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V.

Während ich so in dem hochgegiebelten Israelschen Hause aus- und einging – ein stets willkommener, durch Höflichkeiten und Zuvorkommenheiten von allen Gliedern der Familie ausgezeichneter und verwöhnter Gast – versank für mich mein dürftiges Elternhaus gleichsam in tiefen Schatten, wie der, welcher an jenem Maienmorgen über dem Hof lag, nur daß er den heranwachsenden Knaben nicht mehr wohlig berührte.

Den heranwachsenden Knaben! Denn, wie jetzt zum andernmale mein Elternhaus und seine Insassen in meiner Erinnerung auftauchen, müssen seit der Zeit, die ich vorhin zu schildern versuchte, Jahre vergangen sein – zwei oder drei oder vier – ich weiß es nicht, es kommt auch nichts darauf an. Sind es doch die, in welcher die junge Menschenseele nach dem ersten kecken Ausblick in die Welt, wie unbefriedigt von dem, was sie sah, sich wieder in sich zusammenschließt, zu sinnen, zu grübeln, zu erstaunen, zu erschrecken über die Wunder der Welt, welche, erst in dämmernden Umrissen, dann heller und heller, sich aus der Tiefe der Seele hebt. Wenigstens war es so bei mir. Das Draußen kann mich nicht gekümmert haben. Ich wüßte nicht zu sagen, wann und wie jener troglodytische Prachtbau meines Kaninchenheims aus der Ecke zwischen der Werkstatt und dem hölzernen Gartenstaket verschwunden ist, und wo die lieben Tierchen geblieben sind. Jedenfalls sind sie den Weg aller Kaninchen gegangen; und an der Stelle, wo der Prachtbau sich wölbte, ragt ein luftiges Vogelhaus, das aber auch bereits wieder halb zerfallen ist, und in welchem nacheinander (vielleicht auch nebeneinander) Strandläufer, Kampfhähne, Kanarienvögel, Stieglitze, Dompfaffen, ein junger Turmfalke und eine alte vermauserte Dohle gesessen haben. Letztere ein Geschenk des »mallen Heinrich«, der sie wiederum von einem Schieferdecker geschenkt bekommen und mir triumphierend gebracht hat als einen Beweis, daß die bösen Teufel noch immer um den Nikolaiturm flögen und das Geheimnis besäßen, sich in krächzendes Federvieh zu verwandeln.

So ist auch von der stolzen Burg auf dem Wall nichts geblieben als eine kleine Erhöhung, die aber schon wieder Gras und Lattig überwuchern. Haben unsre Feste, – wie ich Emil erzählt, – die Piraten unter wildem Geschrei, das ich bis in meine Kammer gehört, in der Nacht erstiegen und dem Erdboden gleich gemacht; hat – was ich glaube – Bruder August sie zerstört, um mir einen Possen zu spielen – ich weiß es nicht und kümmere mich nicht darum.

Ich kümmere mich auch um viel größere Dinge nicht, zum Beispiel um den Krieg, der zwischen Preußen und Oesterreich entbrannt ist, und in welchen mein ältester Bruder Otto hat ziehen müssen – von Berlin aus, wo er – ein überlanger und überschlanker Jüngling – vorher bereits ein Jahr lang in der Garde gedient hatte. Ich vermisse ihn nicht. Er war zwar immer freundlich zu mir gewesen und hatte mich stets gegen August in Schutz genommen; aber die große Differenz des Alters hatte ein eigentliches Verhältnis nicht zwischen uns aufkommen lassen, um so weniger, als er, bei aller Herzensgüte, ein lässiger schlaffer Mensch war, der an nichts ein wirkliches Interesse hatte, sondern nur so mit seinen wasserblauen Augen in den Tag hinein träumte. Man hätte ihn für den echten Sohn und das Abbild des Vaters halten können, und viele nahmen ihn dafür, – mit Unrecht, denn er war nur die Karikatur des einzigen Mannes. Dennoch bedauerte ich ihn aufrichtig, als ich vernahm, daß er bei Königgrätz durch die Brust geschossen sei, und nun in Berlin im Lazarett liege, von den Aerzten aufgegeben. Es wäre ihm besser gewesen, die Aerzte hätten recht gehabt. Aber die Aerzte hatten einmal wieder nicht recht, und er wurde aus dem Lazarett entlassen – als Voll-Invalide, um uns vier Wochen – oder waren es Monate? – später mit der Nachricht zu überraschen, daß er die Tochter des Meisters, bei dem er in Dienst getreten war, geheiratet habe. Er wolle sich nun selbständig etablieren, eine Tischlerei errichten, vorausgesetzt, daß ihm der Vater dazu Geld schicke; denn das habe er nicht (wie sich der Vater wohl denken könne), – und seine Frau auch nicht; aber der gute Vater –

Jawohl, der gute Vater! Ich sehe ihn noch, wie er dastand in der Werkstatt, das rote Fez schief auf dem Kopf, mit der vierfingrigen Linken sich durch den grauen Bart streichend, während die herabgesunkene Rechte den Brief hielt, welchen er mir so weit vorgelesen, und ein melancholisches Lächeln um den Mund spielte.

