs rufend, hier einer den andern umarmend, dort einer mit dem andern anklingend; alle wie von bacchantischer Wut, von einem rasenden Taumel ergriffen. Und was ich in dem tollen Wirrwarr nun erst sah: die Gesellschaft der Kommilitonen untermischt mit einer großen Anzahl fremder Gestalten und Gesichter, die ich wohl nur um deshalb nicht sofort bemerkt hatte, weil alle, die Bekannten und Unbekannten, völlig durcheinander gewirrt waren, und alle in gleicher Weise schrieen und gestikulierten.

Erst später habe ich erfahren, wie dies so gekommen war. Von den Theaterleuten hatte noch einer spät in die Druckerei unseres Tageblattes gemußt, zu sehen, ob eine für den ersten Theaterzettel morgen notwendig gewordene Veränderung noch ausgeführt werden könne. Er hatte die Druckerei in fieberhafter Thätigkeit gefunden, zwei Depeschen, welche eben erst gekommen waren, für morgen früh in Extrablättern ausgeben zu können. Es waren die zwei Depeschen von der Schlacht von Sedan, die zweite bereits mit der Nachricht des vollständigen Sieges. Der Schauspieler hatte sich sofort eines Exemplars bemächtigt und war, ohne seines ursprünglichen Auftrags weiter zu gedenken, zum Ratskeller gestürzt, wo er die Kollegen versammelt wußte. Die verlesene Depesche bejubeln, beschließen, in corpore durch die Verbindungsthür, die man aussperren ließ, zu den im Nachbarsaale Pokulierenden zu ziehen, ihnen das große Ereignis mitzuteilen, in Gemeinschaft mit ihnen weiter zu feiern, den Beschluß ausführen – das war in wenigen Minuten geschehen; und nicht mehrerer hatte es bedurft, um aus den beiden Gesellschaften eine zu machen, in welcher das eine identische Gefühl alle gleicherweise durchdrang und beherrschte: der Jubel über das Unerhörte, Ungeheure, das da in den wenigen Zeilen stand und aus ihnen herauswuchs ins Unfaßbare.

Mir wenigstens. Ich stand da, immer wieder in das zerknitterte Blatt starrend, das mir einer in die Hand gedrückt hatte: »– die ganze Armee in Sedan kriegsgefangen – der Kaiser hat nur sich selbst Mir ergeben – Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! –« Ja, welch eine Wendung! der Krieg war aus! Und in dem ungeheuren Fall war auch mein Kartenhaus zusammengestürzt! Es war kindisch, es war ein Verbrechen – Gott sei Dank, niemand sah, daß mir die Thränen aus den Augen stürzten. Und wenn auch, man mußte sie ja für Freudenthränen nehmen. Wer durfte jetzt andere weinen! wer durfte nicht mit einstimmen in das Lied, mit dem unsre Helden in den Tod gezogen waren, in die »Wacht am Rhein«, deren Strophen jetzt einer der Schauspieler, auf dem Tische stehend, mit hellem Tenor vorsang, während der Chor zu dem Refrain mit brausendem Jubel einfiel, vor dem die hohe gewölbte Decke zu erzittern schien! Und ich stimmte ein in den Chor mit im Anfang vor Wehmut zitternden Lippen. Ich hatte es ehrlich gemeint; es hatte nicht sein sollen; ich hatte nicht stehen sollen in der »Wacht am Rhein«, nicht kämpfen und siegen. Nur den Siegern ein Loblied singen zu dürfen, war mir beschieden. Und das that ich, jetzt mit ganzem Herzen, aus dem aller Neid gewichen, das nur noch von Freude und Dankbarkeit erfüllt war.

Ich stand in der Nähe der offen gebliebenen, oder wieder geöffneten Thür; so hatte mich der Herr, der draußen im Keller nach mir fragte, sehen und dem Aufwärter bezeichnen können. Der Herr habe es sehr dringend, es sei ein kleiner, jüdisch aussehender Herr. Das konnte nur I. I. sein. Er hätte sich nicht so zu beeilen brauchen, mir, noch dazu in Person und in tiefer Nacht, mitzuteilen, daß es mit dem Zuge nach Frankreich nichts sei, und ich morgen ruhig ausschlafen möge!