Da werde ich wohl noch etwas mehr arbeiten müssen, murmelte er, indem er wieder zu seinen Werkzeugen griff, an einem halbfertigen Sarge weiter zu schaffen.

Noch mehr arbeiten?

Ich stand noch in dem glücklichen Alter, wo man sich seine Gedanken über alles mögliche macht, nur nicht darüber, woher das Geld kommt. Auf den Bäumen wächst es nicht, auf der Gasse findet man es auch nicht – das ist sicher; es kommt eben irgendwo her. Vielleicht stieg in diesem Augenblicke sogar die Vermutung in mir auf, es möchte das Wort des Vaters vom Mehr-arbeiten-müssen mit der von Bruder Otto angeregten Geldfrage in Zusammenhang stehen, aber wie es geschehen möge, daß er, der bereits jetzt den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Werkstatt sich mühte, noch mehr arbeiten könne, fragte ich mich nicht. Ich wußte nichts von Lampen, welche die Nacht hindurch brennen, und deren tödliches Licht über Stirnen flimmert, von denen kalter Schweiß rinnt, und in starren Augen widerscheint, die von Fieber glänzen.

In dieser Zeit muß es auch gewesen sein, daß der Zweitälteste Bruder August zum Soldaten ausgehoben wurde und, ich glaube, seiner krummen Beine wegen, zur Kavallerie in eine entfernte Garnison kam. Zwei Menschen kannte ich, denen mit seinem Fortgang ein Alp von der Seele wich, das waren der »malle Heinrich« und ich. Seit jenem Abend vor der Hausthür, als er den armen Blödsinnigen von der Bank auf das Straßenpflaster warf, hatte er denselben, so oft er ihm begegnete, verhöhnt und insultiert. Und leider begegneten sie sich nur zu oft, da beide sich des Abends regelmäßig auf den Straßen umhertrieben – der »malle Heinrich«, um in seinen himmlischen Phantasien zu schwelgen, der »tolle August« (wie er jetzt von allen, die ihn kannten, genannt wurde), um mit harmlosen Vorübergehenden Händel anzufangen, die nicht selten einen blutigen Ausgang nahmen, und sonst in allerhand wilden Streichen seine Kraft und seinen Uebermut auszutoben. An mir hatte er sich seit jener Nacht nicht wieder thätlich vergriffen, aber er blieb mir feindlich gesinnt und gab dieser Gesinnung jeden sonst nur möglichen Ausdruck, trotzdem ich es um ihn in keiner Weise verdiente. Ich hatte ihm jene Unbill, die er mir angethan, nicht nur nicht nachgetragen, sondern mich ihm, liebebedürftig wie ich war, in Liebe wieder zu nähern gesucht. Denn ich hatte einen gewaltigen Respekt vor seiner Kraft und Kühnheit, und bei nicht ungroßmütigen, phantasievollen Knaben grenzen ein solcher Respekt und Liebe dicht aneinander. Das Gemüt des »tollen August« war dadurch nicht gerührt worden. Er neidete mir die Liebe des Vaters, trotzdem er für sein Teil nach derselben nicht das mindeste Verlangen trug; schnödelte über meine Mutter; verhöhnte mich »das Muttersöhnchen, das Milchgesicht, den Zuckerprinz, den Bruder Joseph, dem er den tiefsten Brunnen graben möchte, um ihn da hinab zu werfen und – nicht wieder herauszuholen, darauf könne ich mich verlassen.« Und als er fort mußte, und ich ihm zum Abschied treuherzig einen Kuß geben wollte, hatte er mich hohnlachend von sich gestoßen: »er danke schön für den Judaskuß von so einem bleichsüchtigen, glattzüngigen, verdammten Aristokraten.«

Mir traten die Thränen in die Augen, indem ich scheu zurückwich, weniger vor seiner Wut, als weil ich mich in die Seele des wilden Gesellen hinein schämte. Und dann hatte ich das letztere Wort noch nie gehört und hielt es in meiner Unschuld für ein neues, besonders schlechtes, gemeines Schimpfwort, mit dem er mich zuguterletzt so recht habe kränken wollen. Ich hatte nicht weit vom Ziel geschossen: auch für ihn war das Wort neu und es war in seinem Sinn das ärgste, was er einem verhaßten Menschen ins Gesicht schleudern konnte.