Ich weiß alles! rief ich ihm entgegen, als er, sobald er mich erblickt, trippelnden Schrittes auf mich zukam und, mich bei der Hand ergreifend, etwas weiter aus der Helligkeit fort in das Halbdunkel zog.

Eben deshalb komme ich; sagte er; ich dachte mir, es würde auch Ihnen hier zu Ohren kommen; und – Sie müssen, anstatt morgen um fünf, in einer Stunde fort. Der Wagen wird pünktlich vor meiner Thür sein, oder ist schon da.

Aber, Herr Israel, rief ich, der Krieg ist aus!

He? sagte I. I.

Der Krieg ist aus! donnerte ich ihm ins Ohr.

Schreien Sie doch nicht so, Sie – thörichter Mensch! erwiderte er ärgerlich. Aus? Denken Sie denn, ein Krieg ist aus, wie eine Kegelpartie? Hier wird noch manche Kugel rollen, sage ich Ihnen! manche Kugel! Der Krieg fängt jetzt erst an, sage ich Ihnen. Wenn ich unrecht habe, zahle ich Ihnen fünftausend Thaler bar. Also schnell! Setzen Sie sich Ihre Mütze auf! Wir haben keine Minute zu verlieren. Wir gehen gleich zusammen.

Der Umschwung, der mir zugemutet wurde, aus der hellen Siegesfreude, in der ich eben aufgejauchzt, zurück in die alte Stimmung fieberhafter Erwartung und Ungeduld war zu gewaltsam. So müßte, wenn es empfinden könnte, einem Schiff zu Mute sein, dem plötzlich Kontredampf gegeben wird. Die Schraube arbeitet nach rückwärts, während es selbst nach vorwärts strebt und in dem Widerstreit der entgegengesetzten Kräfte bis zum tiefsten Grunde erzittert. Waren die drinnen toll? war es der kleine Mann da vor mir mit dem bleichen, verkniffenen Gesicht, aus dem die dunklen Augen beim Schein einer der Kellerlampen leuchteten just wie Eulenaugen? Aber der kleine Mann hatte, trotz seiner Taubheit, so leise Ohren, daß er fast das Gras wachsen hörte; und was er über den Gang des Krieges vorausgesagt, das war noch immer eingetroffen. Und ich hatte mich in seine Hände gegeben; war bindende Versprechungen eingegangen, die ich halten mußte, auch wenn er in diesem Augenblicke log und nichts im Sinn hatte als die halbe Million, die vielleicht auf dem Spiele stand, kam er einer Gegenordre nicht zuvor.

Was stehen Sie denn noch? eilen Sie! eilen Sie! rief er, mich mit nervöser Hast am Arm fassend und schüttelnd.

Dann warten Sie eine Sekunde! rief ich, mich aus meiner Betäubung aufraffend, und in den Saal zurückeilend, wo ach! das Unheil in vollem Gange war, das ich dunkel hatte kommen sehen, als sich vorhin Adalbert mit mir zu der Gesellschaft zurückbegab.

Er mußte sich eben von denen, die Hand an ihn gelegt hatten, losgerissen haben und ein paar Schritte zurückgesprungen sein. Und stand jetzt frei da, hoch aufgerichtet, die Arme über der Brust verschränkt, fürchterlich bleich, das scharfe Gesicht wie in Todesruhe erstarrt. Nur daß aus den Augen, die, sonst hell, jetzt in dem weißen Antlitz schwarz erschienen, zornige Blitze schossen auf seine Widersacher, deren trunkene Wut die Scham, so weit gegangen zu sein, vielleicht auch nur der todesmutige Blick seiner Augen bändigen mochte und eine Wiederkehr der Scheu, die man stets vor dem verschlossenen Menschen empfunden hatte.

Und urplötzlich war es auf jene geheimnisvolle Weise, die man in wildbewegten Versammlungen jezuweilen beobachten kann, völlig still geworden in dem eben noch von dem ohrenbetäubenden Lärm so vieler Durcheinanderschreiender widerhallenden Raum; und in der völligen Stille erklang seine Stimme hart und scharf wie eine Klinge von Stahl:

Das also ist Eure Ritterlichkeit! Das ist's, was Ihr versteht unter Anstand, Sitte und Recht! – Schweigt jetzt! und redet nachher, wenn Ihr anders reden könnt und nicht bloß schreien und Eure Fäuste gebrauchen! Euch aber, die Ihr eben Hand an mich gelegt habt – Euch sechs oder acht, oder wieviel Eurer waren, – und Euch anderen, die Ihr es sahet und Beifall jauchztet, sage ich: laßt Euch von den rasierten Herren, Euren Genossen von heute abend, darüber belehren, daß man erst eine Rolle studieren muß, bevor man sie spielen will, und daß man ausgepfiffen wird oder ausgepfiffen zu werden verdient, wenn man aus der Rolle fällt. Ritter, Ihr? Auf Euren Wappenschildern ist Eure Ritterlichkeit, in Euren Herzen nicht! Träger und Inhaber des Anstandes, der Sitte und des Rechtes Ihr, die Ihr Anstand, Sitte und Recht mit Füßen tretet? Ich habe Anstand und Sitte bewahrt, als ich vorhin bei dem Hoch auf den König das Glas, das mir einer bot, genommen und davon getrunken habe; ich habe nur mein Recht geübt, als ich bei dem Hoch auf Graf Bismarck das Glas, das mir wieder einer bot, nicht genommen habe. Ob ich den König ehren will oder nicht, steht mir nicht frei: ich muß ihn ehren, als den höchsten Ausdruck, Inbegriff und Verkörperung der Würde und Majestät meines Volkes. Ob ich einen Bürger meines Volkes, und wäre er der Nächste an dem Thron, ehren will, das steht bei mir: ich werde es thun, wenn ich Ehrfurcht vor ihm empfinde, ich werde es nicht thun, empfinde ich sie nicht. Nun denn: vor Graf Bismarck empfinde ich diese Ehrfurcht nicht. Warum? das ist meine Sache. Ihr mögt mich deshalb für einen Schwachkopf halten oder Demokraten und mir, da Schwachköpfe und Demokraten in Eure erleuchtete und erlauchte Gesellschaft nicht gehören, den Rücken wenden, wie ich es im Begriff war, Euch zu thun, als Ihr mich aufhieltet wie eine Rotte Buben – schreit, wie Ihr wollt und lökt gegen den Stachel – ich wiederhole es: wie eine Rotte elender Buben –

Er hatte sich durch das Murren und Hohnlachen, das immer häufiger in seine Rede hineinscholl, nicht beirren lassen, aber bei den letzten Worten war der herangrollende Sturm losgebrochen, seine schmetternde Stimme übertäubend: Hinaus mit ihm! nieder mit ihm!

Sie dringen auf ihn ein; mit Blitzesschnelle hat er den nackten Schläger ergriffen, den man vorhin beim Landesvater benutzt, und der hinter ihm auf einem Tische liegt; er hält die Waffe kunstgerecht, bereit, sie dem ersten, der ihm nahe genug kommt, in den Leib zu rennen. Durch die Zurückweichenden, Unentschlossenen, sie rechts und links auf die Seite schleudernd, sich losreißend von ein paar nicht völlig Trunkenen, die ihn halten wollen, stürzt Schlagododro mit wild rollenden Augen und sich sträubendem Haar, einem Löwen gleich, der auf seine Beute springt. Er prallt gegen mich, der ich mich ihm entgegenwerfe, und schleudert mich im Zusammenprall vor sich her in die vorgehaltene Klinge Adalberts. Ich breche zusammen. In Blut gebadet, für tot heben mich die durch den Schrecken Ernüchterten vom Boden auf.


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