Das kleine Haus wird stiller: auch die Großmutter in der Vorderstube ist tot. Sie war mein Schrecken gewesen, solange ich denken konnte; und es mochte wohl auch nicht leicht etwas Schrecklicheres geben als die lange, hagere, altergekrümmte Gestalt mit den starren verglasten Augen und den von körperlichem Schmerz und Seelenangst gräßlich verzerrten Zügen, wie sie von Zeit zu Zeit die Vorderstube, in der sie sich sonst eingeschlossen hielt, verließ, um einen schauerlichen Rundgang durch Haus und Hof zu halten, immerfort unverständliche Flüche und Schimpfworte vor sich hinmurmelnd, jedem, der ihr begegnete, die Faust vor dem Gesicht schüttelnd, worauf sie dann wieder auf lange Zeit in ihrem Verließ verschwand. Und dies Grauengespenst, von dem, Gott sei Dank! kein Tropfen Blut in meinen Adern floß, hatte der arme Vater zwanzig Jahre lang in seinem Hause gehabt, ohne daß vorher oder nachher jemals das leiseste Wort des Unmuts, der Ungeduld über seine Lippen gekommen wäre! Und der Sarg, den er ihr dann baute, war um nichts geringer, als der reicher Leute. Im Gegenteil, eher noch kunstvoller und mit ganz besonders glänzender gelber Farbe angestrichen und extra blank lackiert. Und Nachbar Hopp mußte seinen vornehmsten Leichenwagen aus der Remise ziehen, obgleich er dazu etwas von »alter Hexe« in sein Doppelkinn brummte, und Karl Brinkmann, der dabei stand, ein übriges von des »Teufels Großmutter« in seine Bartstoppeln murmelte, als ich hinübergegangen war, die Bestellung auszurichten. Der Vater aber, als ob er wüßte, was ich drüben zu hören bekomme, sagte, als ich zurückkam: Wir dürfen ihr nicht noch über den Tod hinaus bös sein. Sie ist sehr unglücklich gewesen, denn sie konnte keinen Menschen lieben. Das ist schon die Hölle auf Erden.

So ist es denn ganz still geworden in dem kleinen Hause. Wenn ich in meinem Kämmerchen, dessen Fenster nach dem Hof hinausgeht, über meinen Schularbeiten sitze, höre ich Zug um Zug des Vaters Säge und jeden Strich seines Hobels. Auf dem Wall drüben, der mir die weitere Aussicht versperrt, nicken die langen Grashalme und wiegen sich die Zweige der Haseln und Erlen. Weht der Wind von Osten, vernehme ich das dumpfe Rauschen des Wassers, das bis an die Futtermauer gestiegen ist. Manchmal kommt auch wohl eine Krähe geflogen, setzt sich auf einen der schwanken Wipfel, läßt ein ärgerlich heiseres Krächzen erschallen, als könne sie dem Orte heute, wo der Strand überflutet ist, keinen Geschmack abgewinnen, und schwingt jählings davon. Dafür hebt sich über den Wall eine Möwe unregelmäßigen Fluges, wie vom Winde auf- und niederwärts geschaukelt, den spitzen Schnabel nach unten gekehrt, der Beute lauernd, auf die sie herabstößt, plötzlich hinter dem Rand des Walles verschwindend, wie ein Stein, der fällt.

Es ist sehr still in dem kleinen Hause. Ich höre jetzt nichts als das Kritzeln meiner Feder, die in fliegender Eile auf dem Papier weiter hastet an meinem Aufsatz über: »die Freuden der Jugend«, und den gleichmäßigen Zug von des Vaters Hobel an irgend einem Brett zu einem Sarge. Ich bin an einen schwierigen Punkt geraten und lege sinnend die Feder hin; der Vater mag auf eine schlechte Stelle im Brett gestoßen sein, die er jetzt prüfend betrachtet, während der Hobel ruht.

Es ist lautlos still in dem kleinen Hause.

Und in der lautlosen Stille hebt ein Singen an, leise und süß wie Aeolsharfenklang, und ach! so klagend, so schmerzlich klagend! so sehnsuchtsvoll, so voll schmerzlicher Sehnsucht!

Ich lausche dem süßen leisen Gesang, der die Stille nur noch stiller zu machen scheint.

Und wie ich so lausche, quillt es auch in meinem jungen Busen auf von Klage und Sehnsucht – Klage um mich, der ich hier einsam sitze; Sehnsucht nach ihr, die einsam sein will, nichts von der Liebe ihres Kindes wissen will, das doch sie so grenzenlos liebt!

Meine starren Augen werden feucht. Ich drücke das Gesicht in die Hände und weine heiße Thränen auf den Aufsatz »die Freuden der Jugend.«


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